Abend bei Freunden
Die Frage, warum es denn so lange dauere, bis er im Bad fertig sei, konnte er nur übergehen, da jedes Wort ohnehin überhört werden musste. Anders war schon lange nicht mehr zu leben. Der Blick in den Spiegel verriet genau das und er konnte sich nur hassen für die Entscheidung, ihr Begleiter an diesem Abend zu sein. Dass er ihr Ehemann war, wurde ihm an solchen Abenden bitterlich bewusst und er fühlte kein Mittel zu entkommen, sondern sah sich schon in der ewigen Spirale, die sich vom heißen Fußboden löste und ihn in sich verschlang, so dass an gemeinsame Abende gar nicht mehr zu denken war. Unten angekommen vernahm er ihren Atem, ohne sie zu sehen und er roch ihren Duft, ohne sie zu sehen und er spürte ihre kalte Hand, ohne sie zu sehen. Alles lief von selbst und er konnte nur überraschend feststellen, an dem bezaubernd gedeckten Tisch der Leute zu sitzen, die ihm schon bekannt vorkamen, aber meistens fremd schienen. Er dachte an die Katze, die ihm am selben Tag über den Weg gelaufen war und die Streicheleinheiten, die sie von ihm ergattert hatte und er wünschte sich nichts sehnlicher als die Katze als Tischgenosse an diesem Abend. Er hätte sie weiterhin gestreichelt und hätte festgestellt, dass die Unterhaltung mit ihr viel ergiebiger wäre und dass er von einer solchen Begegnung nur profitieren könne. Stattdessen fühlte er das silberne und kalte Besteck in seinen Händen und konnte nicht mal mehr Freude entwickeln, das vor ihm liegende Opfer zu verspeisen.
Alles war mühsam, bis sich das Dessert nahte, auf das er schon den gesamten Abend gewartet hatte. Er wünschte Apfelstrudel mit einer heißen Vanillesauce und musste beim Anblick der von der Gastgeberin präferierten Wahl doch überrascht gewesen sein. Sie hatte es tatsächlich gewagt, Menschenfinger auf den Teller zu legen. Sicher waren noch einzelne Garnierungen dabei, aber die Finger waren nicht zu übersehen und wollten offensichtlich gegessen werden. Er fragte sie, wie sie denn auf eine solche Idee gestoßen sei und sie verwies rötlich auf ihre blühende Phantasie, die sie immer wieder neu inspiriere. Die Wahl war in der Tat sorgfältig: Es handelte sich um eine zarte Frauenhand, deren Zartheit kaum beschrieben werden konnten, weil sie so zart war, dass er sie am liebsten unberührt gelassen hätte. Auf der anderen Seite wollte er die Gastgeberin nicht enttäuschen und er setzte mit gemischten Gefühlen zum ersten Bissen an. Nicht, dass er schon in diesem Metier geübt war, aber stets neugierig, neues Terrain zu erkunden, konnte er nicht anders als zu wagen. Im Moment, in dem sich sein großer Mund öffnete und er ansetzen wollte, damit alles vernichtet sei, stand seine Frau im Raum, deren Abwesenheit er zuvor nicht bemerkt hatte. Sie schluchzte und genau das ließ ihn aufmerksam werden, denn es gehörte eine Menge dazu, dass sie, die Ehefrau, schluchzte und er überlegte, wann er dies das letzte Mal erlebt hatte. Ihr Schluchzen lenkte seinen Blick auf sie und in der Tat musste er nun feststellen, dass sie litt. So gerne hätte er sie im Leiden alleine gelassen, aber er konnte nicht, da sie den Teppich der Freunde beschmutzte. Sie weinte nun jämmerlich und erst jetzt erkannte er, dass die Finger, die noch fast warm vor ihm auf dem Teller lagen, seiner Frau gehören mussten. Anders konnte er sich es nicht erklären, dass gerade sie, die sonst alles beisammen hält, nur noch einen Armstumpf besaß, aus dem ganz rasch und unverhältnismäßig das Blut herausfloss. Die Gewissheit, sie so lebendig zu sehen, war Genuss genug, da er sich sooft gefragt hatte, ob sie überhaupt ein Mensch sei. Der Beweis war nun vorliegend, aber daran konnte er nicht denken. Er musste die Lage beruhigen, aber ihm fiel gerade in dieser entscheidenden Situation nichts ein, um die Freunde wegen des beschmutzten Teppichs zu besänftigen.
