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ABC und die Wutzlicks
Jonathan ist aufgeregt. Heute kommt ABC aus dem Krankenhaus zurück. Eigentlich heißt er Herr Cruse – Arthur Broderick Cruse. Aber die Anfangsbuchstaben davon sind ABC, und deshalb nennt Jonathan ihn meistens so.
Der Junge und der alte Mann sind gute Freunde. ABC wohnt in einem kleinen, alten Haus mit einem Dach aus Stroh, das ebensowenig in diese moderne Nachbarschaft zu passen scheint wie der ungepflegte Garten, in dem das Gras zu hoch ist und die vielen Blumen einfach wachsen, wo es ihnen gerade am besten gefällt.
Jonathan besucht ABC oft. Meistens sitzen sie dann zusammen auf der Bank hinter dem Haus, trinken Limonade, blasen auf Pusteblumen herum und beobachten, wie der Wind die Löwenzahnsamen aus den Pusteblumen in die Gärten der Nachbarn trägt.
Und immer weiß ABC eine tolle Geschichte zu erzählen. Das ist nämlich sein Beruf. Das heißt, eigentlich erzählt er die Geschichten nicht – das tut er nur für Jonathan -, sondern er schreibt sie auf. Dafür bekommt er Geld. Aus den Geschichten werden dann Kinderbücher gemacht.
Jonathan hat ABC einmal gefragt, wie er mit dem Schreiben angefangen hat. ABC hat nur gelacht, seinen Bart zurechtgestrichen, dem Jungen zugeblinzelt und gesagt: „Wenn jemand ABC heißt, dann muss er doch einfach schreiben, oder nicht?“ Das hat Jonathan eingeleuchtet.
Weil ABC durch seine Bücher beinahe ein berühmter Mann ist, trauen sich die Nachbarn nicht, laut über ihn zu schimpfen. Aber Jonathan weiß, dass es sie stört, wie ungepflegt ABCs Garten ist. Vor allem ärgert es sie, dass alte Möbel in dem Garten stehen – ein Küchenschrank, dessen Holz vom Regen aufgequollen ist, ein halb verrosteter Ofen, sogar ein Sessel, dessen Polster schon Löcher hat. Wenn man es allerdings genau nimmt, stehen die Sachen gar nicht mehr da; das taten sie nur bis gestern.
Als nämlich ABC für ein paar Tage ins Krankenhaus musste, haben sich Jonathans Vater und ein paar von ABCs Nachbarn zusammengetan, um dem alten Herrn eine Freude zu machen und den Garten aufzuräumen. Ehrlich gesagt ist Jonathan sich nicht sicher, ob ABCs Freude gar so groß sein wird. Aber das wird er gleich genau wissen. Er lehnt am Gartenzaun seines Freundes und wartet darauf, dass der nach Hause kommt.
Endlich hält ein Taxi am Straßenrand, und ABC steigt heraus.
Noch bevor Jonathan ihn begrüßen kann, wirft der alte Mann einen Blick auf seinen Garten und stößt einen erschreckten Schrei aus.
„Mein Garten!“, ruft er verzweifelt. „Wer hat das Gras gemäht? Wo ist mein Löwenzahn?“ Er macht ein paar Schritte auf Jonathan zu. „Und wo... wo...“ Er scheint nicht die Kraft zu haben, diese Frage zu stellen, aber dann schafft er es doch: „Wo sind die alten Möbel?“
„Sei nicht böse, ABC“, sagt Jonathan. „Die Nachbarn wollten dir nur eine Freude machen. Sie haben die Möbel zur Sammelstelle der Müllabfuhr gebracht.“
Wortlos betritt ABC seinen Garten, geht um das Haus herum und sinkt erschöpft auf die Bank.
