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Als Allison aus dem Cryo- Schlaf erwachte fühlte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Eigentlich hätte sie ein Kribbeln am ganzen Körper spüren müssen. Genauso, wie es zigmal in den Simulationen abgelaufen war, als man sie und die anderen für ein oder zwei Tage auf Eis gelegt hatte. Ein Gefühl der Kälte, der schwache Piekser der Kanüle, die den Vitamin-Stimulationscocktail in ihre Venen schoss. Das hätte jetzt kommen müssen. Kam aber nicht.
Allison wollte sich aufsetzen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Ihre ganze linke Seite war wie abgeschaltet – fast so, als wäre die Cryo- Schlafkammer zur Hälfte noch in Betrieb. Aber das war unmöglich. Träumte sie? Auch das war nicht möglich – der Kühlschock fror einen vollständig ein. Absoluter Stillstand. Keinerlei Gehirntätigkeit, auch kein REM- Schlaf.
Sie wollte um Hilfe rufen. Ihre Zunge tastete in der Mundhöhle umher und sie spürte den Speichel, der dickflüssig aus ihrem Mund floss.
„Hllghl“. Das war’s. Mehr kam nicht zustande.
„Mein Gott, die Kammer hatte einen Defekt. Ich wurde nicht richtig reanimiert!“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie kannte die statistische Wahrscheinlichkeit einer schadhaften Cryo- Schlafkammer. Nicht besonders hoch, aber sie konnte eintreten. Und die Folgen waren fast immer katastrophal.
„Ruhig bleiben“, sagte Allison mit einem Anflug von Panik gedanklich zu sich selbst, „Gleich kommt das Med- Team, die wissen, was zu tun ist. Rudnick wird das schon wieder in den Griff kriegen.“ Dr. Karl Rudnick war ein brillanter Mediziner und Fachmann auf dem Gebiet der Kälteschlafmedizin.
Die Zeit - Allison konnte unmöglich abschätzen wie viel- verstrich. Irgendwann kam sie zu dem Schluss, dass keine medizinische Hilfe kommen würde. Die Biometrie- Sensoren mussten ihren Zustand längst gemeldet haben. Wenn bis jetzt niemand nach ihr gesehen hatte, würde auch niemand mehr kommen. Sie war die wichtigste Person der ganzen Gruppe, die Koordinatorin. Ihr Wohlergehen hatte absolute Priorität. Von ihr hing das Schicksal aller anderen ab. Völlig ausgeschlossen, dass man sie nicht zuerst behandeln würde, egal, wie viele andere womöglich noch betroffen waren.
„Rudnick, du verdammter Bastard! Du bist besser tot, denn wenn ich erfahre, dass irgend ein unwichtiger Klimatechniker in diesem Augenblick versorgt wird, während ich hier wie ein Stück Gefrierfleisch rumliege, sorge ich dafür, dass du bis an dein Lebensende nur noch Pflaster zurechtschneiden darfst!“ Merkwürdiger weise ängstigte es Allison überhaupt nicht, dass sie womöglich sterben würde. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, das Schicksal, Universum und Unvermögen all jener dilettantischen Ingenieure zu verfluchen, die an ihrer Lage Schuld waren.
