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- Anmerkungen zum Text
Ein kräftiger Schneesturm wütet auf einem hohen Berg und ein einsamer Priester stapft mit kräftigen Schritten seinen beschwerlichen Weg durch den tiefen Schnee.
Dabei zieht er einen Sarg hinter sich her.
Das Böse, was er damit entfesseln wird, verschlingt alles, was ihm lieb und teuer ist.
Kann ein Mann seine Seele retten, wenn sie bereits verloren ist?
A Handful of Death in the West
Der Fremde betrat den Saloon und zog den Sarg hinter sich her. Bis auf ein Flüstern, welches durch den Raum eilte, wurde es still. Das Gewicht der Holzkiste zog tiefe Furchen in den Holzboden. Der Fremde ließ das Seil, an dem der Sarg befestigt war, fallen und ging zum Tresen. Jeder seiner Schritte knarrte auf dem alten Dielenboden. Zum ersten Mal bemerkte der Barkeeper, wie laut dieses Geräusch sein konnte.
»Einen Whiskey. Und ein Zimmer für die Nacht.«
Der Barkeeper hörte auf seine Gläser zu polieren. Diese waren schon, bevor der Fremde eingetroffen war, gründlich poliert worden. Doch irgendetwas brachte ihn dazu, es noch einmal zu tun.
»Tut mir leid Mister, aber für Sie haben wir hier kein Zimmer. Ein Mann, der in der Dunkelheit, einen Sarg hinter sich herschleppt, zieht nur Unheil an. Und das haben wir in unserer kleinen, gottesfürchtigen Stadt zur Genüge.«, antwortete der Barkeeper.
»Gottesfürchtig also?«, fragte der Fremde.
Er starrte den Barkeeper einen kurzen Augenblick an und öffnete langsam seinen schweren Ledermantel, wodurch ein schwarzes Hemd mit einem weißen Priesterkragen zum Vorschein kam.
»Gut, dann nehme ich an, Ihr wollt euch nun korrigieren und mir Euer bestes Zimmer anbieten.«
Der Barkeeper nahm das polierte Whiskey-Glas und stellte es vor den Priester hin. Er griff nach einer Flasche und schenkte dem Fremden ein. Er hätte ihm den hiesigen Gaumenbeleidiger als seine beste Marke andrehen können, aber das tat er nicht. Der Barkeeper verschüttete etwas von der goldenen Flüssigkeit über dem Tresen. Der Priester kippte den Whiskey fein säuberlich hinunter und verzog dabei keine Mine.
»Tut mir leid Mister, ich wusste nicht, dass Sie ein Mann Gottes sind. Natürlich haben wir eine Unterkunft für Sie.«
Er zog aus seiner Hosentasche einen Schlüssel mit der Zimmernummer sechs und überreichte ihm diesen. Dieser steckte den Schlüssel ein und blickte sich noch einmal im Saloon um. Der Barkeeper folgte seinem Blick und rief in die Menge. »Jetzt starrt ihn nicht so an! Habt ihr es nicht mitbekommen? Dieser Mann ist ein Mann Gottes. Los, spielt weiter! Wofür bezahl ich euch?«
Der zahnlose Klavierspieler begann wieder zu spielen und der ältere Mann mit der Geige und dem abgewetzten Hut folgte seinem Beispiel. Der Barkeeper richtete seinen Blick erneut auf den Priester.
»Seid ihr auf der Durchreise?«
Der Fremde schwieg. Der Barkeeper versuchte die Frage zu wiederholen, doch der Priester schüttelte den Kopf.
»Sprecht nicht von trivialen Dingen. Der Tod selbst befindet sich gerade unter euch.«
Der Priester nahm das Glas und die halbleere Whiskey-Flasche und setzte sich an einen der leeren Tische des Saloons. Die Gäste hielten noch immer ihren Blick gespannt auf den Fremden gerichtet. Dieser deutete zu dem Holzsarg.
»Den rührt mir keiner an.«
Der Priester lehnte sich im Holzstuhl zurück. Er wollte sich einen Moment Ruhe gönnen, hielt aber beständig seinen Blick auf den Sarg gerichtet.
Dabei übersah er, dass der Barkeeper mit einem jungen Mann redete. Hastig flüsterte er Worte in sein Ohr. Im schummrigen Licht der Lampen wirkte der Junge ziemlich hager. Und obwohl es draußen kalt war trug er kurze Hosen. Der junge Mann blickte fragend zum Barkeeper. Einen kurzen Moment später lief er wie vom Blitz getroffen aus dem Saloon. Hinaus in die Dunkelheit, die ihn verschlang. Zwei Gläser Whisky und ein Lied der schönen Blondine auf der zusammengebretterten Bühne später, betrat der Junge wieder den Saloon. Ihm folgte ein stämmiger Kerl mit einem schwarzen Wollmantel. Sein Blick wurde starr, als er den Sarg erblickte.
»Wem gehört diese Holzkiste des Todes?«
Der Klavierspieler deutete auf den Priester.
»Dem dort drüben, Marshall. Ist augenscheinlich ein Priester.«
»Ach, wirklich? Seit wann laufen Priester mit Särgen durch die Gegend?«
Der Marshall setzte sich an den Tisch des Priesters.
»Was bewegt einen Diener Gottes unsere schöne Stadt aufzusuchen?«
Der Priester trank das Glas Whiskey aus und stellte es auf den Tisch.
