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"Der König schritt grummelnd durch den Saal. Mit finsterer Miene ließ er sich schwerfällig auf seinen Thron fallen. Die Stimmung verbesserte sich nicht als der Sohn kurz darauf den Raum betrat. 'Verdammt', brummte der König leise vor sich hin, und beäugte den Nichtsnutz misstrauisch..".
Ich ließ das Buch durch meine Finger auf den Boden gleiten und seufzte. Ich hatte viele solche Geschichten von Königen und von traurigen, von Gram und Sorge geplagten Adligen gelesen. Die meisten endeten tragisch, und noch eine tragische Geschichte in meinem Leben brauchte ich nun wirklich nicht.
Am Himmel über mir trieben ein paar dicke, graue Wolken und kündigten an das es bald ungemütlich werden könnte - das Abendrot am Horizont bezeugte dies stillschweigend.Vor mir wälzte sich der Fluss langsam vorbei, seine Farbe glich im langsam schwindendem Licht allmählich das eines kalten Amboss.
Es war an der Zeit langsam weiter zu ziehen. Ich hob das Buch des vom Schicksal gebeutelten Königs auf und legte es auf dem Stein, der mir noch vor kurzem als Sitzplatz gedient hatte. Auf dem Boden neben dem Stein lag mein Rucksack. Ich nahm es an mir und folgte dem Fluss abwärts, einen Trampelpfad entlang der mich auch zum Stein gebracht hatte. Einige hundert Meter vor mir überquerte eine Brücke den Fluss. Sie war zwar relativ hoch über den Boden aber unter ihr könnte ich dennoch mein Nachtlager anlegen, das war zumindest mein Plan.
Als ich zum Himmel schaute sah ich das die Wolken sich Verstärkung geholt hatten und ich stellte missmutig fest das es wohl doch eher Regen geben könnte als erwartet. Die Brücke würde vielleicht das gröbste abhalten, aber sie war zu weit oben um mir wirklich vollständigen Schutz zu geben.
Während der Dämmerung erreichte ich sie und suchte nach einer geeigneten Stelle für mein Lager. Der Boden war relativ gut von Rasen bedeckt, bemerkte ich, sogar frei von Ameisenhaufen. Gut so. Denn, noch so eine Nacht wie vor einigen Tagen wollte ich nicht verbringen. Da hatte ich einen in der Nähe übersehen, und Nachts, als ich schlief, kamen ein paar "Kundschafter" unangekündigt zu Besuch. Eine unangenehme Erfahrung die ich nicht vor hatte zu wiederholen.
Ich packte einige Utensilien aus meinem Rucksack und fing an meine Lagerstätte vorzubereiten. Alles ging recht fix, das einzige was ein paar Momente länger dauerte war das lästige auf pusten der schmalen Luftmatratze. Es war aber immer noch besser als auf dem Boden zu liegen. Als ich fertig war lies ich mich auf die Matratze plumpsen und schaute aufs Wasser. Bis auf ein leises Geplätscher vom Flussufer ab und zu war es sehr still. Es gab keinen Straßenlärm. Auch nicht die üblichen Geräusche: Hundegebell, Sirenen, Streitende Menschen, rumpelnde Straßenbahnen oder das Getöse von Baustellen. Nichts davon drang an mein Ohr. Die Stadt schien zu Schlafen. Es wanderte sogar kein vor sich hin sinnierender Hundebesitzer vorbei. Weder auf dieser noch auf der anderen Seite. Ich hatte totale Ruhe. Glücklich machte sie mich aber nicht.
Ich stand auf und kramte in meiner Hosentasche nach dem Feuerzeug das ich am Tag zuvor in einem kaputten Auto gefunden hatte. Hinter mir hatte ich einen kleinen toten Baum gesehen der abseits des Pfades in der Nähe des Brückenpfeilers stand. Ein kleines Feuerchen am Abend ist gut für die Moral, dachte ich mir.
*
Einige Minuten später, als ich das gesammelte Holz anzündete bemerkte ich einen seltsamen Duft. Es hing ganz dezent in der Luft und erinnerte etwas an Verwesung. Ich stand auf und inspizierte die unmittelbare Umgebung, fand aber nichts das mich beunruhigte. Ein Grummeln aus meiner Magengegend erinnerte mich daran das ich heute kaum was gegessen hatte. Ich ging zum Rucksack und kramte mein letztes essen heraus - einen Apfel.
Mein heutiger Weg entlang des Flusses hatte mich nicht wirklich an essbarem vorbeigeführt. Eine Angel besaß ich nicht, und ganz ehrlich, das was in dem Fluss herum schwamm war nicht immer genießbar. Außerdem hatte ich nie die Ruhe für so etwas. Dieser Apfel würde für heute ausreichen.
