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Ich und meine Crew laufen gerade in Zeitlupe im Flur unserer Schule. Wie in einem dieser Highschool-Filme. Links neben mir: Juliette, das blühende Leben. Stolze 1,55, große Oberweite, die sie auch immer gut zur Geltung bringt, dicke lange Haare, rundliches Gesicht und dunkelbraune große Augen. Ihre Mutter ist Italienerin und ihr Vater Deutscher. Unglaublich starke Persönlichkeit, aufbrausend, lebensfroh, kreativ. Manchmal zu kreativ.
Man muss einen Dickkopf haben um sich bei der Größe durchsetzen zu können.
Rechts von mir: Mary, 1,78 groß, Fashionfreak. Die längsten Beine, die ich je gesehen habe, blonde schulterlange, glatte Haare, tolle Wangenknochen und meeresblaue Augen. Volldeutsche und stinkreiche Eltern. Sie muss bloß ihr zuckersüßes Lächeln aufsetzen und bekommt alles, was sie will.
Ihre Vorzügen nutzt sie aber immer um anderen, eigentlich vor allem Juliette und mir, einen Vorteil zu verschaffen, nicht sich selbst.
Und in der Mitte: Ich, das hässliche Entlein. 1,68, die Figur von einem Waschbrett, das man irgendwo an der Seite angeschnitzt hat (bei dem Versuch eine Taille daraus zu machen), braune, lockige Haare und grüne Augen, die von einer dicken, schwarzen Brille umrahmt sind.
Seit neuestem eine Berühmtheit.
Immer die Tür am Ende des Ganges im Blick. Mary lässt gekonnt ihre Hüfte schwingen und hat immer noch ihr Lächeln aufgesetzt, Juliette zieht zufrieden ihren Ausschnitt hoch, der vorhin noch bewusst etwas zu tief hing und ich versuche mit weit aufgerissenen Augen weiter mein Kinn hochnäsig hoch zu strecken, wie gerade eben, wobei ich wirklich mit meiner Atmung zu kämpfen habe. Jetzt bloß nicht hyperventilieren, dachte ich ununterbrochen.
Als wir endlich die Tür erreichen, atmen wir erleichtert auf.
Mein Puls fährt nun langsam runter, aber irgendwie zu weit. Ich fühle ihn nicht mehr.
Wir stehen da und keiner spricht auch nur ein Wort. Ich für meinen Teil war geschockt. Dann fängt Mary plötzlich an zu lachen:
„Man o man, Mädels das war echt ein starker Auftritt!“
Juliette stimmt in ihr Lachen ein.
„Ja! Ich hoffe die Jungs haben ihn auch genossen“, gibt sie ironisch zurück.
Ich versuche es mit einem gekünstelten Lächeln. Doch mir war einfach nicht danach zu Mute.
„Ach komm schon!“, fängt Juliette an und gibt mir einen Stoß in die Seite, „Manu war nicht einmal dabei! Und sie haben es echt verdient.“
„Mhm“, antworte ich nur.
Wie kann man nur auf so eine hirnverbrannte Idee kommen? Typisch Juliette! Naja, eigentlich haben beide ja diesen bescheuerten Plan ausgeheckt.
Wenn die beiden etwas zusammen planen, ist es wie mit der richtigen Temperatur beim Backen. Wenn man sie trifft, kann man ein fantastisches Gericht erhalten, von dem man nicht nur satt sondern auch glücklich werden kann. Dreht man den Backofen aber zu hoch, verbrennen die Speisen und im schlimmsten Fall wird einem furchtbar schlecht, wenn man doch davon isst.
Langsam fühle ich meinen Puls wieder. Das war wirklich das krasseste was ich je in meinem Leben getan habe. Nein, hinterhältig? Gerecht? Ja es war nur gerecht.
Meine Gedanken schweifen mal wieder zu Manu ab. Wie gerne würde ich mich in seine Arme fallen lassen und einfach alles vergessen. Alles. Aber ich weiß, dass das nicht geht. Ging ja noch nie.
Ist ein Engel, der in die Hölle fährt und sich anschließend noch in die Armen des Teufels wirft noch ein Engel?
Ich hoffe einfach, dass er mich nicht hassen wird, wenn er es mitbekommt. Ich würde es tun, wenn jemand so etwas meinen Freunden antun würde. Ach, aber andererseits hat er es sich selbst zu zuschreiben.
„Also, stoßen wir auf diese gelungene Aktion im „Bellissimo“ an?“, fragt Mary und reißt mich aus meinen Gedanken. Juliette nickt sofort begeistert.
„Auf jeden Fall! Auf geht’s.“
Als mich die beiden abwartend anschauen, zögere ich.
„Ach komm schon! Das ist nur gerecht!“, versucht es Juliette. Gerecht, dachte ich.