»Gottes Wege sind unergründlich.«
»Hör mir gut zu Priester, wir brauchen hier keinen Ärger. Särge mit Toten brauchen wir schon gar nicht. Davon haben wir selbst mehr als genug.«
Bevor der Priester antworten konnte, drangen kratzende Laute aus dem Sarg. Die Menschen im Saloon wurden erneut still, als ein weinerliches Schluchzen aus dem Sarg zu vernehmen war. Der Priester versuchte aufzuspringen, doch der Marshall zückte seinen Revolver.
»Schön sitzen bleiben! Wen zur Hölle hast du dort eingesperrt?«
»Unter keinen Umständen öffnen, wenn euch euer Leben lieb ist.«, betonte der Priester mit Nachdruck. Eine zarte, weibliche Stimme drang plötzlich aus dem Inneren des Sarges.
»Helft mir bitte... Ich habe solchen Durst.«
Der Klavierspieler sprang auf und eilte zu der Holzkiste.
»Oh mein Gott, da ist ein Mädchen eingesperrt.«
Er versuchte das Mädchen zu befreien, doch der Sarg ließ sich nicht öffnen.
»Hat jemand ein Brecheisen?«, fragte er.
Der Priester sprang auf, doch auch der Marshall tat es ihm gleich.
»Öffnet unter keinen Umständen den Sarg!«
Der Marshall stellte sich dem Priester in den Weg.
»Schön hierbleiben, sonst bist du der Nächste, der in dieser Kiste landet.«
Der Klavierspieler schaffte es den Sarg ein Stück weit zu öffnen.
Doch die süße, kindliche Stimme aus dem Inneren verwandelte sich in ein tiefes und furchterregendes Knurren.
Das Licht im Saloon erlosch wie von Geisterhand und der Boden unter den Tischen fing an zu beben. Der Sargdeckel sprang auf. Da wich der Klavierspieler erschrocken zurück. Eine dunkle Gestalt erhob sich aus dem Sarg.
Diese zischte und knurrte unmenschlich. Das Holzkreuz, welches auf der gegenüberstehenden Wand hing, fing Feuer und fiel brennend zu Boden. Das Wesen schien die Form einer nackten Frau zu haben, doch der Körper war mit einer pechschwarzen Flüssigkeit umhüllt. Ihre knöchrigen Finger und Gelenke waren doppelt so lang wie die eines normalen Menschen und ihre Augen wirkten schneeweiß. Das Wesen packte den Klavierspieler und warf ihn zu Boden. Es beugte sich über den wehrlosen Mann. Die pechschwarze Flüssigkeit des Wesens lief dabei über sein Gesicht und fing an ihn am Atmen zu hindern. Er drohte zu ertrinken, da feuerte der Marshall Schüsse auf das Wesen ab.
Das unmenschliche Ding betrachtete die Einschusswunden an seinem Köper. Doch scheinbar schien es keinerlei Schmerzen zu spüren. Es knurrte in Richtung des Priesters. Der Klavierspieler schlug aus purer Verzweiflung auf das Wesen ein. Doch es packte seinen Arm und riss ihn mit Leichtigkeit vom Körper.
Der Priester zog seine Waffe.
»Möge der Herr dir eine Kugel zwischen die Augen jagen.«
Die Patronen trafen ihr Ziel.
Während das Wesen zurück wich, warf der Priester die Whisky-Flasche auf die Kreatur. Splitter der Flasche schossen durch den Raum. Der Priester schleuderte die Zigarre des Marshalls in Richtung der Kreatur. Er traf sein Ziel und das Wesen ging in lodernden Flammen auf. Es stürmte brennend aus dem Saloon und fiel hinter der Schwingtür, laut schreiend zu Boden.
»Feuer ist das Einzige, das sie töten kann.«
»Was zur Hölle war das, verdammt noch mal?«, fragte der Marshall.
»Eine Moorhexe.«
»Eine was? Sagten Sie gerade, eine Hexe?«
»Nicht nur irgendeine Hexe, sondern eines der schlimmsten Ausgeburten, die der Teufel auf die Erde losließ. Sie ernähren sich von Kindern, ihrem Fleisch, ihren Knochen.«
Er hielt kurz Inne.
»Sie verschlingen sogar ihre Seelen.«
Das Wesen verkohlte vor dem Saloon. Das Feuer konnte man noch lange in dieser kalten, sternenlosen Nacht knistern hören.
Der Priester inspizierte den leblosen Körper des Klavierspielers.
»Ich scheine sehr nahe an ihr dran zu sein.«
»An wem seid ihr nahe dran? Warum habt ihr uns diesen Dämon in unsere Stadt gebracht?«
Der Blick des Marshalls wanderte über den verwüsteten Saloon und blieb am zerbrochenen Sarg hängen.
»Feuer kann sie töten, es reinigt ihre verlorenen Seelen.« Der Priester begab sich zum Tresen und legte seinen Colt vor sich ab. »Geweihtes Silber, wie die Kugeln in meinem Colt, oder an der Innenseite des Sarges, halten sie auf. Es lähmt sie förmlich.«
Der Marshall setzte sich und bemerkte das Kruzifix am Griffstück des Schießeisens. Er griff in seine Tasche und zündete sich erneut eine Zigarre an. Dabei musterte er lange den Priester.
»Es befindet sich unter den Hexen eine Lamia - eine Oberhexe, die sich noch zu Lebzeiten mit einem Dämon einließ, um den Totengeist über die Menschen zu bringen. Und je näher eine Hexe dieser Lamia kommt, desto stärker wird sie. Deswegen sperrte ich diese Moorhexe in den Sarg, um die Lamia aufzuspüren und dem Ganzen ein Ende zu setzen. Und diese Spur brachte mich direkt in eure Stadt.«
Der Blick des Marshalls wanderte erneut zu dem Sarg.
