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Aaron
«Calla.»
Als ich die Stimme höre, erstarre ich. Aaron.
Ich bin gleichzeitig entsetzt, panisch und ein kleines bisschen glücklich. Letzteres gegen meinen Willen. Ich wusste nicht einmal, dass das überhaupt möglich ist.
Um ehrlich zu sein, rechne ich jeden Tag damit, ihn irgendwo anzutreffen. Schliesslich wohnen wir in der selben Stadt, da läuft man sich dann und wann einmal über den Weg. Wenn ich einen Auftrag in der Nähe seiner Arbeitsstelle oder seiner Wohnung habe, brauche ich morgens eine halbe Stunde länger im Bad. Nur zur Sicherheit. Damit mein Anblick ihn aus den Socken haut, sollte er per Zufall einen Blick aus dem Fenster werfen. Doch wir treffen uns nie. Selbst wenn ich absichtlich Orte aufsuche, an denen er sich gerne aufhält. Nie ist er da. Als würde das Schicksal höchstpersönlich unser Aufeinandertreffen verhindern. Und ausgerechnet jetzt. Jetzt wo ich todmüde bin, mein Kopf schmerzt wie die Hölle, ich verschwitzt und kaputt bin und nur noch nach Hause in mein warmes Bett kriechen will. Ausgerechnet jetzt begegne ich ihm? Das ist doch nicht fair.
Langsam drehe ich mich um.
Es ist düster um diese Uhrzeit, doch ich erkenne ihn sofort. Ich würde ihn immer und überall erkennen. Es gibt niemanden, der sich so bewegt wie er. Geschmeidig, leichtfüssig und selbstbewusst wie ein Panther.
Mit langen Schritten kommt er auf mich zu.
Wie immer haut mich sein Anblick um und wie immer frage ich mich, ob er diese Wirkung auf alle hat oder ob es nur mir so geht. Er ist gross, hat breite Schultern und dichtes, dunkles Haar. Rein objektiv betrachtet fällt er definitiv unter die Kategorie Heisser-Typ, jedoch eher auf eine coole, verwegene Weise, als auf diese perfekte, symmetrische Art, wie man sie von Models kennt. Sein Gesicht ist etwas zu breit, die Nase zu markant und seine Schneidezähne zu lang, aber die kleinen Makel verleihen ihm etwas draufgängerisches.
«Hey», sagt er lächelnd und lehnt sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. Ein unaufdringlicher, frischer Geruch umgibt ihn und während ich mich verzweifelt frage, wonach ich selbst wohl rieche – bestimmt eine eklige Mischung aus Schweiss, kaltem Rauch und dem penetranten Parfum, das ich heute Abend aufgetragen habe – überkommt mich der absurde Drang, mich an seine Brust zu schmiegen und mein Gesicht in seiner Halsbeuge zu vergraben. Es ist wirklich peinlich.
«Hast du diese Woche Nachteinsatz?»
«Ja.» Ich spiele mit meinem Ring. Sobald er in der Nähe ist, bin ich unbeholfen wie ein Kleinkind. So ist es immer. Kaum sehe ich ihn, da verweigern meine Gehirnzellen den Dienst. Zack. Nur noch Leere. Ich weiss nicht, wohin mit meinen Armen, meinen Füssen oder meinem Blick. Ich verhalte mich seltsam und sage lauter seltsame Dinge.
Im Gegensatz zu mir wirkt Aaron so ungezwungen wie immer. Ich habe sogar den Eindruck, er freut sich mich zu sehen. Morgens um fünf Uhr, zerzaust, verschwitzt und gekleidet wie eine Nutte. Ich hasse ihn.
«Wieso hast du so was früher nie angezogen?», fragt er grinsend und sieht mich an, mit diesen lauernden, braunen Panther-Augen, bei denen man nie genau weiss, ob er einen umschmeicheln oder angreifen will.