Morgen würde ein neuer Tag sein. Ein besserer Tag. Dem war ich mir sicher.Ich würde früh aufstehen. Mich am Fluss waschen und erfrischen. Am Vormittag würde ich dann den Bahnhof erreichen. Dort fing die Innenstadt an. Geschäfte reihten sich da aneinander. In den Läden finde ich sicherlich was für meine weitere Reise. Ich müsste mich nur vor anderen in acht nehmen die wie ich überlebt hatten. Nicht alle waren nett, und nicht alle waren normal. Ich hatte gelernt das leere Straßen nicht immer bedeuteten man ist allein. Mittlerweile wusste ich 99% weniger Menschen heißt nicht immer 99% weniger Gefahr.
*
Die leere Dose schepperte über den Asphalt des Parkplatzes an deren Ende ein Großer Supermarkt wachte. Ich schlingerte mich an dem durcheinander der stehenden Autos vorbei - stumme Zeugen von vergangenem Chaos – und trat sie nochmal. Sie flog klappernd dahin und prallte von der Radkappe eines Wagens ab, um unterhalb eines anderen liegen zu bleiben. Ich ging an dem PKW vorbei und versuchte den Anblick des Leichnams hinter dem Steuer zu ignorieren. Der Geruch aber hing schwer in der Luft und schien mich umklammern und erdrücken zu wollen. Vor dem offenen, gähnend leeren Eingang des Marktes kam ich zum stehen.
Die Strahlen der aufgehenden Sonne am Horizont hinter mir waren wie eine warme Hand die sanft meinen Nacken berührte, und dennoch wurde ich das mulmige Gefühl nicht los nicht allein zu sein. Die leeren, toten Augen die aus einigen Autos mich zu beobachten schienen waren nicht gerade eine Hilfe. Unentschlossen jedoch vom Hunger angetrieben machte ich einen Schritt nach vorn und schaute vorsichtig hinein. Der Eingangsbereich war vom Schatten beherrscht und kam mir vor wie eine Pforte zu einer Welt in der es nur Dunkelheit gab, die von körperlosen Bestien durchstreift wurde, auf der Suche nach dem nächsten, hoffnungslos schreienden, Opfer.
Mit unsicheren Schritten betrat ich das Geschäft.
*
Leere Kassenbereiche, der Boden mit Unrat übersät, manche Regale umgekippt, manche noch stehend aber durchwühlt, nichts war hier wie früher. Ich ging gerade aus an einer Kasse vorbei, einen Blick über das leere Zigarettenregal schweifend. Die paar von uns die noch übrig waren haben wohl trotz der Katastrophe gewisse Laster nicht ablegen können. Mein Weg führte mich entlang eines Ganges, über die sterblichen Überreste der zerbrochenen, teils auch malträtierten Konsumgüter. Der Geruch von verdorbenem war hier mein stetiger Begleiter.
Als ich am Ende des Ganges an kam, sah ich im Regal ein Glas Gurken stehen das noch intakt schien. Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen und ich griff nach dem himmlischen Gut, voller Hoffnung der Inhalt möge in Ordnung sein. Mit zittriger Hand las ich die frohe Botschaft 'Mindestens Haltbar bis: 23.10.2012. Das war noch über ein Jahr hin! Mein Glück kaum glaubend attackierte ich den Deckel und ließ das Glas fast noch fallen und hielt inne.
Ich atmete kurz ein paar mal durch um mich zu beruhigen und machte mich daran, vorsichtig diesmal, das Behältnis zu öffnen. Mit einem zufriedenen 'plopp', das mir vor kam als würde es von hier bis in die nächste Stadt schallen, hob ich den Deckel ab. Das frische Aroma von Gewürzgurken stieg in meine Nase und in den Kopf. Sofort kniff mich der Hunger und ich schob mir das erste Leckerbissen dieses Festmahls in den Mund.
Der Apfel vom letzten Abend war das letzte was ich für fast zwei Tage gegessen hatte und ich musste mich förmlich zusammenreißen nicht alles in Rekordzeit zu verputzen. Zufrieden knabbernd ging ich in den benachbarten Gang, um zu schauen ob nicht noch eine leckere Mahlzeit irgendwo gierigen Händen entkommen war.
*
Einige durchforsteten Gängen später hatte ich eine kleine Sammlung von Konserven und betrachtete meine Beute auf dem Laufband der Kasse 5. „Glückwunsch, Sie sind unser letzter Kunde!Heute geht alles aufs Haus!“ sagte ich leise zu mir selbst.
Ich fing an meinen Schatz des Tages in den Rucksack zu verstauen, als mein blick auf das Regal für Zeitschriften fiel nur wenige Meter entfernt. Mein Gepäck anlegend ging ich zur Leseauslage hinüber. Der Ausgang hinter mir trug eine leichte Brise herein das den Duft der Vergänglichkeit mit sich brachte, mich daran erinnernd das ich später wieder über dem 'Parkplatz der Toten' musste.
Als ich mich dem Lesesortiment näherte schienen mir die Überschriften diverser Tagesblätter ihre Botschaften der Apokalypse entgegen zu schreien, die letzten Atemzüge der Verdammten. „Das Ende der Menschheit!“, „Wir sind verdammt!“, „Die Welt dahin gerafft!“, „Der Tod kam aus Afrika!“, das letzte fiel mir besonders auf. Nicht weil die vermeintliche 'Wiege der Menschheit' ironischerweise auch fast zur Auslöschung Selbiger beitrug, sondern weil sie mich an einer TV Reportage erinnerte, aus einer Zeit als die Welt noch nicht am Abgrund stand.