»Ihr habt dieses Ding also bewusst als so eine Art lebenden Kompass benutzt?«
»So ist es.«
»Verzeiht mir die Frage, Priester. Aber wenn eine Hexe in der Gegenwart ihrer Herrin immer mächtiger wird, ist es dann ratsam, dass Ihr sie dorthin bringt?«
»Hätten ihre gottesfürchtigen Leute auf mich gehört, wäre diese Kreatur niemals aus ihrem Gefängnis entkommen.«
Einen Moment lang schwiegen beide, während der Barkeeper den Saloon aufräumte.
»Wieso trägt ein Diener Gottes ein Schießeisen?«
»Gott hat dafür gesorgt, dass meine Arbeit dreckig geworden ist. Diese Hexen fielen während der Sonntagsmesse über meine Kirche her.“
»Das ist schrecklich.«, antwortete der Marschall. »Aber dies ist meine Stadt und ich bin für die Sicherheit meiner Leute hier verantwortlich. Ich helfe Ihnen und werde Sie begleiten. Sagen Sie mir, was Sie brauchen.«
Der Priester nahm seinen Colt und betrachtete ihn eindringlich.
»Nur eine Handvoll Tod...« Er steckte den Colt wieder in seinen Halfter.
»Und ein Pferd könnte nicht schaden.« Der Marshall reichte ihm seine Hand. »Mein Name ist übrigens Kurt Barlow.« Der Priester nahm die Hand des Marshalls entgegen. »Roland Pope.«, erwiderte er.
»Mister Pope, ich habe vor zwei Tagen eine Mörderin eingebuchtet, die etwas von einer Hexe erzählt hatte. Ich hielt sie für verrückt, aber in Anbetracht dessen, was heute Abend geschehen ist…«
»Ich muss diese Frau unbedingt sprechen.«
»Gut, ich schlage vor, wir ruhen uns die restliche Nacht aus und treffen uns morgen bei Sonnenaufgang, dann befragen wir die Gefangene. Habt Ihr ein Zimmer bekommen?«
»Durchaus.«
»Gut, dann bis zum Morgen. Angenehme Nacht, Mister Pope.«
Die beiden verabschiedeten sich und der Marshall verließ den Saloon, während der Priester noch einige Zeit an der verwüsteten Bar sitzen blieb.
Am nächsten Morgen betrachteten der Marshall und der Priester eine Frau, die alleine in einer Gefängniszelle saß. Sie trug schwarze Kleidung und ihre linke Augenhöhle bedeckte eine schwarze Augenklappe.
»Sie will uns ihren Namen nicht sagen und spricht nicht viel, dafür ist sie umso tödlicher. Wir benötigten vier Leute, um sie zu bändigen. Wir haben sie erwischt, als sie einen Typen abgeknallt hat, der um ein Vielfaches besser bewaffnet war als dieses Dreckstück hier.« Die Frau sah den Priester an und lächelte dabei, als würde sie einen alten Freund nach langer Zeit wiedersehen.
»Man muss mir schon zu Gute halten, dass der Bastard, den ich ins Jenseits befördert habe, ein junges Mädchen verhungern und sterben ließ.«
Sie betrachtete dabei den Marshall. »Wir haben dieses scheinbar misshandelte Mädchen nie gefunden. Mord bleibt Mord und Gesetz bleibt Gesetz. Du wirst für diese Tat am Galgen hängen.« Die Frau blickte auf ihre gefesselten Hände hinab.
»Was soll ich sagen? Schlechte Zeiten sind im Sattel. Ja, das sind sie wohl.« Der Priester sah sie eindringlich an und empfand etwas Mitleid mit der Gefangenen. Ein Schmerz quälte ihn plötzlich am Unterarm, als hätte ihn etwas gestochen. Er kratzte sich und das schlimme Gefühl ließ langsam nach. »Ich habe gehört, du bist einer Hexe entkommen?« Sie warf dem Priester einen erstaunten Blick zu. Zum ersten Mal seit geraumer Zeit schien ihr jemand Glauben zu schenken.
»Einer Lamia höchstpersönlich, so wahr ich hier sitze.«
»Das ist nicht möglich.«
»Glaubt es oder lasst es, das ist mir einerlei.«
Der Priester blickte schockiert, aber mit hohem Interesse zu der Gefangenen.
Die Frau sah den Priester dabei eindringlich an. »Brennen soll diese Hexe und bei Gott, ich werde das Streichholz dabei halten. Sie hat mir meinen geliebten Vater genommen.«
»Kannst du mir sagen, wo sie sich aufhält?«
»Nein, aber ich könnte euch zu ihr hinführen.« Der Marschall schlug gegen die Gitterstäbe. »Das kannst du dir abschminken.«
»Dann viel Glück bei der Suche, meine zwei Helden.«
Der Priester drehte sich zum Marschall und führte ihn ein paar Meter von der Zelle weg, um mit ihm unter vier Augen sprechen zu können.