„Sie sind fort“, sagt er leise. „Die Wutzlicks sind fort. Jetzt ist alles aus.“
„Die Wutzlicks?“, fragt Jonathan. „Wer sind denn die Wutzlicks?“
ABC sieht ihn traurig an. „Das würdest du mir doch nicht glauben.“
„Ich glaube alles, was du sagst“, meint Jonathan. „Jedenfalls, wenn du versprichst, nicht zu schwindeln.“
ABC zögert einen Moment, dann sagt er: „Also schön. Ich verspreche, nicht zu schwindeln. Eigentlich hast du auch ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Du hast doch ihre Geschichten immer so geliebt.“
„Was für Geschichten denn?“, will Jonathan nun wissen.
„Na, die Geschichten, die ich dir immer erzählt habe. Die Wahrheit ist nämlich... Ich habe überhaupt keine Fantasie, weißt du? Ich kann mir gar keine Geschichten ausdenken. All die Geschichten, die ich dir erzählt habe, stammen von den Wutzlicks. Und auch die Geschichten in meinen Büchern! Die Wutzlicks lieben nämlich Geschichten. Sie erzählen sich jeden Tag welche. Ich habe ihnen oft zugehört, wenn ich mit ihnen alleine war, und dann habe ich ihre Geschichten aufgeschrieben und so getan, als seien sie von mir.“ ABC sieht, dass Jonathan etwas entrüstet dreinblickt, und setzt schnell hinzu: „Aber sie wussten es und waren damit einverstanden – sonst hätte ich es doch nie getan!“
„Ich glaube dir“, sagt Jonathan, „das habe ich ja versprochen... Aber was sind denn eigentlich genau Wutzlicks? Und warum sind sie jetzt fort?“
„Wie soll ich sie dir beschreiben?“ ABC zuckt mit den Schultern. „Eigentlich sehen sie aus wie Maulwürfe, nur dass sie Hände und Füße haben wie wir. Und sie tragen Kleidung. Hosen und Jacken, nur keine Schuhe. Die mögen sie einfach nicht. Was sie aber besonders gerne mögen, ist Löwenzahn. Den essen sie für ihr Leben gern. Jetzt, wo der Rasen gemäht ist, ist der ganze Löwenzahn fort – und die Wutzlicks auch! Sie haben ja auch gar kein Nest mehr. Das war nämlich im Polster des alten Sessels.“
Tränen laufen über die Wangen des alten Mannes. „Jetzt gibt es keine Geschichten mehr“, flüstert er.
„Doch!“, ruft Jonathan entschlossen. „Ich werde die Wutzlicks finden!“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, läuft er los.
Es ist weit bis zum Sammelplatz der Müllabfuhr, und der Junge ist ganz außer Atem, als er dort ankommt. Er sieht sich um und möchte jetzt am liebsten auch weinen: Der Sessel von ABC ist nicht mehr da. Wahrscheinlich haben ihn die Leute von der Müllabfuhr schon in die große Müllpresse geworfen. „Oh Gott“, entfährt es dem Jungen, „was ist, wenn die Wutzlicks noch in dem Sessel waren? Dann sind sie jetzt bestimmt...“ Er mag sich nicht vorstellen, was die Müllpresse mit den Wutzlicks angestellt haben könnte.
„He“, piepst plötzlich eine Stimme. „Du bist doch der Freund von Herrn Cruse, stimmt’s? Suchst du etwa uns?“
Jonathan sieht sich verblüfft um. Endlich entdeckt er das Wesen, das zu ihm gesprochen hat. Es steht nur einen Meter von ihm entfernt, zwischen den Büschen neben der Müllpresse, und Jonathan erkennt sofort, dass es ein Wutzlick ist. Er sieht genauso aus, wie ABC ihn beschrieben hat – wie ein Maulwurf, der auf seinen Hinterbeinen steht, mit einer grünen Hose und einer roten Jacke.
Jonathan geht in die Hocke und sagt: „Ich bin vielleicht froh, dass du nicht in der Müllpresse gelandet bist! Was ist denn aus den anderen geworden?“
„Wir sind alle hier“, sagt eine neue Stimme, und nach und nach kommt ein Dutzend dieser putzigen Kerle aus den Büschen – kleine und ganz kleine. Die ganz kleinen müssen wohl die Wutzlickkinder sein.
