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Ab jetzt nur noch Sohn
Antiquariat Gerhard und Sohn. Jetzt also nur noch Sohn. Jetzt also nur noch dieser unbekannte Mensch, der uns nie besucht hat. Dieser Sohn, dem der Laden jetzt gehören soll. Dieser Sohn,, der den Platz einnehmen soll, den Gerhard einst mir zugedacht hat. Den ich nur abgelehnt habe, aus Angst vor Veränderung. Es ist Gerhards Platz. Gerhard und Sohn – Jetzt nur noch Sohn. Unglaublich. All diese Jahre, all diese Routine. Es kann sich doch nicht plötzlich alles ändern? Die steile Treppe ist geblieben, die Hürde, die nur echte Bücherfreunde überwunden haben, um die wahren Schätze zu finden. Die dritte Stufe knarrt, wie immer. Das Geländer ist alt und müde und hat noch nicht erfasst, dass Gerhard nicht mehr kommt. Es nicht mehr abstaubt und mit Öl behandelt. Ob die Treppe einstürzt, wenn sie begreift, was geschehen ist? Können Dinge einfach weiterexistieren, wenn ihnen ein Teil ihrer selbst genommen wird?
Stufe für Stufe erklimme ich ganz langsam den Anstieg. Wird sein Bild jetzt auch da stehen? Eine Bilderreihe der Toten, die immer weiter ergänzt wird?
Zum ersten Mal nehme ich den Geruch wahr, den Geruch nach altem Leim, Holz und Staub. Er war immer da, dieser Geruch. Er gehört hier her, genau wie die Bücher, die Biedermeierkommoden, die dunklen Teppiche – und Gerhard.
Aber ab jetzt nur noch Sohn. Er hat hier nie hingehört, der Sohn. Hat nie das Holz gestreichelt, nie mit den Büchern gesprochen. Und sie nie mit ihm. Das Flüstern ihrer Seiten, das Knacken ihrer Rücken, er versteht diese Sprache nicht. Er ist kein Teil des alten Ladens. Nicht so wie Gerhard. Nicht so wie ich. Nicht so wie früher meine Eltern. Und jetzt ihre Bilder.
Muss sich jetzt wirklich alles ändern? Auch die fünfte Stufe knarrt, das ist neu. Die Treppe beginnt zu begreifen. „Es wird weitergehen“, flüstere ich ihr zu. „Es geht immer weiter, das Leben.“ Noch nie kamen mir diese Worte so bedrohlich vor. „Ich bleibe“, sage ich, „ich bin immer noch jeden Tag da. Ich muss doch meine Eltern besuchen!“ Tag für Tag, Jahr für Jahr. Diese Bilder, die von Büchern bewacht im Fenster stehen. Das hätte ihnen gefallen. Alte, staubige Bücher, die wie Zinnsoldaten stramm stehen. Bewachen sie jetzt auch Gerhard?
„Er hat kein Herz“, flüstert die siebte Stufe knarzend. „Ich weiß,“ antworte ich ihr, „aber vielleicht ändert sich das noch.“ „Nein!“, ächzt das Geländer, „Steine bleiben Steine!“
Jetzt rieche ich etwas. Ein frischer moderner Geruch, der nicht hierher gehört. „Geh nicht weiter!“, knackt die Treppe. „Ich muss“, antworte ich ihr. „Ich muss doch nach ihnen sehen!“ „Sie brauchen dich nicht!“, stöhnt die Treppe. „Es sind nur Bilder. Bleib stehen.“ „Aber ich brauche sie!“ sage ich mit zittriger Stimme. Müde streichle ich das Geländer. So wie immer, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Die Treppe seufzt, dann schweigt sie. Noch drei Stufen, oben der Spiegelschrank lässt meine Gestalt gespenstig in seinem Glas erzittern. Er war immer schon wie ein alter mürrischer Mann. „Er hat viel mitgemacht!“, hat Gerhard gesagt. „er ist wie ich, lass ihn hier alt werden.“ Dann hat er seine Türen eingeölt. Liebevoll und vorsichtig.
Jetzt schaut dieser alte Herr auf mich herab und sagt nichts. Gibt nicht mein Spiegelbild wieder, nur diesen gespenstigen Schatten. „Es wird alles gut!“, flüstere ich ihm zu, doch er schweigt.
Trauer hat den Buchladen nun ergriffen, hat sich in jede Ritze gesetzt und macht die Luft schwarz und schwer. Dieser neue Geruch kommt nur schwer dagegen an. Jetzt noch eine Stufe, dann durch die Tür. Ich reiße meine Blicke vom Schrank los, zwinge mich, die dunkle Tür anzusehen. Sie ist geschlossen. „Halt“, sagt sie. Hinter mir erholt sich die Treppe bedrohlich knackend von meinem Gewicht. Der Schrank folgt meinen Schritten mit seinem müden Blick, er hängt sich an mir fest, dieser Blick und macht das Weitergehen schwer. „Mach mir Platz“ sage ich zur Tür. „das kann ich nicht!“, antwortet sie. Vorsichtig lege ich meine Hand auf ihre Klinke. „Tu es nicht“, sagt sie. Ein Schaudern wandert von meiner Hand den Arm hinauf und setzt sich in meinem Nacken fest. „Ich muss,“ sage ich zu ihr. „Sie warten auf mich!“ Die Klinke gibt nicht nach, ich muss mich schwer auf sie stützen, bis sie schließlich mit dem lauten Knacken eines gebrochenen Willens nachgibt. „Es tut mir leid!“, sagt die Tür, als sie schwerfällig aufschwingt.
Licht umflutet mich. Unendlich grelles Licht blendet meine Augen und meinen Verstand. Die Tür lehnt sich an mich, um mich zu stützen. Sie sagt nichts mehr. Sie ist sprachlos, genau wie ich. Weiße Wände, Leere und Kälte umgeben mich. „Es tut uns leid.“, karren die Dielen. „Er hat sie rausgetragen. Alle hat er fortgeschafft. Wir konnten nur zusehen.“ Jetzt weinen sie. „Verlass uns nicht“, ruft die Tür hinter mir her, als ich zurück taumele. „Bleib da“, karren die Treppenstufen, als ich hinunter stürze. „Wie sollen wir weitermachen?“, fragen die alten Kommoden. „Ich weiß es nicht!, antworte ich blass. „Steine bleiben Steine!“ Ab jetzt nur noch Sohn.