»Mister Barlow, wie mir scheint, sitzen wir drei im selben Boot. Ich würde empfehlen, wir lassen sie mit uns gemeinsam diese Hexe jagen. Sie bekommt die Chance, uns zu helfen und sich an der Lamia zu rächen. Was dann mit der Gefangenen geschieht, überlassen wir Gott.«
Er blickte immer wieder zur Zelle zurück, so als wollte er sichergehen, dass die Gefangene, wohl wissend, dass sie eingesperrt war, noch an ihrem Platz saß. »Hören Sie, Priester. Sie hat einen Menschen eiskalt ermordet. Sie verdient es nicht, wie ein freier Mensch behandelt zu werden.«
Der Priester legte nun seine Hände auf die Schulter des Marshalls und drückte etwas stärker zu. »Mister Barlow, bedenken Sie, dass wir ihre Hilfe benötigen. Wäre nicht mein Sarg von Ihren Leuten gewaltsam geöffnet worden, wären wir jetzt nicht auf sie angewiesen.«
»Meinetwegen, aber eines sei gewiss, sobald wir diese Hexe gefunden haben, bringe ich sie wieder hierher zurück.« Die Gefangene hob ihre Hände, an denen sie mit schweren Ketten gefesselt war.
Der Marshall nahm, nach wie vor widerwillig, die Schlüssel aus seiner Jackentasche und sperrte die Gefängniszelle auf.
Die drei erreichten nach einem Tagesritt einen Wald, vor dem sie ein Feldlager für die Nacht errichteten. Der Marshall hatte die Gefangene für die Nachtruhe an ihren Händen und Füßen gefesselt. Nachdem er sichergestellt hatte, dass sie nicht über Nacht fliehen konnte, legte er sich ins hohe Gras und schlief nach kurzer Zeit unter seinem Hut ein. Nur noch ein tiefes Atmen war von ihm zu vernehmen.
Der Priester machte sich am Lagerfeuer etwas zu Essen und gab der Gefangenen mit einem Löffel einen Teil davon ab.
»Die Bohnen sind hart wie Schrotkugeln und der Mais ist zäh. Aber es füllt den Magen.« Der Wind heulte und das Feuer fing immer heftiger an zu knistern. Es warf seltsame Schatten, die im Wind zu tanzen begannen.
»Erzähl mir, wer du bist.«
»Einfach nur ein Mensch. Einer, der dir nichts Böses will.«
»Auch ich will dir nichts Böses.«
»Das sagen viele und tun es bewusst oder unbewusst dennoch. Ich habe diesen Mistkerl erschossen. Aber nur, weil er es verdient hatte. Dieses arme Mädchen, nicht viel älter als drei Jahre.«
Sie blickte in den klaren Sternenhimmel über ihr.
»Ich habe für sie gebetet. Zu Gott und dem Jesusmenschen.«
Sie sah dem Priester dabei tief in die Augen.
»Aber, er erhörte nicht mein Flehen und ließ das Mädchen einfach sterben.«
»Das tut mir leid. Manchmal kann man schlimme Dinge auf dieser Welt nicht aufhalten. Das ist die traurige Wahrheit. Es liegt an uns, wie wir damit umgehen und ob wir Schatten dadurch in unser Herz lassen.«
Sie betrachtete dabei erneut den Sternenhimmel, so als würde sie nach einer Antwort darin suchen.
»Diese Welt ist verdorben. Vielleicht wäre es an der Zeit, sie einfach gewähren und untergehen zu lassen.«
Er betrachtete die junge Frau erneut und registrierte im Schein des Lagerfeuers plötzlich ihre makellose Schönheit.
Sie bemerkte dies und schenkte dem Priester ein kurzes, aber dankbares Lächeln. Als der Priester am nächsten Morgen etwas unsanft mit dem Stiefel des Marshalls geweckt wurde, bemerkte er, dass sich die junge Frau in der Nacht zu ihm gelegt hatte.
»Na, war es etwa kalt in der Nacht? Los, packt zusammen, wir reiten weiter.«, sagte der Marshall dabei mürrisch.
Als sie wach wurde, sah sie den Priester verschlafen an und bemerkte den Speichelfleck von ihr auf seinem Hemd.
»Tut mir leid, ich...«
Doch bevor sie sich entschuldigen konnte, unterbrach sie der Priester.
»Muss es nicht.«
Die Drei packten ihre Sachen zusammen und der Priester überreichte ihr einen seiner zwei Colts sowie ein Messer.
»Damit du sicher bist.«
Völlig fassungslos stellte sich der Marshall zwischen sie.
»Bei allen guten Geistern! Sind Sie sicher, Mister Pope?«
»Wenn es gefährlich wird, ist sie unbewaffnet nur eine Last, bewaffnet jedoch eine wertvolle Gefährtin.«
Die drei kamen an eine Stelle, an der sich ein dunkler Wald bedrohlich weit vor ihnen ausbreitete. Die Pferde schreckten auf und fingen heftig an zu wiehern.
Der Priester versuchte, sein Pferd zu beruhigen. »Ruhig mein Freund, was ist plötzlich los mit dir?«
Die Frau stieg vom Pferd ab und streichelte sanft den Kopf des Tieres. »Es ist dieser Ort, besser gesagt, dieser Wald. Tiere können das Böse sehr gut wahrnehmen. Es scheint, dass wir auf der richtigen Fährte sind. Wir müssen hier hindurch, um zu der schwarzen Mine zu gelangen, in der sich die Lamia aufhält.«
Der Marshall versuchte, die Kontrolle über sein Pferd wieder zu erlangen und dabei nicht abgeworfen zu werden. Als sich sein Pferd einigermaßen zu beruhigen schien, stieg der Marshall ab und band das Zaumzeug mit einem Seil an einer Eiche fest, die vor dem dichten Wald stand.
»Gut, dann gehen wir eben ohne die Pferde in den Wald. Der Wald scheint sowieso für die Tiere viel zu dicht bewachsen zu sein.«
Er betrachtete den Wald und zum ersten Mal, schien er so etwas wie Angst zu verspüren.