„Außerdem kann man eh nichts mehr ändern. Was passiert ist, ist passiert. Und jetzt einfach alles hinschmeißen ist auch scheiße “, schließt sich Mary an.
Sie haken mich einfach zwischen sich ein und ziehen mich zu Marys Auto. Ist es nun wirklich gerecht?
Ich merke, dass ich dringend etwas Zeit für mich brauche. Aber über die vergangenen Tage nachzudenken bringt auch niemanden weiter. Ich solle versuchen auf andere Gedanken zu kommen, meinte meine Mutter gestern. Nach vorne schauen, das sei das Richtige. Doch das ist leichter gesagt als getan.
Ich bekomme es einfach nicht aus meinem Kopf. Er ist schuld an allem. Will es ihm aber nicht sagen, dass ich alles herausgefunden habe.
Er erlebt gerade die Zeit seines Lebens. Er lebt seinen Traum. Er wird Fußballstar. Das will doch jeder kleine Junge und er hat die Möglichkeit sich diesen Wunsch zu erfüllen. Das hat er sich verdient. Ich sollte mich für ihn freuen. Ich liebe ihn doch. Aber kann es einfach nicht verstehen. Vielleicht sollte ich auf Juliette und Mary hören und endlich einen Schlussstrich ziehen. Auch wenn er es nicht getan hat, er hat es irgendwie doch getan.
Welcher halbwegs vernünftige Mensch gibt jemandem Schlaftabletten, macht solche Bilder, zeigt sie ohne Schamgefühl herum und hat dann auch noch keine Bildschirmsperre in seinem Handy?
Da ist doch logisch, dass so etwas passiert.
Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als er mich endlich vor einer Woche zu sich nach Hause einlud. Er war immer furchtbar gemein zu mir, wenn Juliette und Mary gerade nicht in der Nähe waren. Hat mich behandelt wie Dreck. Aber ich war einfach nur froh, dass er mich registrierte. Und dann endlich die lang ersehnten Worte, als ich mein Handy anschaltete: "Hey, hab Sturmfrei. Komm rüber." Er wollte mich sehen! Das hässliche Entlein bekam endlich die Chance seines Lebens!
Doch nach nur einem Glas Wasser wurde ich schrecklich müde. Konnte nicht einmal mehr ein Stück von der Pizza probieren, die er extra für mich bestellt hatte. Hab zehn Stunden durchgeschlafen. Ich dachte, dass es an dem Schulstress lag. Hab mir keine großen Gedanken mehr darüber gemacht, nachdem er mir erklärt hatte, wie er mich in sein Bett trug und die ganze Nacht neben mir lag. So wie ich es mir immer vorgestellt habe. Ich war einfach nur Glücklich. Wie sollte ich auch etwas merken? Hat mich aus und wieder angezogen, ohne dass ich es mitbekommen habe. Plötzlich überkommt mich das dringende Bedürfnis zu duschen. Doch ich habe es schon probiert. Habe geschrubbt und geschrubbt. Hat nichts geholfen. Das Gefühl klebt immer noch an mir, wie eine hartnäckige, braune Klette.
Ja, das war hinterhältig, aber er hat es nicht getan, nein. Er wollte die Bilder nur für sich, glaube ich. Ja, er hat es seinen Jungs gezeigt, aber nicht der ganzen Welt. Nein, das waren sie.
Wie kann man nur so dreist sein und einfach solche Bilder von einem fremden Handy abfotografieren und sie dann noch veröffentlichen? Natürlich hat er nichts gemerkt. Er wurde hintergangen.
Sie haben es wirklich verdient, die Jungs. Mary hat recht. Wir sollten es zu Ende bringen. Wie du mir, so ich dir. Das war das Richtige und gerechter als die blöde Jugendstrafe, die sie bekommen haben. Die bringt mich auch nicht weiter.
Sind ja selber Schuld, wenn sie ihre Sachen in der Umkleide beim Duschen unbeaufsichtigt herumliegen lassen. Hätten sie wegsperren sollen.
Juliette hätte die Aktion beinahe versaut, weil sie ihr Lachen kaum unterdrücken konnte, als wir aufgeregt auf dem Flur warteten. Wenn die Jungs geahnt hätten, dass wir dort auf sie lauern, wären sie bestimmt noch eine Weile in der Umkleidekabine geblieben. Aber sie hatten keine andere Wahl, als irgendwann herauszukommen. Wir hatten ihre Handys, ihre Kleider, alles. Perfekt geplant.
Ihre Gesichter, als wir die Fotos schossen waren wirklich eine Genugtuung. Und immerhin hat nicht die ganze Welt sie so entblößt gesehen. Nicht so wie bei mir. Noch nicht.