Er hatte noch gar nicht daran gedacht, warum seiner Frau die Finger fehlten, da fügte sie schon an, dass es auf der Toilette zu einem Kampf gekommen sei, aber dass sie noch so verwirrt sei, um die Frage, wer der oder die Täterin sei, gar nicht beantworten könne. Alles sei so schnell gegangen und dunkel sei es auf der Toilette auch gewesen, so dass nur das Flurlicht, das durch das Schlüsselloch gekommen war, zumindest Anhaltspunkte geben könne. Er war in diesem Moment nur froh, dass er die ganze Zeit am Tisch gesessen war; anderenfalls hätte man ihn am Ende für die Tat verantwortlich gemacht. Nicht abzustreiten war nämlich, dass Motive für eine solche Tat bestanden und umso freudiger und gelassener ging er an die Tätersuche heran. Auffallend war das Schweigen der Gastgeberin, die, das war allen Anwesenden klar, mit der Tat in Verbindung stehen musste - wie sonst hätten die Finger seiner Frau in die Küche und anschließend auf die Teller kommen können. Ihr Ehemann, also der Gastgeber, zeigte sich ganz galant und scheute sich, seiner Vertrauten unangenehme Fragen zu stellen. Am liebsten wäre er wahrscheinlich in das große, weitläufige Nebenzimmer gegangen, hätte einen Cognac geholt und diesen in weite, riesige Gläser geleert. Das tat er nicht, wohl weil die Notleidende ja noch immer auf dem Teppich und somit zwischen Ess- und Wohnzimmer stand und den Weg mit ihren blutigen Händen versperrte. Niemand hätte sich wohl an ihr vorbeigetraut, da das Blut auch so besorgniserregend schnell aus ihren Adern schoss. Man hatte das Gefühl, es jedem Blutstropfen, der auf den Boden fiel, schuldig zu sein, den Täter nun doch aufzuspüren und somit auch für alle Beteiligten unangenehme Situationen hinzunehmen. Die Gastgeberin ging in die Küche voraus und erklärte allen Umstehenden, die ja immer noch leicht hungrig waren, dass es ihr unerklärlich sei, wie die Finger in den Kochtopf kommen konnten. Sie zeigte auf den Teller, der neben dem Herd stand und beharrte darauf, das Fleischstück, das allerdings noch auf dem Teller lag, in das heiße Wasser gelegt zu haben. Sie könne sich das Missgeschick nur mit kurzfristig entstandenen Stress in der Küche erklären und am Ende war es wieder ihr Mann, der dafür hinhalten musste. Wenn auch ihre Darlegung wenig schlüssig aufgebaut war, fiel die Gastgeberin aus dem Kreis der Verdächtigten heraus. Sie war zu nett, als dass sie zu einer solchen Tat fähig war.