»Das ist der Galgenwald, richtig?«
»Ja, so wird er von Einigen genannt, obwohl es mehrere Namen für ihn gibt.«, bestätigte sie ihm.
Der Marshall sah den Priester besorgt an.
»Ich hoffe, dein Gott ist immer noch auf deiner Seite. Es heißt, wenn man den Wald betritt, kommt man nie wieder aus ihm heraus. Er verschluckt einen regelrecht wie ein Raubtier.«
Sie marschierten durch den kniehohen Nebel, der sich im dunklen Wald wie ein Teppich ausbreitete und bei jedem Schritt unter ihnen knirschte etwas, das sie aber nicht erkennen konnten.
Der Vollmond leuchtete den Wald in einem unheimlichen, bläulich schimmernden Licht aus. In der Dunkelheit waren keine Tiere zu hören, nicht einmal der Wind gab ein Geräusch von sich. Alles in diesem Wald war totenstill - bis auf das unheilvolle Knirschen unter ihnen.
Die Frau blieb plötzlich stehen und zeigte auf eine Stelle, bei der unzählige Stricke von den Bäumen herabhingen. Der Nebel verzog sich dort langsam und es wurde ein Meer aus Knochen und menschlichen Schädeln sichtbar, die den gesamten Waldboden zu bedecken schienen.
Mit Entsetzen betrachteten die drei das verstörende Bild, das sich vor ihnen bot. Sie griff sich plötzlich einen der Stricke und schnitt ihn durch, betrachtete diesen und hängte ihn sich lächelnd um ihren Hals.
»Na, tapferer Marshall, so wolltest du mich doch immer sehen, oder? Steht mir ausgezeichnet, findest du nicht?«
Der Marshall sah den Priester mit einem ungläubigen Blick an.
»Versteht Ihr keinen Galgenhumor, oder was?«, fragte sie und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter voraus.
Dabei wirbelte sie den Strick um ihren Hals, als wäre es ein in Mode gekommener Schal. Die drei kamen durch einen langen Fußmarsch immer tiefer in den unheimlichen Wald hinein. Sie war ihnen dabei immer ein paar Schritte voraus, doch plötzlich blieb sie abrupt stehen. Der Marshall und der Priester blieben ebenfalls stehen und zogen ihre Revolver.
»Interessant. Seht ihr das auch?«
Sie deutete dabei auf eine Leiche, die halb vergraben ein paar Meter entfernt aus dem Waldboden herausragte. Die Leiche stützte ihren Torso dabei an einem Baum. Moos und Blätter zierten den stark verwesten Körper, wodurch er nur noch sehr schwer als solcher zu erkennen war.
Der Marschall blickte in ihre Richtung.
»Was, eine Leiche? Ja, das haben wir wohl alle schon mal gesehen, wenn auch nicht in so einem gottlosen Zustand.«
»Möge der Herr seiner armen Seele gnädig sein.«, bedauerte der Priester. Die junge Frau drehte sich zu den beiden um und schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, ich meine, ob ihr schon mal gesehen habt, dass sich eine Leiche bewegt.«
»Bewegt? Wie meinst du das.«
Sie deutete nochmals auf den verwesten Leichnam.
»Los, geh hin und überzeuge dich selbst.«
Der Marshall warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. »Was ist das wieder für eine kranke Ausgeburt deines Geistes, Weib?«
Der Priester bewegte sich vorsichtig auf die Leiche zu. Als er ihr näherkam, warf er einen prüfenden Blick auf sie. Aber er konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Mit seinem Colt bewegte er den Kopf des Toten langsam und vorsichtig zur Seite.
Als nach wenigen Momenten, wie vom Priester angenommen, keine Reaktion vom leblosen Körper kam, atmete er etwas erleichtert auf und drehte sich nach hinten zu den beiden Anderen um.
»Da ist nichts. Sag mir bitte ehrlich, weißt du überhaupt, wo sich die Lamia aufhält? Oder war das nur loses Gerede, um aus dem Gefängnis rauszukommen?«
Plötzlich drehte sich der Kopf des verwesten Leichnams leicht zur Seite in Richtung des Priesters. Mit einer tiefen, hohlen Stimme drang ein Stöhnen, gefolgt von einem deutlich wahrnehmbaren Ausruf aus dem verwesten Schädel.
»Laaamiaaa.« Der Priester erschrak dermaßen, dass er rücklings auf den Waldboden fiel. »Was zur Hölle...« Während der Leichnam sprach, fielen Insekten, wie Maden, Käfer, Spinnen und andere kleine Kriechtiere aus dessen Mund. Der Kiefer knackte dabei in einem unheimlichen Ton. »Weeerr suuucht dieee Laaamiaaa?«
»Wir, wir suchen die Lamia. Was zur Hölle bist du?«, fragte der Priester.
Die Leiche starrte den Priester mit einem festen und eisigen Blick an. Die Augen sind schneeweiß und trübe. »Niiicht wasss, sondernnn weeer. Ichhh binnn...«
Seine Stimme wurde immer undeutlicher. Die Wörter verschwammen unter dem lauten kratzartigen Geräusch, das aus seiner Kehle hervordrang. Der Kopf des Untoten fiel ruckartig nach vorne. Plötzlich huschte eine Ratte aus dem Kiefer hervor und grub sich hektisch ihren Weg aus dem Hals der Leiche in die Freiheit. Sie krabbelte dabei über den verfaulten, moosartigen Oberkörper hinab. Bis die Leiche mit ihrer knochigen Hand die Ratte mit einem lauten Knirschen zerquetschte. »...Salem.« Der Priester und der Marshall standen beide angespannt mit ihren Revolvern im Anschlag da. Ein Gefühl von Angst und Hilflosigkeit durchfloss ihre Körper wie ein stechender Schmerz. Der Leichnam, der sich selbst Salem nannte, bewegte seinen Kopf wieder nach hinten und richtete seinen Blick zurück auf den Priester. »Warum sucht ihr die Hexe? Sie wird euch nur den Tod bringen.«
Der Untote schien kurz zu überlegen.
