A.R.C.
„Sind Sie tot?“
Langsam zerrte mich die kleine, helle Stimme wieder in die Wirklichkeit und das bedeutete in meinem Fall und an diesem Tag: Kopfschmerzen und Fieber. Die Stille wurde verscheucht von der lauten Geräuschkulisse der vielen Menschen, die an mir vorbei liefen und ich konnte die gleißende Helligkeit jetzt schon hinter meinen Augenlidern spüren.
„Entschuldigung...“ Etwas berührte meinen Arm. „Вist du tohoot?“ Ich öffnete die Augen. Ganz langsam und vorsichtig, denn das Gegenlicht stach durch meine Augen direkt in meinen Kopf. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine Umgebung einigermaßen schmerzfrei und vor allem zusammenhängend wahrnehmen konnte. Ich lag immer noch auf der selben Stelle vertrocknetem Rasen, an der ich mich vor einer ganze Weile hingelegt hatte. Um mich herum auf den Wegen und hellgelb vertrockneten Grasflächen, die so kurz getrimmt waren, dass man sie wohl „englisch“ nennen durfte, spazierten dutzende Besucher des Shinjuku-Gardens.
„Ah! Tot bist du also nicht!“
Ich drehte mich nach der Stimme um und rollte mich auf die Seite. Ein kleines Mädchen von etwa 4 Jahren stand neben mir und hielt noch immer meine Jacke fest. Sie hatte kinnlanges, schwarzes Haar, das typisch niedliche Kindergesicht, dass Japaner eben in diesem Alter haben und trug einen kleinen Stoffbeutel mit sich herum. Sie ließ mich los und nahm den Ärmel ihres schwarzen Samt-Jäckchens in den Mund, während sie mit mir sprach. Ihr japanisch, klang irgendwie eigenartig für so ein kleines Kind, aber die den Kleinkindern so eigene lang gezogene Betonung hatte sie noch nicht abgelegt.
„Bist du krank, Tantchen?“, fragte die Kleine ehrlich besorgt. Ich kam nicht drumherum, das ganze etwas merkwürdig zu finden. Denn ich war in der Tat an diesem Tag nicht gerade gesund. Ich hatte nach dem Frühstück das Haus verlassen, in dem ich arbeitete, um etwas Ruhe zu finden. Trotz meines ganz offensichtlichen Fiebers und dem bösartig schmerzenden Schwindel, setzte ich mich in die Bahn und fuhr bis nach Shinjuku in den Park. Dort bezahlte ich meine 100 Yen Eintritt am Eingang und zwängte mich durch das Drehkreuz. Die strapaziöse Zugfahrt, forderte just auf der erstbesten Wiese ihren Tribut ein und ich legte mich einfach in die Sonne. Die ersten richtig warmen Sonnenstrahlen in diesem Jahr. Da hatte ich wohl Glück.
Ich fuhr mir über die warme Stirn und fischte mir die Haare aus dem Gesicht. Ich bin manchmal etwas taub auf meinem japanischen Ohr also fragte ich der Sicherheit halber noch einmal nach.
„Ob ich krank bin?“ Mein japanisch klang scheußlich, nicht einmal die Kleine konnte sich ihr unbedarftes Lächeln bewahren. Sie schaute mich kurz angestrengt an um mir zu lauschen, ehe sie nickte. Dann leerte sie ihren kleinen Stoffbeutel auf dem Rasen neben mir aus. Zum Vorschein kamen kleine Arzt-Spielzeuge, ein Förmchen und ein kaputter Schwimmflügel. Sie hob das schreiend pinkfarbene Plastik- Stethoskop auf und kam auf mich zu.
„Ich bin Doktor...“ Soviel verstand ich noch, dann folgten einige nicht zu verstehende Sätze und ich konnte in ihrem zwar äußerst süß klingenden, aber für mich vollkommen unverständlichen Gerede immer nur ab und zu nach Wortfetzen suchen, die ich kannte.
„....kann dir helfen... setz' dich hin...“ Das kleine Mädchen wollte also mit mir spielen, das hatte nun selbst ich begriffen. Ich überlegte einen Moment und kam zu dem Schluss, dass es doch ein wahres Glück sei, dass jetzt die kleinen Doktoranden sogar schon zu einem in den Park kamen, wenn man krank in der Sonne einschlief.
Also setzte ich mich gerade hin und die Kleine doktorte fröhlich an mir herum, wobei ich es tunlichst vermied, dass sie mich wirklich richtig anfasste oder mir zu nahe kam. Immerhin war ich wirklich krank und wollte nicht unbedingt dafür verantwortlich sein, wenn es ihr morgen eben so schrecklich ging wie mir.
