A slice of pizza
„Oh, ´tschuldigung...“ „Kein Problem, kommen Sie ruhig rein. Sie sind heute aber früh...“ sage ich halb erschrocken, halb abwesend. Ich schaue über den Bildschirm in das Gesicht des Nachtwächters, der auch etwas überrascht schaut, dass er Freitag abends noch jemanden im Büro vorfindet. „Früh? Ich komme immer um die Zeit und lösche das Licht in den Büros, damit hier nicht das ganze Wochenende das Licht brennt. Muss ja nicht sein. Ihre Kollegen achten wohl nicht auf die Stromrechnung“. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Mist.
Es ist neun. Ich habe die Zeit komplett vergessen. Neun Uhr und dabei wollte ich doch abends einkaufen gehen. Ich denke voller Schrecken an die gähnende Leere in meinem Kühlschrank. „Toll“ – könnte an der Tanke einkaufen gehen. Schlechte Auswahl an Junkfood und furchtbare Preise, nicht erst seit dem Euro. Da habe ich jetzt auch keine Lust mehr drauf. Der Nachtwächter schaut mich an, er wartet wohl auf irgend ein Wort von mir. „Ich pack´s gleich. Ich mache auch bestimmt das Licht aus.“ „Dann ist ja gut. Ihnen ein schönes Wochenende.“ „Ja ja, Ihnen ´nen schönen Dienst“ antworte ich und fahre bereits den PC runter.
Unten auf der Strasse angekommen, schlägt mir Regen und ein eisiger Wind in´s Gesicht. Ich schlage den Kragen meines Mantels höher und suche im Dunkeln mein Auto auf dem unbeleuchteten Parkplatz. Gefunden. Den Mantel auf die Rückbank werfend schlupf´ ich hinters Lenkrad. Auf dem Heimweg fällt langsam der Strom der Woche von mir ab. Im Radio nur laue Musik. Hitparade. Na bravo. Früher hab ich das irgendwie lieber gehört. Der Hunger meldet sich. Und der Kühlschrank ist leer. So starte ich also in das Wochenende. Mein Laune sinkt auf einen Tiefpunkt. Der Regen auf der Strasse macht mich fast blind. Nix wie heim.
Daheim angekommen. Schuhe aus, Mantel in´s Eck. Ich werfe einen Blick in den Kühlschrank. Ich weiß, dass er leer ist, trotzdem gucke ich rein. Leer. Ich mache die Tür zu. Auf dem Weg in mein Wohnzimmer hau´ ich auf den Lichtschalter. Ein kurzer Blitz. Dann dunkel.
Ganz toll, jetzt ist die Birne durchgebrannt. Oder die Sicherung. Ich drücke den Fernseher an. Der geht. Also war es nur die Birne. Auch die werde ich wohl heute nicht mehr nachkaufen können...
Ich krame im Licht des Fernsehers nach den Teelichtern, die ich neulich im Großpack bei IKEA gekauft habe. Ich habe mich beim letzten Shopping geärgert, dass ich wegen einem Sideboard hingefahren bin und ohne Sideboard und ohne die fünfzig Euro wieder heimgekommen bin. Ich habe bei unseren schwedischen Freunden dem Kleinkram und Schnick-Schnack noch nie wiederstehen können. „Na, wenigstens die Teelichter habe ich gut gekauft“ denke ich bei mir selbst und zünde die ersten drei Stück an. Ich schmeiße mich auf die Couch. Der Hunger ist immer noch da. Ich krame nach der Nummer vom Pizza-Service. Irgendwo zwischen den Zeitungen war sie doch. Mist. Rufe die Auskunft an. Lasse mich durchstellen. Der immerfröhliche Inder oder Pakistani oder was auch immer er ist, meldet sich. Mit seinem gesungenen „Hallo“ erwidert er meinen Gruß.
Das ist irgendwie ein ulkiger Typ. Jedesmal buchstabiere ich meinen Nachnamen. Jedesmal steht er anders buchstabiert mit einer Kleinkinder-Handschrift auf dem Lieferschein. Wenigstens die Pizza ist immer die richtige. Eigentlich nicht schwer. Immer die Classic mit Salami und Extra Käse. Da kann man eigentlich auch nichts falsch machen. Pizza 32, Hausnummer 32. Nur die Sache mit dem Nachnamen. Ich grinse in mich rein.
Dachte ich eben noch, bei der Pizza kann man nichts falsch machen? Als es endlose vierzig Minuten später an der Tür klingelt, hängt mein Magen in den Knien. Es ist halb elf und mein Magen hat – abgesehen von zwei Flaschen Wasser – nichts mehr bekommen seit dem Espresso zwischen Bad und Küche und einem Croissant an der Tankstelle heute früh.
Ich drücke dem Punk, der mit einem Uralt-Jetta immer Freitags Pizza ausfährt und wegen den regelmäßigen Fehlzündungen seiner Schüssel eigentlich nicht klingeln müsste, das Geld in die Hand und trage meine Pizza in´s Wohnzimmer. Ich latsche in den Keller und hole einen roten Italiener hoch. Nachdem ich einen großen Schluck genommen habe, öffne ich den Pappdeckel um mich über meine Salami mit Extra Käse herzumachen.