»Oder etwas Schlimmeres.« Eine Spinne krabbelte aus dem verfaulten Ohr Salems und huschte in die Nasenhöhle. Noch etwas verängstigt beobachtete der Priester diese makabre Szenerie und steckte seinen Colt wieder zurück in den Halfter. Der Marshall musste sich auf den Waldboden setzen, da seine Beine zu stark zu zittern begonnen hatten. Kreidebleich im Gesicht versuchte, er eine vernünftige Erklärung für dieses verrückte Geschehen zu finden.
»Kannst du uns sagen, wo sich diese Hexe befindet?«
Regungslos antwortete Salem dem Priester.
»Nicht weit von hier. Seid ihr etwa gekommen, um sie zu vernichten?«
»Ja, das ist das Ziel unserer gemeinsamen Reise.«
»Gut, dann werde ich euch behilflich sein. Ich kann meinen Frieden nur finden, wenn die Hexe tot ist. Sie hat mich verflucht, ewig zu leben und mich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Erst wenn sie vernichtet ist, wird ihr Fluch gebrochen und alles nimmt wieder seinen natürlichen Gang.«
»Dann verrate uns, wo wir sie finden.«
»In der schwarzen Mine, weiter westlich durch diesen Wald hindurch.«
»Was habe ich euch gesagt?«, rief die junge Frau und tänzelte mit dem Strick um den Hals. »Dort hat sie ihr Nest errichtet, aber hütet euch! Es ist ein gefährlicher Weg durch den Wald. Sie hat ihn verflucht und alle Lebewesen mit ihnen. Die Vögel sind ihre Augen und die Bäume ihre Ohren. Sie fühlt jeden Schritt, den ihr auf diesen Waldboden setzt. Die Lamia wird euch töten, noch bevor ihr die schwarze Mine erreicht habt.«
Der Marshall stand schwerfällig auf, so als würde ihn der Boden festhalten wollen und wischte sich die Blätter von seiner Hose.
»Gut, lasst uns weitergehen und keine Zeit mehr verlieren. Wenn die Lamia gewarnt ist, sollten wir schnell handeln. Danke für deine Hilfe, Salem. Noch vor Sonnenaufgang wirst du erlöst sein.«
Die junge Frau zog ihr langes Messer aus dem Gürtel, den ihr der Priester überreicht hatte. »Ach, die Erlösung kann ich ihm auch bringen. Keiner hat jemals eine Enthauptung überlebt.« Sie holte aus und schnitt ohne weitere Vorwarnung der sprechenden Leiche den Kopf ab, der anschließend von ihrem verwesten Körper herunterrollte. »Bist du verrückt, was soll das?«, brüllte der Marschall sie an.
»Verrückt? Ich dachte, über diesen Moment sind wir schon hinaus?«
Der Kopf Salems lag jetzt abgetrennt am Waldboden vor dem Marshall.
»Kann es wirklich noch schlimmer kommen?«, stöhnte Salem.
Die Gefangene hob Salems Kopf auf und betrachtete diesen etwas traurig und verwundert darüber, dass er noch immer lebte.
»Oh, tut mir leid. Wollte dir eigentlich nur helfen.« Sie packte den verwesten Kopf in die Schlinge um ihren Hals und zog den Strick fester zusammen. Jetzt hing der Kopf Salems zwischen ihren Brüsten wie ein Anhänger an einer Kette herunter.
»Perfekt, oder?«
»Du kannst doch nicht einfach einen Kopf mit dir herumtragen.«, wendete der Priester ein.«
»Es ist doch nicht irgendein Kopf, sondern der unseres Freundes hier. Willst du ihn einfach rücksichtslos hier liegen lassen, währenddessen sich die Tiere über ihn hermachen?« Der Marschall packte den Strick und schnitt ihn ihr vom Hals.
»Immer noch besser, als wenn er deine Gesellschaft ertragen muss.«
»Ach, wir hätten doch so gute Freunde werden können.«, erwiderte sie.
Der Marschall band den Strick mit dem Kopf Salems an einem Ast fest.
»So kommen die Tiere wenigstens nicht an dich ran.«
Als die Gruppe den Wald verließ, erreichten sie eine endlose Einöde, die an einer Küste endete.
Vor diesem schier endlosen Meer ragte ein verfallenes Industriegelände wie eine verrostete Krone aus dem Erdboden hervor.
Wracks von Autos standen verstreut vor dem Eingang herum. Verlassene Gebäude und rostige Stahlträger bäumten sich aus dem moosbewachsenen Boden hervor als die drei das Gelände betraten. Der Priester sah sich erstaunt um, so weit war er noch nie auf seinen Reisen gekommen, um Relikte aus der Alten Welt betrachten zu können. Er kratzte sich erneut an seinem rechten Arm, während er erstaunt die Bauwerke betrachtete, die er nur aus Geschichten kannte. »Wir müssen hier vorsichtig sein, wir betreten Überreste aus der alten Welt. Man spricht mit vorgehaltener Hand, dass Anhänger vom mechanischen Volk hier heimisch sein sollen.«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Ich dachte, die gehören einer Legende an?«, erwiderte der Marshall. Sie sah sich vorsichtig um und bemerkt dabei, dass kleine Gestalten mit weißer bis gräulicher Haut sie aus den Trümmern heraus beobachteten.
