- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
A forest
Loki, ein Gott aus dem Geschlecht der Asen, und die Riesin Angrboda zeugten drei Nachkömmlinge. Da war Hel, die Herrscherin des Totenreiches, und da war Jörmungand, die Midgardschlange. Der Erstgeborene aber war Fenrir, der Götterwolf, der dazu bestimmt ist, ein Zeitalter der Axt, des Schwertes, des Windes und schließlich des Wolfes einzuleiten, das die Welt in eine letzte große Schlacht führen wird, die man Ragnarök, das Weltenende, nennt.
Die Nornen weissagten Odin, daß Fenrir in jenen blutigen Tagen sein Schicksal sein werde.
Furcht befiel die Götter vor diesem Geschöpf, und sie lockten den Fenrirwolf mit List und Tücke in eine Falle. Sie fesselten ihn mit einem magischen Band an einen Felsen inmitten einer schlammigen Flußmündung im Quellenwald. Seitdem hört man von Zeit zu Zeit das einsame und klagende Heulen des Fenrirwolfes. Versunken in Qual und Agonie harrt er seiner Befreiung, durchdrungen von einem unbändigen Haß auf die Götter und die Menschen, die ihn verrieten und verließen.
Nie wurde bekannt, daß der Fenrirwolf mit einer Menschenfrau Nachkömmlinge zeugte. Wesen, die halb Wolf und halb Mensch waren und beide Gestalten annehmen konnten. Sie vermehrten sich in vielen Generation über die Erde hinweg, wurden gejagt und gehaßt wie ihr Schöpfer. Schließlich verbargen sie sich an einsamen Orten und wurden fortan nur selten noch gesehen.
Die Zeit der Menschen hatte begonnen. Am Ende aber wird der Wolf sein, und mit ihm Ragnarök.
Die Stadt war ein gleißendes Spektakel gewesen, ein lichtdurchfluteter Moloch voll verstörender Laute. Brandon hatte es nicht gewagt, die Häuserschluchten zu durchqueren. So viele Menschen, so viel Gefahr, die von ihnen ausging.
Das widerwärtige Konglomerat aus Gerüchen hatte seinen ausgeprägten Geruchssinn beleidigt, und noch weit entfernt von ihrem Ursprung klebten diese Ausdünstungen wie zäher Schleim in seiner Nase. Auf einer abgelegenen Wiese hatte Brandon ein Kaninchen gerissen und seine Schnauze tief in den blutigen Kadaver gedrückt, um sich dieses Gestankes zu entledigen.
Jetzt trabte er die nächtliche Straße in dem verschlafenen Vorort entlang, immer darauf bedacht, bei jedem noch so geringen Anzeichen menschlicher Anwesenheit in den Hecken längs der Straße Schutz zu suchen. Er war geübt darin, sich zu verbergen, und das Zwielicht der verschmutzten Laternen war ihm ein willkommener Begleiter.
Die rauhe Zunge hing ihm über die Lefzen, zarte weiße Flocken klebten im Fell seiner mächtigen Brust, die Ballen der Pfoten waren aufgescheuert, aber er nahm die Anstrengung und den Schmerz kaum wahr. Die Sehnsucht trieb ihn an – sie und dieses Lied.
Vor wenigen Minuten erst war Brandon in einer finsteren Straße an einem der verrotteten Schuppen vorbeigekommen, die er in seinem anderen Dasein selbst so häufig aufzusuchen pflegte. Das schummrige Licht aus dem Inneren hatte die lieblos auf die Fensterscheiben geschmierten Anarchiesymbole in gedehnter Vergrößerung als Schatten auf den Asphalt geworfen.
Die dunklen Gestalten im Uncle Sid schienen ihm merkwürdig vertraut, obwohl er noch nie dort gewesen war. Gerne hätte er sich zu ihnen gesellt, aber sein gegenwärtiges Ich erlaubte ihm lediglich ein kurzes Verharren vor dem verlockenden Eingang.
Ein längst vergessenes Lied aus frühen Jahren war an Brandons Ohren gedrungen. Sein Fell hatte sich gesträubt, und während der hypnotische Bass unbeschwerte Erinnerungen in ihm weckte, hatte er verzweifelt ein Heulen unterdrückt.