„Das war’s dann also!“, dachte sie bitter und hasserfüllt. „All die Jahre des Trainings! Jeder einzelne Test, für den ich gebüffelt hab bis zum Umfallen. Sogar die ekelhafte Affäre mit dem Direktor, diesem widerlichen alten Fettwanst, mit dem ich monatelang ins Bett gestiegen bin, bloß damit er mich zur Koordinatorin macht! Alles umsonst, weil irgendein unfähiger Idiot irgendein Kabel oder einen Stecker nicht richtig befestigt hat!“
Irgendwann döste Allison ein. Da sie nicht mehr im Kälteschlaf war konnte sie jetzt sehr wohl träumen. Sie träumte von dem Tag, an dem das Schiff sein Ziel erreichen würde. Eine saubere, grüne und unberührte Welt, genau so, wie die Sonden sie vor über 50 Jahren vorgefunden hatten. Eine Welt, die nur darauf wartete, dass man sie besiedelte. Eine Gesellschaft errichtet. Allisons Gesellschaft. Perfekt nach ihrem Willen geformt. Sie träumte davon, diesem Planeten ihren Stempel aufzudrücken. Sogar den Namen des Planeten würde sie ändern. Die Eierköpfe im Kolonisierungsministerium hatten sich irgendetwas nichts sagend Pathetisches wie „Eden“ oder „Elysium“ ausgedacht. Schwachsinn! Der Planet würde „Allison“ heißen – das Juwel im gesamten von Menschen besiedelten Territorium. Nicht das es schwer sein würde, ein Juwel zu werden bei drei kargen, unwirtlichen und kalten Planeten (eher Monden), die über eine einigermaßen erträgliche Atmosphäre verfügten. Na ja, der Mensch durfte mittlerweile nicht mehr wählerisch sein, was seine Alternativen zur armen alten, müden und vergifteten Erde betraf. Doch „Allison“ war anders. In jeder Beziehung vollkommen. Unglaublich, dass es so eine phantastische Welt gab, die noch kein höher entwickeltes Leben hervorgebracht hatte und darüber hinaus noch in Reichweite der Antriebssysteme der Kolonistenschiffe lag. Gerade eben so. Bei den knappen Ressourcen würde es kein anderes Kolonistenschiff innerhalb der nächsten Jahrhunderte geben, das den Planeten ansteuern könnte. Sie wären in der Lage, sich komplett dem Einfluss der unfähigen und unvollkommenen Erdregierung zu entziehen. Die Konstruktionspläne und Montagediagramme nahezu aller modernen Waffensysteme befanden sich sicher versteckt in ihren persönlichen Datenspeichern. Es war unfassbar, wie leicht sie damals bei irgendeinem Staatsempfang den nächst besten General hatte um den kleinen Finger wickeln können, ihr die streng geheimen Pläne zu besorgen, wenn sie im Gegenzug seine praktischer weise schwangere Tochter auf ihre Welt mitnehmen würde. Der alte Narr hatte sogar freiwillig noch jede Menge zusätzliche nützliche Daten herausgegeben. „Es dient ja nur dem Schutz meiner Tochter und aller Kolonisten. Für alle Fälle.“, damit hatte er sein Gewissen beruhigt. Dem Schutz würde es ja auch dienen – vor jedem, der versuchen würde, ihr ihre Welt streitig zu machen.
Allison schreckte aus ihrem Schlaf hoch. Sie hatte ein Geräusch gehört. Angestrengt lauschte sie. Nicht, dass sie außer ihren Ohren und einem Blick auf die Innenseite ihrer Schlafkabine noch irgendeinen anderen Kontakt zur Außenwelt gehabt hätte. Außer dem gleichmäßigen Brummen des Schiffsantriebs war nichts zu hören. Und dennoch, vor ein paar Augenblicken war da etwas gewesen. Da! Schon wieder. Allisons Herzschlag beschleunigte sich. Endlich kam jemand. „Vielleicht waren es Aliens, die das Schiff gekapert hatten!“ Sie hätte über diesen absurden Gedanken gekichert, wenn sie noch Kontrolle über ihre Gesichts- und Mundmuskulatur gehabt hätte.
Nach einiger Zeit hörte sie ein schabendes Geräusch an der Außenhülle ihrer sargähnlichen Kälteschlafkammer. Leitungen wurden entfernt und Verschlüsse geöffnet. Mit einem pneumatischen Zischen hob sich der Deckel der Kabine und schwenkte dann zur Seite.
Allison blickte in das Gesicht eines Mannes. Er kam ihr bekannt vor. Aber woher? Es war keiner der Kolonisten. Jedenfalls trug er nicht den Standart-Schutzanzug, den jeder Kolonist normalerweise anhatte.
Der Mann sah zu Allison hinunter und hob dann einen kleinen medizinischen Handcomputer. Das Display des Computers blinkte hektisch in einem gelben Licht.
„Hallo Frau Dr. Duvall.“, sagte der Mann freundlich und musterte Allison eingehend.
„Sie fragen sich jetzt vermutlich, was mit Ihnen passiert ist und wo sie sind. Kennen Sie mich noch?“
„Nein, du Idiot, ich kenne dich nicht und es ist mir auch egal, wer du bist, wenn du kein Arzt bist!“, wollte Allison ihm sagen.
„Gglgh.“
Der Mann grinste und schüttelte leicht seinen Kopf.
„Ich wette, Sie erkennen mich nicht, stimmt’s? Dabei haben wir uns jetzt seit fast fünf Jahren beinahe jeden Tag gesehen. Ich bin’s. Eric Dorfmann.“
„Eric Wer?“, dachte Allison erstaunt. Dorfmann schien ihren Blick richtig zu deuten.