Mittlerweile bemerkten alle, dass das Opfer gar nicht in die Küche mitgekommen war; der ursprünglich gehegte Groll wegen der Annahme, sie interessiere sich gar nicht für den Prozess, löste sich in Luft auf, als sie das Esszimmer betraten und die Notleidende mittlerweile auf dem Teppich zusammengesunken vorfanden. Ihr Anblick war wahrhaftig ein Graus und selbst der Ehemann musste eines seiner zwei Augen schließen, um sich in erneuter Sicherheit zu wähnen. Doch der Prozess ging weiter und niemand konnte jetzt mehr an das eigentliche Opfer denken. Es ließ sich nicht verweigern, den Tatort, d.h. die Toilette, aufzusuchen. Dort, so war ja erzählt worden, sei ja alles passiert und nur hier, das war allen Beteiligten bewusst, konnte sich der Schlüssel für dieses abendliche Rätsel finden lassen. Auf dem Weg dorthin ereignete sich etwas Sonderbares: Der Gastgeber brach plötzlich weinend zusammen und nahm alle Schuld auf sich, obwohl er vergewisserte, nicht der eigentliche Täter zu sein. In der Tat erinnerte sich der Gast, dass der Gastgeber zu dem Zeitpunkt, als seine Frau abwesend war, abwesend war. Er ärgerte sich, noch gar nicht in Erwägung gezogen zu haben, dass dies ein wichtiger Indiz für den Prozess sein könnte und beschloss nun, umso härter und entschlossener fortzufahren. Er verlangte von dem Gastgeber eine genaue Erklärung: Er sei der Bekannten durch den Flur auf dem Weg zur Toilette verfolgt, da er, so nannte er es, eine Anziehung von ihr, also der fremden Ehefrau, spürte. Er sehnte sich nach einer Erwiderung dieser Kraft, die so schwer zu fassen war und traute sich doch nicht recht, sich ihr in den Weg zu stellen und deutliche Anzeichen zu geben. Stattdessen verschwand sie schnell hinter der Tür. Nach einer Weile entschloss er sich, durch das Schlüsselloch zu spicken, um zumindest auf diesem Weg ein bisschen Liebe zu erhaschen, der er doch sooft schon widersagen musste. Er erläuterte weiter, wie er sich gewundert habe, kein Licht in der Toilette und somit auch kein Objekt gefunden zu haben. Erschrocken, so weiter, sei er gewesen, als eine schreiende Stimme an sein Ohr hämmerte, er möge sofort von der Tür wegtreten, da er dem Licht, das durch das Schlüsselloch in die Toilette leuchte, den Weg abschneide. Er befahl sofort, da es sich wie ein Todesruf anhörte. Wie in Starre wartete er kauernd an der Tür, da er meinte, jede Bewegung sei sein oder vielleicht auch ihr Todesurteil. Er hörte lange nichts und dann kam sie doch in unschuldigem Gang aus der Tür und hatte nur ein müdes und erbärmliches Lächeln für ihn übrig. Er ging sofort in das Bad und sah im Waschbecken die blutigen Finger und auf dem Boden das blutige Messer und in dem Raum die blutige Anziehung. Nur zur Tarnung, so erklärte er weiter, hätte er die Finger eingesammelt und seiner Frau heimlich in den Kochtopf geschmuggelt; er dachte, auf diese Weise könnte das Geschehen doch nochmals eine Wendung bekommen. Doch nun müsse er einsehen, dass die Wahrheit immer an sich Licht komme und dass er sich für seine Tat so schäme und dass er hoffe, dass seine Frau trotz des Geständnisses bei ihm bleibe.
Unter dem Schluchzen des Gastgebers war fast vergessen worden, dass sich im Prozess ein ganz neuer Aspekt herauskristallisiert hatte und es entwickelte sich in der Runde ein beredtes Schweigen, das womöglich ein Schamgefühl über die nicht geleistete Hilfe für die offenbar hilfesuchende Ehefrau ausdrückte. Gerne hätte der Mann seine Frau gefragt, was sie zu dieser Tat veranlasst hatte, aber als sie in das Esszimmer zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass sie nicht mehr nur dalag, sondern eine blutige Einheit mit dem Teppich bildete und unmöglich von diesem unterschieden werden konnte. So war der Ausgang dieses Abends doch recht offen und der Ehemann überlegte auf der gesamten Heimfahrt in seinem Auto, wie es zu einer solchen Entwicklung haben kommen können.