Das Lied, das er einst so geliebt hatte, war nichts weiter gewesen als ein Omen, das Vorzeichen einer jahrelangen Jagd nach der Erfüllung seines Traumes.
Come closer and see
See into the trees
Find the girl
While you can
Come closer and see
See into the dark
Just follow your eyes
Just follow your eyes
Wie ein nächtlicher Wald erschien ihm die Welt, ein Wald, vor dem er auf und ab schritt, sehnsüchtig zwischen die Bäume spähend und doch nur ein undurchdringliches Schwarz erkennend.
Die Zeit lief ihm davon. Seine Suche mußte ein Ende nehmen, bevor er sein Ende nahm. Zu viele Irrtümer schon, zu viel Leid. Das Töten war nicht seine Berufung.
Brandon mußte das Weibchen finden, welches die Menschen für ihresgleichen hielten und die doch so ganz anders als diese war. Sie war wie er, ein Geschöpf der Nacht, verdammt zu einem Leben in der Dunkelheit. Beileibe nicht die einzige ihrer Art. Es gab so viele, aber nur sie war seine Bestimmung.
Ungezählte Male hatte er von ihr geträumt, von der Anmut ihrer unterwürfigen Paarungsbereitschaft, wie sie sich auf dem Rücken wälzte und nach seinem Samen gierte, belfernd und knurrend und geifernd...
Sie war die Arche des Fenrir. Sie und er waren auserkoren, ihn zeugen; ihn, den Alpha-Wolf, das Leittier, das eine neue Rasse begründen und zum Sieg über die Menschen führen würde.
Kurz vor dem Ende der Straße stoppte Brandon hechelnd seinen Lauf vor einem Gartentor. Die malträtierten Ballen seiner Pfoten brannten wie in eine Salzlösung getaucht. Er legte den Kopf in den Nacken und sog prüfend die Luft ein. Sein Instinkt hatte ihn geleitet – sein Instinkt und der Geruch. So herb und doch so süß. Er witterte sie. Brandon war an seinem Ziel angelangt.
Er richtete sich auf, legte die Vorderpfoten auf das von Hecken eingesäumte Holztor und spähte hinüber. Ein kleines Wiesengrundstück trennte ihn noch von der Haustür des zweistöckigen Gebäudes.
Mit einem spielerisch anmutenden Satz überwand der Brandonwolf das hölzerne Hindernis. Angenehm lindernd empfand er die kühlende Feuchte des Rasens unter seinen Pfoten.
Behutsam tat er einen Schritt nach dem anderen, verlagerte das Gewicht auf zitternden Muskeln, die Sehnen vor Anspannung bis zum Zerreißen gespannt. Das Blut rauschte durch seinen Körper, begleitet vom dröhnenden Rhythmus seines Herzens, der ihn wie der dumpfe Trommelschlag einer Sklavengaleere unaufhaltsam vorantrieb, so erschöpft er auch sein mochte.
Brandon erreichte die Tür. Im Schatten des Eingangs konnte er kaum die vergilbte Klingelaufschrift entziffern: Patricia Kensington.
Er senkte den Kopf und schnupperte an dem unteren Türspalt. Sie war eine seiner Art, daran gab es keinen Zweifel. Es roch nach Tier, und doch aber auch nach Mensch. Ein leises Winseln entrang sich seiner Brust. Nichts rührte sich. Sie mußte ihn doch ebenso spüren...
Eine gewaltige Pfote drückte auf den Klingelknopf. Die melodische Tonfolge war kaum erklungen, als im Inneren ein gedämpftes Bellen ertönte.
Brandon duckte sich unwillkürlich. Er war irritiert.
„Ich komme schon, Schatz“, hörte er eine Stimme rufen.
Unwillkürlich urinierte der Brandonwolf; er markierte sein Revier.
War das ihre Stimme?
I hear her voice
Calling my name
The sound is deep
In the dark
I hear her voice
And start to run
Into the trees
Into the trees
Schritte näherten sich der Tür, dann schwang sie auf und Patricia stand vor ihm.