Ist gar nicht so leicht im Kerzenlicht beim Schneiden zwischen dem Papp-Karton und der Pizza den Unterschied zu spüren. Schmeckt das nach Ananas? Ich halte ein Teelicht über den Karton. Das ist doch keine „32“ mit Extra Käse. Ich schnapp´ mir den Karton. In der Küche die Gewissheit. Hawaii. Schinken, Ananas. Kein Zweifel. Wahlwiederholung. Das Mädel von der Auskunft geht gerade dran, als es an der Tür klingelt. Ich lege, ohne mich gemeldet zu haben, auf und öffne die Tür.
Vor mir steht ein junges Mädchen. Höchstens zwanzig, vielleicht zwoundzwanzig. Sie lächelt etwas verlegen. Weisses T-Shirt, blaue Latzjeans. Langes, glänzendes, glattes Haar liegt auf Ihrer Schulter. Hübsch. Außerdem hat Sie eine Pizza in der Hand. Bevor Sie etwas sagen kann, sage ich „einen Moment“, gehe in´s Wohnzimmer und komme mit der falschgelieferten Pizza wieder. Ich drücke ihr den Karton in die Hand, nehm´ ihr den anderen Karton aus der Hand und sage beim Tür zu machen, dass so was ja passieren kann. Ihr Chef hat es wenigstens schnell gemerkt hat. Ich freue mich auf meine Pizza, bin aber skeptisch und schaue in den Karton.
Hey, da fällt ja eine Ecke?!
Ich drehe mich um, will das Mädel zu Rede stellen. Weit kann sie noch nicht sein. Ich öffne die Tür, will rausrennen und renne fast in das schwarzhaarige Mädchen rein, dass immer noch vor der Tür steht. Sie schaut mich – mit Verlaub gesagt – ziemlich blöde und entgeistert an.
„Meine Name ist Jenny,“ sagt sie mit einem englischen Akzent, „do you speak English?“ „More or less“ ist das erste was mir einfällt. Ohne zu prüfen, was mein „mehr oder weniger“ genau bedeutet, schießt sie los und erzählt mir ihre Geschichte ohne Punkt und ohne Komma mit einem furchtbar harten englischen Dialekt. Was ich verstehe ist, dass der Punk wohl die Pizzas verwechselt hat, sie heute neu in die Wohnung über mir eingezogen ist und Hunger vom Möbeltragen hat. Und, sie wollte eine Pizza Hawaii. Als der Punk ihr die Pizza in die Hand gedrückt hatte, hat sie gleich bemerkt, dass auf der Pizza keine Ananas war. Ist wohl so in Deutschland, hatte sie gedacht.
Als Sie dann das erste Eck gegessen hat, bremst die Salami anstelle des erwarteten Schinken ihre Lust auf deutsche Pizza. Also rief sie nochmals beim Pizzaservice an. Hier ist die Verwechslung dann rausgekommen. Der Inder hatte ihr dann erzählt, dass die Hawaii wohl bei mir gelandet ist. Und hier wäre sie dann, Jenny. Mit meiner Pizza.
„I´m terribly sorry – a slice is missing.” – Tja, da war mein “less” wohl ehrlicher als mein “more”. Ich schaue sie wohl an wie ein Auto, denn sie beginnt zu lächeln. „Der Pizza, ich habe gegessen davon“ sagt sie. Ich deute auf ihren Karton. Sie schaut hinein, sieht die angegessene Ecke, schaut mich an, fängt an zu lachen. Wow – kann die goldig lachen. Eigentlich eher ein lautes Glucksen. Aber diese Augen. Funkelnd erstrahlen ihre Augen und geben ihrem hübschen Gesicht zusammen mit den Grübchen auf ihren Wangen etwas zuckersüßes.
Ich strahle zurück. Diese Jenny würde ich gerne öfter lachen sehen. Ich frage sie, ob ich ihr morgen helfen soll beziehungsweise darf. Sie erwidert, dass Sie bis auf die Lampen fertig ist, die sind morgen dran. Sie hofft, dass mich das nicht stören würde und ab wann sie bohren darf. Muss Sie dann im Dunkeln essen, frage ich und schiebe ganz mutig nach, ob sie nicht bei mir ihre Pizza essen möchte. Schließlich werden die Pizza langsam kalt.
Sie strahlt wieder. Wieder diese Augen. In dem Moment, in dem sie einwilligt, fällt mir ein, dass es mit dem Licht bei mir nicht besser bestellt ist. Aber es ist schon zu spät. Sie macht einen Schritt auf mich zu. Ich trete zur Seite und bitte sie herein. Im Wohnzimmer sieht sie die Kerzen und fragt mich, ob ich ein romantisches Dinner for One geplant hatte. Wieder dieses Funkeln in den Augen.