Sie handelte von einer WWF Expedition in Madagaskar. Dort stießen die Forscher, in einem schwer zugänglichen Gebiet, auf eine noch völlig unbekannte Lemurenart. Die Einheimischen nannten diese Geschöpfe ehrfurchtsvoll 'Waldgeister' und warnten das es sehr gefährlich sei diese zu stören. Die Wälder dort waren aber der Industrie längst schon von Interesse. Der Versuch der WWF darauf dieses Gebiet sofort unter Naturschutz zu stellen stieß auf taube Ohren. Es dauerte nicht lange bis die ersten Arbeiter krank wurden und starben. Die Einheimischen sagten, dies sei nun die Rache der 'Waldgeister'. Bis man herausfand das diese Affenart eine Krankheit mit sich herum trug, das man später 'Madagaskar Virus' oder 'M-Virus' nannte, war es bereits zu spät. Nach dem weiterhin Menschen starben trotz einer eingerichteten Quarantäne Zone, stellten die Konzerne eine Söldner Truppe zusammen, um jene Eingeborenen zu finden und einzusammeln die vor diesen Lemuren gewarnt hatten.
Ich erinnerte mich daran das man die Absicht hatte herauszufinden, warum diese Gruppe von Waldbewohnern offensichtlich immun waren. Als diese sich dann aber wehrten nahm die Katastrophe ihren Lauf. Aus einem Scharmützel wurde ein Massaker. Da alle Versuche an den wenigen Lemuren, die man bis dahin gefunden hatte, vorher schon gescheitert waren, hatten die Söldner es geschafft die wahrscheinlich einzige Möglichkeit für einen Heilmittel auszulöschen.
Die Truppe aber blieb ebenfalls nicht verschont, denn das Virus hatte auch sie gefunden. Auf ihrem Rückweg erkrankten einige von ihnen und starben kurze Zeit später. Nur sehr wenige der Söldner erreichten die Quarantäne Zone von der ihre Reise begonnen hatte. Man versuchte sie sofort zu isolieren, jedoch entkam einer von ihnen.
Er flüchtete in eine nahe gelegene Siedlung die mittlerweile fast einem Geisterdorf glich. Kurz darauf brannte man es nieder ohne ihn zu finden. Er war weitergezogen und hatte die Krankheit, als enger Begleiter, mit sich genommen. Seine Leiche fand man einige Tage später in einer schäbigen Pension. Ab diesem Zeitpunkt hatte sich der Virus wohl aus unbekanntem Grund mutiert, denn jetzt ging das Sterben erst richtig los. Erst in den nächsten Orten und bald darauf ganze Städte.
Der 'M-Virus' raste durch die Bevölkerung wie ein Sensenmann auf einem epischen Kreuzzug der Vernichtung. Dadurch das die Krankheit so hochgradig ansteckend war hatte sie es leicht fast jeden Winkel der Erde zu erreichen. Ihre Reisefreude war unaufhaltsam. Als sie dann den Ort heimsuchte in dem ich wohnte war sie so tödlich das die Menschen innerhalb von wenigen Minuten starben.
Ich erinnerte mich daran Abends ins Bett zu gehen und am nächsten Morgen in einer fast toten Welt aufzuwachen. Zumindest was die Menschen anging. Tiere waren vom Virus nicht betroffen. Warum das so ist und aus welchem Grund ich von der Krankheit verschont blieb ist mir noch immer unklar. Selten traf ich andere Überlebende und in den meisten Fällen waren sie entweder feindselig oder sehr scheu. Bis heute warte ich noch auf eine normale, harmlose Konfrontation.
*
Ich wandte mich ab von den Zeitschriften und ging zum Ausgang. Kaum setzte ich einen Fuß aus dem Supermarkt begrüßte mich sofort der Duft der Toten wie einen alten Freund. Ich eilte mit schnellen schritten an den Autos vorbei, und nahm Kurs auf das Zentrum der Stadt. Das mulmige Gefühl weitere Szenarien wie auf dem Parkplatz bezeugen zu müssen war stets da, aber ich ignorierte sie so gut ich konnte.
Mir war klar das ich mich für meine weitere Reise ausstatten musste und ich hatte vor dies auch zu tun. An einer großen, leeren Kreuzung hielt ich kurz an, den Kopf geneigt und der Stille lauschend. Manchmal kam sie mir Ohrenbetäubend vor und manchmal friedlich.
Einige Meter vor mir kreiste eine kleine Gruppe von Vögeln am Himmel. In diese Richtung wollte ich definitiv nicht gehen. Ich nahm einen langen, schweren Atemzug, bog rechts ab, und setzte meinen Weg fort.
(Hannover, Sept. 2010, Meik Fischer)