„Schatz?“
Die junge Frau sah über ihn hinweg. Brandon schloß für einen Sekundenbruchteil die Augen. Das waren nicht die Laute aus seinen Visionen. In seinen Träumen hatte er mit ihr zusammen den Mond angeheult, der Klang aus ihren Kehlen vollendet harmonisiert. Die Laute ihres Menschseins verwirrten ihn dagegen zutiefst. Sie hatte die Metamorphose noch nicht vollzogen... das war es... sie würde bestimmt...
Brandon riß die Augen wieder auf und sah nach oben. Patricia nahm ihn nicht wahr. Ihr glasiger Blick war ausdruckslos wie der einer Porzellanpuppe. Sie starrte einfach nur geradeaus ins Leere.
Brandon witterte die aufkeimende Unsicherheit, die schleichende Angst der jungen Frau. Und er verstand.
Sie roch zu sehr nach Mensch. Sie war kein Zwitterwesen, wie sie es hätte sein müssen. Und sie hatte einen weiteren Makel. Ein genetischer Defekt. Sie war blind.
Unbrauchbarer Boden für seine Saat. Sein Instinkt hatte ihn erneut getrogen.
Die peinigende Erkenntnis zwang ihm ein Knurren ab. Es wurde erwidert. An den Beinen der Frau vorbei konnte der Brandonwolf das Tier erkennen, welches ihm das Ziel seiner Suche suggeriert hatte. Ein Schäferhund näherte sich mit gefletschten Zähnen der Tür.
Ehe noch Patricia die Tür zuwerfen konnte, warf er sich schon vorwärts, stieß die Frau auf den Boden des Flures, wirbelte herum und schlug mit den Vorderläufen die Tür zu.
Im gleichen Moment sprang auch schon der Hund auf den massigen Körper des Brandonwolfes. Knurrend und fauchend prallten sie beide gegen die Tür.
Patricia raffte sich auf, streckte ihre Hände zur Orientierung aus und hetzte schreiend die Treppe hinauf.
Die in Raserei verfallenen Tiere rollten ineinander verbissen durch den Flur. Blutige Fellbüschel bedeckten den Teppich. Aber es war ein ungleicher Kampf. Der wesentlich größere Brandonwolf biß dem Hund die Kehle durch.
Im ersten Stock wurde eine Tür zugeschlagen. Brandon jagte die Stufen hinauf und fand sich in einem engen Flur wieder, von dem drei Zimmer abgingen, deren Türen allesamt geschlossen waren.
Er wußte, hinter welcher Tür Patricia war. Ihr Angstschweiß verriet sie, und der widerwärtige Geruch stachelte Brandons Zorn und seinen Selbsthaß nur noch mehr an. Er würde sie töten, sein eigenes Unvermögen an ihrem Leib strafen. Scheinbar war es doch seine Berufung, den Tod zu bringen.
Der Brandonwolf hockte sich vor die Tür, hinter der das panische Häuflein Mensch sich versteckt hielt. Vibrierendes Holz war Zeichen genug, daß sie mit dem Rücken an der Türe lehnte.
Raubtieraugen fixierten den Türgriff. Seine Pfote drückte die Klinke hinunter. Ein lautes Aufschluchzen aus dem Raum, dann spürte Brandon Widerstand. Patricia drückte auf ihrer Seite die Klinke wieder nach oben.
Er ließ von der Klinke ab. Der Geruch der Frau war jetzt so stechend, daß er um ihren Zustand wußte: sie stand kurz vor einem Zusammenbruch. Sein grollendes Knurren gab ihrem Schrecken weitere Nahrung, und sie wimmerte wie eines der kleinen Menschenkinder, die Brandon auf ganz eigenartige Weise faszinierten.
Es wurde Zeit. Patricia erwartete noch jemanden. Der Brandonwolf richtete sich auf seinen Hinterläufen auf, stützte die Vorderpfoten auf die Klinke, ließ sich fallen und drückte gleichzeitig gegen das Holz.