Als sie gerade von mir verlangte, dass ich das typische „Sagmal-A“- Prozedur über mich ergehen lasse und ich mich weigerte, drehte sie sich von mir weg. Ich dachte schon ich hätte sie nun doch vergrault, aber ein laut rufender Mann hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Nun wusste ich auch ihren Namen, oder zumindest das Kürzel. Denn es schallte bald laut und vernehmlich über die ganze Fläche:
„Aaaaayaaaa! Aya-chaaan! Komm her und geh weg von SOLCHEN Fremden!“ Mit „solchen Fremden“ war natürlich meine ausländische Herkunft gemeint, doch so skeptisch sie uns „Westlern“ gegenüber auch sind, würde sich ein Japaner doch in der Öffentlichkeit nie die Blöße geben, zugeben zu müssen, sein Kind solle doch bitte von der Viren verteilenden, komisch aussehenden und bestimmt auch Babies fressenden Europäerin weggehen.
Die kleine packte ihren Beutel zusammen und schaute mich traurig an. Ich brachte nur ein mattes: „Danke und Tschüss!“ heraus. Die Kleine umarmte mich überschwänglich und ich hielt die Luft an.
„Jetzt bist du wieder gesund!“, flötete mir Aya fröhlich entgegen und rannte los. Schön wär' s, dachte ich und beobachtete sie noch einen Moment. Ihr nun schon fast panisch rufender Vater war in die Hocke gegangen und hob sie sofort hoch, als sie bei ihm angekommen war. Dabei warf er mir einen Blick zu, als würde an meinem Mundwinkel noch das getrocknete Blut von kleinen Kindern, wie eben seiner Aya, kleben. Ich lächelte so nett es ging zurück, doch es half alles nichts.
Nun da ich wieder wach war, hielt ich es für das beste meine müden Knochen etwas in Schwung zu bringen. Ich stand auf und schaute auf die Uhr. Ganze 3 Stunden hatte ich in der Sonne geschlafen - unfassbar. Es ist mir bis heute ein Rätsel wie ich das geschafft habe. Es war kurz vor drei Uhr, also konnte ich noch schön gemütlich eine Runde durch den Park schlendern, oder besser schleichen. Ich war ziemlich wackelig auf den Beinen und musste sogar auf einer der Parkbänke eine Pause einlegen.
Auf meinem Weg durch die Anlage, sah ich die kleine Aya noch zweimal und ließ mir die Gelegenheit nicht entgehen ein Bild von ihr zu machen.
In der Mitte des Gartens angekommen, beobachtete ich die Enten und Schildkröten die sich am Ufer des Teichs sonnten. Die Leute um mich herum lachten, spielten, rannten umher und genossen ebenso auf ihre Art die ersten warmen Sonnenstunden. Kurz kam mir der Gedanke, dass sich so die Christen wohl den Himmel vorstellen müssten, doch mit einem Lächeln auf den Lippen und dem Gesicht in der Sonne, kam mir das ganze dann doch etwas zu dick aufgetragen vor. Ich wandte mich um und wollte gerade weiter, als mir ein Mann auffiel.
Nicht irgendein Mann. Er fiel mir aus einem ganz bestimmten Grund auf. Er war ebenfalls Europäer oder Amerikaner! Ich konnte diesen Zufall kaum fassen. Zwei Ausländer in dem selben Park, zu einer Zeit in der es relativ unwahrscheinlich war, dass sich Touristen herum trieben - zur Kirschblüte war es noch mindestens einen Monat hin und die Zikaden sangen immer erst im Spätsommer.
Er saß vor einem leeren Kinder-Buggy und schaute traurig in die Welt hinaus. Als hätte er von dem großen japanischen Kuchen, namens „Glückseligkeit“ nichts abbekommen. Auf seinen hängenden Schultern, schien er die ganze Welt zu tragen, während er einfach nur regungslos da saß.
Und so beobachtete ich ihn mit meinem vernebelten und schmerzenden Kopf eine ganze Weile und musste wohl ebenso mühsam aussehen wie er. Ich machte mir so meine Gedanken und musste schmunzelnd feststellen:
„Jaja... wir Langnasen haben's schon nicht leicht in dieser japanischen Welt.“ Doch trotz alledem mochte ich diesen Tag. Ich genoss es, die Anonymität, dass Gefühl man wäre ein Außerirdischer der in einem neongrünen Anzug, durch den Garten marschierte.
Ich fasste in meine Jackentasche und holte die Karte heraus, die ich immer mit mir herumtragen musste, um mich auszuweisen und musste lachen, als ich den Schriftzug wieder einmal überflog, der über meinem Foto prangte.
„Alien Registration Card“
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Informationen zur ARC:
http://www.japan-guide.com/e/e2221.html