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Mein Kopf pocht. Entsetzliche Kopfschmerzen. Übelkeit.
Ich stehe auf und schaue auf meinen Wecker. Zehn nach sechs. Langsam schlurfe ich ins Badezimmer um zu duschen. Das Geräusch von Wasser, das aus dem Duschkopf schießt, beruhigt mich. Aber die Kopfschmerzen wollen nicht verschwinden, und das flaue Gefühl im Magen auch nicht. Schrank auf, Kopfschmerztabletten raus. Ich hasse Tabletten. Davon wird mir schlecht, aber in diesem Fall ist das das kleinere Übel. Ich lege mir die Tablette auf meine Zunge und spüle sie mit viel Wasser hinunter. Grauenhaft. Kann es anstelle der Tabletten keinen Saft gegen Kopfschmerzen geben?
Ich lege mich wieder hin, da weder die Übelkeit noch das Pochen in meinem Kopf weniger werden. Mir fällt beim Blick aus dem Fenster auf, dass draußen alles weiß ist. Es hat geschneit. Das erste Mal in diesem Winter, und das, obwohl es schon Ende Januar ist. Normalerweise hätte ich mich über den Schnee gefreut, aber jetzt geht es mir einfach zu schlecht.
Meine Mutter kommt in mein Zimmer, sie wollte mich wecken. Sie sieht mich an, sieht meinen gequälten Gesichtsausdruck und den Spuckeimer neben meinem Bett stehen und meint: „ Du bleibst heute besser zu Hause. Hast du schon eine Kopfschmerztablette genommen?“ , Ich nicke. „Die, die im Badezimmer sind?“, Ich nicke. „Soll ich dir einen Tee machen?“, Ich nicke.
Zehn Minuten später kommt sie mit einer Tasse Früchtetee, meinem Lieblingstee, und einem Brötchen mit Nuss-Nougat-Aufstrich wieder. Ich schaue auf die Uhr. Fünf vor Acht. „Musst du nicht zur Arbeit?“ „Doch, ich gehe jetzt. Ruh dich aus.“ Sie küsst mich auf die Stirn und geht.
Ich versuche zu schlafen und langsam lassen auch die Kopfschmerzen und die Übelkeit nach. Nach zwei Stunden erwache ich wieder. Frisch ausgeruht, aber ohne irgendeine Beschäftigung setze ich mich auf und komme ins Grübeln. Was habe ich schon erreicht in meinem Leben? Eigentlich bin ich ja nur ein langweiliges 16-jähriges Mädchen vom Lande. Mein Leben könnte besser sein. Meine beste Freundin ist nicht mehr mit mir befreundet. Ich habe keinen Freund und hatte auch noch nie einen. Ich bin in Deutschland, während ich auch in Spanien für einen Schüleraustausch sitzen könnte, wenn meine Eltern nicht so engstirnig wären. Und Schule, naja dazu muss man nichts sagen. Schule lief auch schon besser. Alles in allem wäre man nicht verwundert, würde man erfahren, dass ich Depressionen hätte. Habe ich aber nicht. Irgendwas in mir hält mich am Laufen. Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendwas ist da.
Ich stehe auf und rücke den Sauerstoffschlauch zurecht. Mühsam schleppe ich mich zu meinem Kleiderschrank. Obwohl es nur fünf Meter sind, bin ich erschöpft wie nach einer Sportstunde Sprint. Meine Lunge rebelliert. Sie hat – gefühlt – inzwischen nur noch die Größe eines Golfballs. Die Sauerstoffflasche zockelt leise hinter mir her und erreicht schließlich meinen Standpunkt. Ich hole meine Lieblingsjeans heraus und ziehe sie an. Sie war einmal meine engste Hose, aber inzwischen ist selbst die zu weit und schlottert an meinen Knochenbeinen. Ich hole mein Lieblingstop heraus, aber auch diese schlottert an meinem knochigen Oberkörper mit den herausstehenden Schlüsselbeinen. Schlussendlich behalte ich meinen Schlafanzug an – den weichen, warmen mit den Herzen darauf. Im Endeffekt sieht mich ja eh niemand.
Mein weiterer Weg führt mich ins Badezimmer – auf die Waage. 45Kg steht da in dicken Lettern. Zu wenig bei einer Körpergröße von 1,74m. Ich schaue in den Spiegel. Meine Augen liegen in tiefen, dunklen Höhlen, die in großem Kontrast zu meiner bleichen, ungesund aussehenden Haut stehen. Helle Stoppeln rahmen mein Gesicht ein. Die Überreste meiner Haare. 45. Die Zahl geistert in meinem Kopf herum. 9 – die Quersumme von 45. 9 Monate – die Zeit, die mir noch bleibt. 9 Wochen – die Zeit bis zu meinem letzten Geburtstag. 9 Tage – die Zeit, bis zu meiner nächsten Chemotherapie. 9 Stunden – die Zeit, bis zur nächsten erlösenden Nacht. 9 Minuten – die Zeit, die ich ohne Sauerstoffflasche auskomme. 9 Sekunden – die Zeit, die ich für einen Atemzug brauche.