Ein überraschter Laut, als die Tür einen Spalt breit aufschwang. Dann kreischte Patricia, daß es in seinen empfindsamen Ohren schmerzte. Ihre Finger legten sich um das Türblatt, etwas anderes, das wohl ihr Kopf war, schlug hektisch von innen gegen das Holz, aber sie war einfach zu schwach.
Brandon schob seinen Kopf durch die entstandene Lücke, zwängte seine Schultern nach und schob Patricia mitsamt der Tür immer weiter zur Seite. Das Gegengewicht verschwand, die Tür flog auf und krachte gegen die Wand.
Die blinde Frau robbte rückwärts durch das dunkle Schlafzimmer, trat immer wieder in die Luft, um den Angreifer, den sie nicht orten konnte, auf Distanz zu halten. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck wirkte wie eine zerlaufene Wachsmaske, nur ihr Blick war unverändert starr. Sie hatte in ihrer Panik die Orientierung verloren und prallte gegen einen Bettpfosten.
Brandon sprang auf sie zu und drückte sie mit einer Pfote rücklings auf den Boden. Die Frau krallte ihre Finger in sein Fell und ließ es so hastig wieder fahren, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Stocksteif lag sie plötzlich da, stammelte unverständliche Silben und hechelte wie unter Geburtsschmerzen.
Brandons Nüstern blähten sich auf, er atmete den Geruch des nahen Todes ein, einen Geruch, den er haßte, und der ihm doch so vertraut war. Er beugte seinen Kopf zu ihr hinunter, seine feuchte Nase berührte beinahe die ihrige. Ihre Augen waren so...
Brandon zuckte zurück. Dann schnappte er nach ihrer Kehle. Reißzähne berührten die Poren ihrer Haut, er schmeckte das Salz ihres Schweißes, und unter seiner Zunge spürte er den Kehlkopf der Menschenfrau vibrieren.
Ein kurzer Biß nur, und es war vorbei. Darin unterschieden sie sich alle nicht, waren sie nun Mensch oder ein Zwitterwesen wie er. Beim Sterben waren sie alle gleich.
Seine Kiefermuskeln spannten sich, ein Zahn ritzte die Haut, Blut tropfte aus der Wunde.
Die Atmung der Frau wurde immer flacher, sie gab nur noch das summende Hmmm einer Geknebelten von sich. Ein einziger Biß. Nichts weiter als eine Strafe für die Verlockung, die sie zu sein schien und es aber doch nicht war. Nur ein Biß. Es war ganz einfach, eine unbedeutende Anstrengung für ihn.
Brandon ließ von ihr ab, schüttelte seinen massigen Kopf und beugte sich dann erneut über ihr Gesicht. Geifer tropfte auf ihren Mundwinkel hinunter, aber Patricia zuckte nicht einmal.
Ihre weit aufgerissenen Augen starrten gegen die Decke, auch wenn sie dort gar nichts sehen konnten. Brandon fixierte ihre Pupillen. Sie war blind. So blind wie er. Beide waren sie Geschöpfe der Nacht, jedes auf seine Weise.
Er konnte ihr nichts tun. Sein Töten mußte ein Ende nehmen. Das Leben war seine Berufung, nicht der Tod.
Ein leises Jaulen hinterließ er Patricia als letzten Gruß, bevor er aus dem Haus floh. Er rannte einfach los, über Gehsteige und einsame Straßen, immer weiter voran, bis er schließlich das kleine Wäldchen erreichte, in dem er die Kleidung verborgen hatte, die er für sein anderes Leben so dringend benötigte.
Suddenly I stop
But I know it's too late
I'm lost in a forest
All alone
The girl was never there
It's always the same
I'm running towards nothing
Again and again and again and again...
Seine Flanken bebten, die Pfoten bluteten, und er war nichts als Schmerz. Sie war es wieder nicht gewesen. Aber Brandon würde nicht aufgeben, und wenn er alle Länder dieser Welt durchstreifen mußte. Irgendwo da draußen existierte sie. Irgendwo da draußen, dessen war er sich gewiß.
Er legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. Zwischen den belaubten Kronen der Bäume leuchteten ihm die Sterne entgegen.
Den Mond aber vermißte er.
(Copyrighthinweis: Songlyrics by The Cure, A forest)