„ABC – ich meine, Herr Cruse – ist ganz traurig, weil ihr weg seid. Könnt ihr ihm nicht den Gefallen tun und mit mir zurückkommen?“
„Oh ja!“, rufen sofort alle Wutzlicks durcheinander, und: „Gerne!“, und auch: „Laß uns sofort losgehen!“
Jonathan ist etwas überrascht. Er sagt: „Wir finden bestimmt einen neuen Platz für euer Nest, wo doch der Sessel nicht mehr da ist. Aber ich muss euch etwas gestehen – es wird eine Weile dauern, bis der Löwenzahn nachgewachsen ist, den die Nachbarn niedergemäht haben.“
„Das macht überhaupt nichts“, verrät ihm der Wutzlick, der zuerst zu ihm gesprochen hat. „Eigentlich sind wir nämlich nicht wegen des Löwenzahns bei Herrn Cruse gewesen. Das haben wir ihm nur erzählt, weil die Wahrheit uns unangenehm war. In Wirklichkeit ist uns etwas anderes viel wichtiger als der Löwenzahn, und zwar...“
Was der Wutzlick dann erzählt, haut Jonathan so um, dass er laut loslacht. Ein paar Leute sehen gleich zu ihm hinüber. Zum Glück bemerken sie die Wutzlicks nicht.
Als er aufgehört hat zu lachen, geht Jonathan zu den Müllmännern und bittet sie um einen alten Karton. Da hinein schlüpfen heimlich die Wutzlicks, und Jonathan trägt sie zurück in ABCs Garten.
ABC kann kaum glauben, dass seine winzigen Freunde wieder da sind. Er verspricht, dass sie bei ihm im Haus wohnen dürfen, bis er einen neuen alten Sessel besorgt hat.
„Da ist aber noch etwas, was die Wutzlicks dir sagen wollen“, erklärt Jonathan grinsend, und er fängt gleich wieder ein bisschen zu lachen an.
„Na ja“, piepst einer der Wutzlicks, „wir waren nämlich die ganze Zeit über nicht ehrlich zu Ihnen, Herr Cruse. Wir sind überhaupt nicht wegen des Löwenzahns hier – sondern wegen der Geschichten.“
„Das verstehe ich nicht“, sagt ABC. „Brauchtet ihr mich etwa als Zuhörer?“
Der Wutzlick schüttelt den Kopf. „Nein, nein – es ist alles ganz anders. Sie wissen doch, dass wir Geschichten so sehr lieben. Meine Familie hätte es am liebsten, wenn ich den ganzen Tag welche erzählen würde. Es ist nur so, dass wir...“ Seine Nasenspitze schimmert vor Verlegenheit rötlich, als er weiterspricht. „Es ist nur so, dass wir überhaupt keine Fantasie haben. Wir können uns gar keine Geschichten ausdenken. Aber hier bei Ihnen, Herr Cruse...“
ABC versteht nicht, was der Wutzlick ihm sagen will. Schließlich hält Jonathan es nicht mehr aus und fragt fröhlich: „Wusstest du eigentlich, ABC, dass du im Schlaf redest?“
Das ist es nämlich, was die Wutzlicks beichten wollen: Dass der Vater der Wutzlicks jede Nacht unter ABCs offenem Schlafzimmerfenster gelauscht hat, um die Geschichten zu hören, die der träumende Mann im Schlaf erzählte. Als die Wahrheit endlich heraus ist, lacht ABC ebenfalls, bis ihm die Tränen kommen, und meint schließlich: „Also waren all diese Geschichten doch von mir – nur dass ich mich nie an meine Träume erinnert habe! Wie gut, dass es die Wutzlicks gibt.“
Von nun an steht auf jedem von ABCs Büchern: „Eine Geschichte von Arthur Broderick Cruse und den Wutzlicks.“ Natürlich denken alle Leute, dass das nur ein Witz ist.
Alle außer Jonathan – aber der schweigt.