«Ich hätte nicht gedacht, dass du auf Lack und Leder stehst», sage ich mit einem kleinen Lächeln und liefere ihm damit die perfekte Steilvorlage, aber alles was er dazu sagt ist: «Die Corsage ist zu eng. Kannst du darin überhaupt atmen?» Nun komme ich mir dumm vor. Wahrscheinlich macht er das mit Absicht.
Er fährt damit fort, von seinem Abend zu erzählen, dem Geburtstag, den er mit seinen Freunden gefeiert hat. Die meisten Leute kenne ich und während ich zustimmend nicke und an den richtigen Stellen lächle, fühlt es sich an, als würde er mein Herz mit seinen blossen Händen zerquetschen. Ich versuche mich auf seine Worte zu konzentrieren, aber die Mimik seines Gesichts, der Ausdruck seiner Augen, die Gestik seiner Hände und der Klang seiner Stimme lenken mich ab.
Ich betrachte die kleinen Fältchen um seine Augen und frage mich, ob er die schon immer hat. Das kalte Licht der Scheinwerfer legt einen dunkelblauen Schatten auf sein Gesicht und lässt ihn älter wirken, als er in Wahrheit ist. Das Spiel von Licht und Schatten fasziniert mich. Ich würde ihn gerne malen. Genau so wie er hier steht. Das Funkeln in seinen Augen einfangen, den kühlen Farbton seiner Haut und den leicht geschwungenen Mund. Dunkelblau, Beige und Rotbraun.
Mein Blick bleibt an seinem Mund hängen, an den schnellen auf und ab Bewegungen seiner Lippen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, ihn zu küssen. Wie weich seine Lippen wären und wie stachelig sein Dreitagebart.
Frustriert reisse ich meinen Blick von seinem Mund los und starre auf einen Punkt schräg hinter ihm. Ich sollte nicht über solche Dinge nachdenken. Ich sollte überhaupt nicht über ihn nachdenken. Das ist einfach nur erbärmlich.
Er hält in seiner Erzählung inne und sieht mich an.
«Langweile ich dich?» Sein Tonfall ist scherzend aber ich höre den strengen Unterton. Es ärgert ihn, dass ich mit meinen Gedanken wo anders bin. Meine Verträumtheit hat ihn immer geärgert. Einer der Gründe, weshalb wir nicht mehr zusammen sind.
Natürlich bin ich zu stolz, um zuzugeben, dass ich mich in seiner Nähe nicht konzentrieren kann, also lache ich, als hätte ich die Schärfe in seinem Tonfall nicht gehört oder als interessierte sie mich nicht. «Du würdest mich niemals langweilen.»
Das ist die Wahrheit. Wahrscheinlich das wahrste, das ich heute Abend zu ihm gesagt habe aber ich lasse meine Worte leichtfertig klingen, als wären sie nur so dahingesagt und überspiele ihre Bedeutung mit meinem Lächeln.
Er erwidert mein Lächeln. Wahrscheinlich gegen seinen Willen. Und da, ganz plötzlich, wird mir bewusst, dass auch ich noch ein kleines bisschen Macht über ihn habe. Vielleicht immer haben werde. Doch es reicht nicht. Nicht für ihn.
Als er sich schliesslich verabschiedet und in die entgegengesetzte Richtung geht, starre ich ihm nach und versuche mir jedes Detail einzuprägen. Die Art wie er läuft, wie sich das dünne T-Shirt an seinen Schultern spannt. Wie vorteilhaft die dunkle Jeans seinen Hintern betont. Ich weiss, dass Aaron sich nicht besonders für Mode interessiert aber er ist immer gut angezogen.
Als würde er meinen Blick spüren, sieht er über die Schulter zurück und grinst mich an. Mein dummes Herz macht einen Satz. Dabei weiss ich, dass er mir die Sterne vom Himmel holen könnte, wenn er wollte. Er will nur nicht.