„Dorfmann der Doofmann! Immer noch nichts? Na ja, ich bin ja auch zu unwichtig, als dass Sie mich überhaupt bemerkt hätten.“ Dorfmann lachte wie über einen guten Witz und sah sich mit einem Seufzer um.
„Ich bin Reinigungskraft in der Koordinationsabteilung.“, sagte Dorfmann und verstellte dann seine Stimme. „Dorfmann, mach noch den Mülleimer sauber, bevor du gehst. Dorfmann, das nächste Mal putz bitte alle Toiletten, nicht nur die benutzten. Dorfmann, kannst du bitte diese Berichte Prof. DiVarro bringen, bevor du den Flur wischst.“ Er strich sich über seinen Kopf und grinste erneut. Irgendetwas schien ihn sehr zu amüsieren.
„Sie kennen sich auf dem Arbeitsmarkt wahrscheinlich nicht so gut aus in ihrem feinen Kaschmiranzug und wissen nicht, wie schwer es ist, heutzutage noch einen Job zu finden. Mit meinem IQ von 95 bin ich da natürlich erst Recht nicht geeignet, um beim Kolonistenprogramm auch nur in den Aufnahmetest zu kommen." Dorfmann machte eine Pause und sah gedankenversunken auf den Boden und schien über etwas nachzudenken. Schließlich blickte er wieder auf Allison hinab.
"Zu mehr als Mülleimer saubermachen bin ich zu blöd. Und der Befund von meinem Psychiater war mir auch keine große Hilfe im Leben. Wenn man...wie nannte er das noch gleich? Genau, wenn man unter einer "paranoiden Persönlichkeitsstörung" leidet, schränkt das die Perspektive schon ganz schön ein! Bloß weil man es nicht mag, sich einen Wohnblock mit 4.000 anderen Menschen teilen zu müssen und einfach nur seine Ruhe haben will. Schon wird man als verrückt oder blöd abgestempelt." Dorfmann schnaubte verächtlich.
"Colonel Jenkins, der Pilot dieses schönen großen Schiffs, hat mich einmal Dorfmann den Doofmann genannt. Das ist dann wohl irgendwie haften geblieben. Tja, Herr Jenkins liegt jetzt gut verstaut in seiner Schlafkammer und ich bin hier. Na, wer ist denn jetzt der Doofmann, häh?“ Dorfmann lachte erneut. Diesmal klang sein Lachen jedoch gehässig und kalt. Allison spürte, wie sich die Angst wie ein Eisklumpen in ihrem Bauch ausbreitete.
„Und weil ich ja so blöd bin, muss ich auch für den Rest meines Lebens jeden Tag die Luftfilter in meiner Wohneinheit auswechseln, darf gepresste Algen fressen und muss mir die Welt mit 17. Milliarden Arschlöchern teilen, die mich alle miteinander für einen zurückgebliebenen Kretin halten, während ihr euch einen netten kleinen Planeten sucht, der saubere Luft, sauberes Wasser und keine Strahlung hat.“ Dorfmann spuckte verächtlich aus.
„Sie würden sich wundern, Dr. Duvall, was man so alles in fünf Jahren mitkriegt, wenn man Flure wischt und keiner auf einen achtet. So ein geheimer Starttermin ist echt toll, wenn man ihn in jedem Bericht fett rot umrandet. Aber Dorfmann darf ruhig den Laufburschen spielen, der ist ja ohnehin zu blöd, um zu verstehen, was er da liest. Und es hat mich nicht mal sechs Monate Simulatorraum-fegen gekostet, bis ich wusste, wie man eine Kälteschlafkammer benutzt. Ein Forschungsbericht hier, eine Computeranimation dort, eine kleine Kopie eines Trainigsprotokolls da. TADAA!“ Dorfmann breitete seine Hände aus wie ein Dirigent.
„Zuerst hatte ich noch nicht mal vor mitzukommen. Bis ich gesehen habe, wie absolut kinderleicht das wäre. Na ja, und da hab ich mich gefragt: Warum zum Geier soll ich eigentlich in dem ganzen Dreck hier zurückbleiben? Wegen einem IQ von 95?“
„Hrrgh“
„Stimmt genau, Doc.“, sagte Dorfmann ernsthaft. „Jedenfalls war es keine große Sache, mich zum Schiffsreinigungsdienst einteilen zu lassen. Kuhscheiße wegschaufeln und Schweine füttern bis zu dem Tag, an dem die ganzen Vieher in den Winterschlaf geschickt werden, ist nicht besonders beliebt innerhalb der Reinigungsabteilung. Und als der Starttermin gekommen war, ist Eric Dorfmann einfach so an Bord spaziert und nie wieder raus gekommen. Die schärfsten und härtesten Sicherheitsbestimmungen, Anti-Terror-Maßnahmen, Panzersperren…und keine Sau achtet auf die Putze!“ Schallendes Gelächter unterbrach ihn. Dorfmann lachte fast eine Minute lang. Dicke Tränen kullerten seine unrasierte Wange hinunter.