»Genauso wie Hexen und dennoch weilen sie, seit das nukleare Feuer vom Himmel kam und alles dabei verschlang, unter uns.«
Nun bemerkten auch der Priester und der Marschall, dass sie beobachtet wurden. »Beachtet sie nicht, Augenkontakt provoziert sie nur. Man nennt diese Kleinwüchsigen Aschenkinder. Sie scheinen sich vor irgendetwas zu fürchten, aber wir sind bestimmt nicht der Grund dafür.«
Als sie die letzten Überreste der Industriestadt überquert hatten, blieben sie plötzlich wie erstarrt stehen. Vor ihnen befand sich ein riesiges Monstrum. Es sah irgendwie menschlich aus, war aber mindestens drei Meter hoch, wenn nicht noch größer. Es hatte eine kreidebleiche Haut und der Körper war von schwarzem Leder umwickelt. An seinen Armen waren Dampf und zahnradgetriebene Mechanik sichtbar. Sein Kopf war durch einen goldenen Helm in Form eines Totenkopfes vollständig bedeckt.
Sein Atmen klang künstlich und metallisch.
Als es die drei erblickte, fing es an, tiefer zu atmen und bewegte sich bedrohlich schnell auf sie zu.
»Halt!« Plötzlich stoppte eine Stimme dieses Ungetüm. Das Monstrum blieb mitten in der Bewegung stehen, so als hätten die Worte des Unbekannten es ausgeschaltet. Ein Mann mittleren Alters kam dabei hinter einem Gebäude hervor. Er trug einen gut gebügelten Anzug und eine mit goldenen Blättern verzierte Weste. Ebenfalls einen Zylinder, um den eine Schutzbrille gespannt war. Es waren auch Verzierungen mit Spielkarten und bunten Federn daran zu erkennen.
»Da soll doch mein Aufziehherz stehen bleiben.« Er musterte die drei sorgfältig. »Was machen Herrschaften aus dem wilden Westen hier in unserem Viktoria? Eure Epoche liegt doch weit hinter den Hügeln?«
»Wir kommen nicht mit bösen Absichten und sind nur auf der Durchreise.«, erklärte ihm der Priester.
»Durchreise? Ihr seid gerade dem Uhrenmacher in die Hände gelaufen und das wäre wohl oder übel nicht besonders gut für euch ausgegangen.«
Der Marschall betrachtete das Ungetüm, das immer noch mitten in der Bewegung verharrte.
»Der Uhrenmacher?«
»Ah, euch irritiert sicherlich der Name, nicht wahr? Mein Freund hier wird der Uhrenmacher genannt, weil er für jedes Leben, das er nimmt, eine Uhr macht. Die Zeit, die er also den Menschen stiehlt, läuft auf einer neuen Uhr weiter. So hält er das Gleichgewicht des Todes aufrecht.«
Der Fremde lächelte, wobei seine Goldzähne in der Sonne aufblitzten. Er verbeugte sich vor den dreien.
»Bitte entschuldigt meine Unhöflichkeit. Wo sind nur meine Manieren geblieben? Mein werter Name lautet Jules Verne und ich bin der Bürgermeister dieses wunderbaren Ortes.«
Die Frau stieß den Priester mit ihrem Ellenbogen leicht an und deutete mit ihren Augen auf die Ruinen.
»Wunderbarer Ort, « sagte er...
Jules Verne kam auf sie zu und kniff ihr in die Wange.
»Oh, meine holde Dame, lasst euch nicht vom Verfall täuschen. Es ist einer der wenigen Orte, die noch von der alten Welt stammen.«
Dann verschwand sein freundliches Lächeln.
»Nicht wie euer Nachgebautes aus den Büchern. Ihr und alle anderen Epochen seid nur Heuchler. Ihr imitiert nur das vergangene Leben. Wir hingegen verehren das einzig Wahre. Das, was von ihnen selbst erbaut wurde.«
»Wir respektieren eure Ansichten, doch wir sind nicht hier, um diese zu untergraben oder euch zu beleidigen.«, meinte der Priester.
»Doch wir müssen unseren Weg durch euer Viktoria bestreiten, damit wir das Böse, das unsere Epoche heimgesucht hat, vernichten können.«
Die Worte des Priesters schienen dem Bürgermeister zu gefallen und er setzte wieder ein Lächeln auf.
»Das Böse sucht sich immer einen Weg in das Unterbewusstsein und findet Dinge, die so schrecklich sind, dass wir ihnen nicht einmal einen Namen dafür geben können. Wir erlauben es uns, ihnen gegenüberzutreten. Doch nur wenige sind in der Lage, dem Bösen geradewegs in die Augen zu blicken. Und noch wenigere erkennen, dass am Ende wir doch selbst das einzig Böse auf dieser Welt sein können.«
»Dürfen wir nun passieren und unseren beschwerlichen Weg fortführen?«
»Natürlich dürft ihr, habt ihr es doch selbst in der Hand, diese Reise fortzuführen. Dieses und das nächste und sogar das darauffolgende Mal. Doch, was ihr auch tut, bleibt immer westlich eures Weges.«
Der Bürgermeister deutete mit seiner Hand gegen Osten.