Trotz des wenigen Licht im Wohnzimmer kann ich es nicht übersehen. Das ist wohl die hübscheste Nachbarin, die ich je hatte. Ich vergesse ganz, dass sie Engländerin ist. Dass sie viel zu schnell. Dass sie mit diesem furchtbaren Dialekt spricht. Freue mich nur, dass ich diese Schönheit zukünftig wohl auf dem Flur treffen werde. Kein Gedanke daran, wie die Konversation beim Essen ablaufen soll. Etwas verlegen und mit gebrochenen Englisch erzähle ich aus der Küche quer über den Flur von dem Malheur mit der Glühbirne und komme mir dämlich vor. Habe selber kein Licht und biete ihr an, dass sie nicht allein im Dunkeln essen muss. Sowas. Sie setzt sich auf den Platz, auf dem ich vorher saß. Mit einem weiteren Glas Rotwein und ihrem Besteck bewaffnet, komme ich aus der Küche. Hmm. Als ewiger Single habe ich noch nie einen Esstisch gehabt. Nie gebraucht. Und jetzt ist der einzige Platz, an den ich mich setzen kann, der Platz auf der Couch neben ihr.
Und ich dachte, der Abend wird mies.
Sie erzählt wo sie herkommt, Chesterfield, warum sie jetzt hier in München ist und alles mögliche. Ich verstehe ganz wenig. Zum einen plappert sie in unverminderter Geschwindigkeit, zum anderen habe ich nur Augen für ihre langen Haare, ihre fröhlichen Blicke und ihr Äußeres. Ich ermahne mich, dass ich gerade typisch Mann bin und die äußeren Reize mich so sehr in den Bann ziehen. Ich bin doch eigentlich ganz anders, denke ich mir. Ich überlege, ob ich mir das bisher nur eingeredet habe. Die Pizza ist längst gegessen und die Flasche Rotwein leer. Jenny redet immer noch. Ich unterbreche sie hin und wieder mit unsicherer Stimme. Immer dann wenn ich nachfragen muss, wovon sie in Gottes Namen gerade redet und ich aufgrund ihrer Sprache den Faden verloren habe. Sie lächelt noch süßer. Zu ihrem Charme mischt sich ein wenig Verlegenheit. Als ihr Glas leer ist, zögere ich. Wenn ich sie jetzt frage, ob ich noch eine Flasche Wein hoch holen soll, könnte sie den Abend abrupt beenden und sich nach oben zurückziehen. Mehrere Minuten sitzen wir da. Mit leeren Weingläsern. Sie sagt, dass sie noch ein Glas Wein möchte. Ich strahle.
Ich sprinte in den Keller und komme mit der letzten Flasche aus der Kiste zurück, die ich aus Torri im Sommer mitgebracht hatte. Sie will, dass ich ihr etwas von mir erzähle. Darauf habe ich aber keine Lust. Ich erzähle ihr lieber, dass es mir ihr Lächeln angetan hat. Sie errötet, schaut aber dankbar und freundlich zurück. Ich frage sie, ob sie nicht k.o. wäre vom Umzug. Sie grinst. Eine Massage wäre das richtige, meint sie. War das eine Feststellung? War das eine Aufforderung? Ich kenne das junge Ding seit wenigen Stunden. Ist die auf ein Abenteuer aus? Komme ich ihr jetzt näher, womöglich scheuert sie mir dann eine... Ich schaue sie perplex an. Sie hatte es sich irgendwann nach der Pizza bequem gemacht, saß noch immer auf der Couch neben mir, aber zu mir gewandt. Die Beine im Schneidersitz auf die Couch hochgezogen, den Rücken an der Armlehne angelehnt. Eine blöde Situation. Ich denke plötzlich wie ein Teenager. Denke, dass ich mich ja zufällig strecken könnte und nach dem Strecken ihr zufällig näher gerutscht sein könnte. Aber das geht ja nicht. Ihre Knie bilden eine Hürde, die mich nicht wirklich näher rutschen lassen würde. Außerdem wäre das jetzt wirklich zu albern. Also lass ich es. Ich sitze einfach nur da. Sie schaut mich an. Schaut auf meine Hände. Ich folge Ihrem Blick. Meine Knöchel sind weiß. Um meine Hände in Zaum zu halten, muss ich wohl sehr angespannt gewesen sein. Jenny beugt sich vor, legt ihre Hand auf meine Hände. Sie sagt, dass ich heute wohl nicht die ruhigen, weichen Hände hätte, um sie zu massieren.
Sie hält es für das beste, wenn sie jetzt ginge. Maßlos enttäuscht stehe ich auf, bringe sie zur Tür. Jetzt hab ich es vermasselt.
An der Tür bleibt Jenny stehen. Arbeiten über den Kopf ist viel schlimmer für Ihren Rücken, sagt sie. Über Kopf arbeiten. Beim Bohren, „do you understand?“ . Sie schaut mich fragend an. Ich hätte doch morgen nix vor, oder? Ich sage schnell zu. „See you tomorrow“ sagt sie und öffnet die Tür. Sie umarmt mich mit einem Arm und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „See you tomorrow“ sagt sie noch mal und schenkt mir ihr Lächeln.