„ Alles was ich dann tun musste war zu warten, bis die Flugbesatzung in den Kälteschlaf ging und schon hatte ich das ganze schöne Schiff für mich allein.“ Er seufzte erneut und sah sich dann langsam um.
„Wissen Sie….“, Dorfmann warf einen Blick auf den medizinischen Handcomputer, „…hier steht: Allison…..wissen Sie, Allison, eigentlich wollte ich nur ganz friedlich in eine der Notfall-Reservekammern kriechen, ein kleines Schläfchen machen und zusammen mit dem Rest von euch Helden auf dem Planeten wieder aufwachen. Aber dann ist mir eine Sache klar geworden. In euren Augen werde ich immer nur Dorfmann der Doofmann sein, Mr. IQ-95-mach-den-Mülleimer-sauber. Ich hab jeden Tag sehen können, wie ihr miteinander umgeht. Eure Intrigen, euer Machtgerangel, eure Lügen, eure Karrieregeilheit und eure rücksichtslose Arroganz.“
Dorfmann brachte sein Gesicht bis auf einen Zentimeter zu Allison herunter und sah ihr fest in die Augen.
„Und in so eine schöne neue Welt will ich nicht noch mal. Euch als einzige Gesellschaft? Ihr wärt glatt in der Lage gewesen, mich einzusperren oder aufzuhängen. Eure allererste Handlung in eurer neuen Heimatwelt. Ich glaube nicht, dass der Raumfeger mit einem IQ von 95 und einer "paranoiden Persönlichkeitsstörung" mit offenen Armen von euch aufgenommen worden wäre. Stimmt doch, oder etwa nicht? Und deshalb, Dr. Allison Duvall, hab ich in den letzten drei Wochen seit dem Start jeden Tag damit verbracht, die Schlafkammern von der Sauerstoffversorgung zu trennen. Die meisten sind gar nicht mehr aufgewacht. Einige wenige, die besonders Zähen, haben die Notfall-Reanimation mehr oder weniger überlebt, wenn auch nur kurz. Sie, Allison, sind bei weitem die Widerstandsfähigste und übrigens auch die Letzte. Der Handcomputer zeigt mir, dass der Sauerstoffmangel bei Ihnen zu einem Schlaganfall und einer mittelgroßen Hirnblutung geführt hat. Ohne Operation werden Sie wohl die Nacht nicht überstehen.“ Dorfmann lächelte beinahe sanft und strich ihr zärtlich über die Wange.
„Was mich betrifft, ich suche mir gleich eine Schlafkammer und mach ein Nickerchen. Und in sieben Jahren, acht Monaten und sechzehn Tagen, wenn das Schiff angekommen ist, werde ich es schön mit der Notfallautomatik vom Computer landen lassen. Das Schiff hat ne tolle Bibliothek, da steht wirklich alles drin, was man braucht. Auch welche Hebel man bedienen muss, falls die Flugbesatzung ausfällt.“
Allison wollte aufspringen und Dorfmann die Kehle rausreißen. Ihm die Augen aus dem Schädel kratzen. Seinen Kopf solange gegen irgendetwas Hartes und Spitzes schlagen, bis sein Gehirn von ihren Fingern tropfen würde.
Alles, was sie tun konnte, war hilflos mit den Augen zu rollen. Dorfmann drückte sie vorsichtig in die mit Schaumstoff gepolsterte Liege und strich ihr die Haare aus der Stirn.
„Liegen Sie bequem? Ja? Gut. Versuchen Sie sich zu entspannen. Wie gesagt, in ein paar Stunden haben Sie es dann überstanden.“ Dorfmann beugte sich herab und küsste ihr zärtlich die Stirn. Dann richtete er sich auf und drückte den Deckel der Schlafkabine zu.
Das Letzte, das Allison hörte, war Dorfmanns Stimme, als er zu sich selbst murmelte:
„Ich glaube, ich werde mein neues Zuhause Dorfmanns Welt nennen. Hm….gefällt mir.“