»Denn hier kommt ihr am schiefen Turm vorbei, wo der schiefe Mann lebt. Und glaubt mir, dem wollt ihr sicherlich nicht begegnen. Er würde sich nur in euren Köpfen einnisten und euch auf schiefe Gedanken bringen.«
Nachdem sie die Industriestadt verlassen hatten und dem schiefen Turm, wie empfohlen, aus dem Weg gegangen waren, erreichten sie eine Küste. Endlich waren sie am Ende ihrer langen Reise angekommen, denn in einer Felsformation direkt am Meer war schon von weitem deutlich eine Mine erkennbar. Sie war in schwarzen Stein gehauen. Die drei betraten sie.
Jeder Schritt in der Mine knirschte unter ihren Füßen. Der Boden bestand aus menschlichen Schädeln, teilweise verwest. Es stank bestialisch nach verfaultem Fleisch und nach etwas Undefinierbarem. Der Priester wollte gar nicht erfahren, um was es sich bei diesem Gestank so alles handeln konnte.
»Wo versteckst du dich, du Ausgeburt der Hölle?«, rief der Priester in die Dunkelheit der Mine hinein.
Nichts. Kein Geräusch, außer dem Echo seiner Stimme, die noch eine gefühlte Ewigkeit in der Dunkelheit nachhallte.
Plötzlich kam seine Stimme rasend schnell wieder zum Priester zurück.
Sie wurde immer lauter. Viel lauter, als er hineingerufen hatte.
Doch nicht der ganze Satz kam aus der Finsternis zurück.
»Ausgeburt« und »Hölle« diese Worte drangen zu ihm durch.
Der Priester bemerkte den Schauer, der über seinen Rücken lief. Und nachdem sein gesprochenes Wort »Wo?« zurückgehallte, herrschte eisige Stille.
Plötzlich ragten verweste Hände aus dem Boden empor und packten die Füße der drei Gefährten. Der Marschall wurde in den Boden gezogen, wobei sich seine Haut abzog und er vor Schmerzen entsetzlich aufschrie.
Der Priester versuchte, ihm etwas zuzurufen. Es drang jedoch kein einziges Wort aus seinem Mund. So als wäre er tief unter Wasser gezogen worden.
Die Hände, die sich an die Beine der Frau gekrallt hatten, ließen sie plötzlich los.
»Hier ist sie. Sie ist gerade heimgekehrt.«, sagte sie.
Als der Priester sich zu ihr umdrehte, bemerkte er, wie die junge Frau sich vor seinen Augen in ein kleines Mädchen verwandelte.
»Das kann nicht wahr sein.«
Sie ging auf ihn zu, während die toten Hände den Priester in die Knie zwangen.
»Du wolltest doch meinen Namen erfahren?«, flüsterte ihm nun das kleine Mädchen ins Ohr.
»Nun lass dir gesagt sein, dass du ihn bereits kennst.«
»Was geht hier vor sich?«
»Los, erinnere dich, wie lautet mein Name?«
Er sah sie verwundert an.
»Was redest du da, du Ausgeburt der Hölle?«
»Denk doch mal genau nach und sieh mir dabei in die Augen.«
Sie packte seinen Kopf und blickte ihm tief in sein Innerstes.
»Woher kennst du mich, Priester?«
Er versuchte sich zu erinnern, und plötzlich, wie ein Stich im Herzen, erkannte er sie wieder. »Nein, das kann nicht sein...«
Der Priester befand sich nun wieder am Hügel seiner Kirche, nachdem die Moorhexen seinen Gottesdienst in ein Blutbad verwandelt hatte.
Er blickte auf das Gesicht des toten Mädchens, das er schützend in seinen Armen hielt, als wollte er sie noch retten, obwohl es dafür bereits viel zu spät gewesen war.
Das kleine Kind, nicht älter als drei Jahre, riss ihre Augen auf und starrte dem Priester, während sie behutsam sein Gesicht streichelte, tief in seine Augen.
»Wie lautet nun mein Name?« Der Priester zögerte und haderte mit sich, ihn auszusprechen.
»Das kann nicht wahr sein.«
»Sag meinen Namen!«, brüllte sie ihn plötzlich an.
»Sarah.«, flüsterte er schließlich.
»Und, wer bin ich? Wer ist Sarah?«
Der Priester fing, während er sich daran erinnerte, zu weinen an.
»Meine Tochter.«
Das kleine Mädchen lächelte.
»Und, wo sind wir, Papa?« Er blickte sich um.
»Wir sind vor meiner Kirche, nachdem die Hexen alle getötet hatte.«
Ihr Lächeln verschwand und sie sieht ihn mit großen, traurigen Augen an.
»Papa, sieh genau hin. Wo sind wir wirklich?«
Er sah sich noch einmal um, wobei seine Augen irritiert umherwanderten. Bis sie plötzlich innehielte und starr wurden.
»Zuhause...« Die Augen des Priesters wurden leblos und er befand sich am Boden seiner vollkommen verwahrlosten Wohnung wieder. Zeitschriften vom Wilden Westen und Fantasie-Romane lagen verstreut um ihn herum.
Eine Spritze mit einer Überdosis Heroin steckte noch in seinem rechten Arm.
Seine kleine Tochter kauerte ausgehungert am Boden und zog immer wieder verzweifelt an ihrem rosaroten T-Shirt, auf dem ein Mädchen mit einem fliegenden Besen und die Aufschrift „Papas kleine Hexe“ aufgedruckt war. Und mit letzter Kraft flüsterte sie immer und immer wieder mühevoll diesen einen Satz.
»Hilf mir bitte, ich habe solchen Durst.«
Bis das Flüstern des Mädchens schließlich endgültig verstummte.
Ende