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712
712
Draußen regnete es. Der Mai war fast vorbei, trotzdem war es kalt, grau und nass.
Der Frühlingsaufbruch hatte die Bäume mit grüner Pracht gekrönt, aber es reichte bei Weitem nicht für die richtige Frühlingsstimmung.
Beide bereiteten sich auf den bevorstehenden Tag vor.
Er räumte das letzte Geschirr auf und steckte es in die Spülmaschine.
Sie zog den Regenmantel an, denn sie musste gleich los, um die Straßenbahn Nummer 712 zu erreichen.
„Hab ein schönen Tag“ sagte er, als sie ihn leicht auf die Lippen küsste. So leicht, dass die frische Farbe ihres Lippenstiftes unberührt blieb.
Sie öffnete die Tür und verschwand im Treppenhaus. Nur das „klack-klack“ der harten Absätze ihrer eleganten, dunkelbraunen Boots war zu hören. Der Klang wurde immer schwächer. Als nichts mehr zu hören war, wusste er, sie hatte den Hauseingang erreicht, dann schloss er die Wohnungstür.
Sie hatte den blauen Regenschirm geöffnet und eilte auf der Straße Richtung Friedrichstraße, wo sie in die 712 einsteigen würde.
Er zog seine Lederjacke an, schaute in den Spiegel und drehte die übliche kleine Wohnungsrunde, eher er das Haus verließ, um ins Atelier zu radeln.
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„O nein! Sie hatte schon wieder ihr Smartphone vergessen!“, brüllte er laut zu sich selbst, als er das Gerät auf dem Tisch entdeckte, es hing noch am Ladekabel.
„Sie wird es bestimmt vermissen“, dachte er, „ich werde versuchen, sie zu erreichen, eher sie in der Straßenbahn verschwindet ...“
Jetzt galt es, schnell zu handeln!
Mit dem Smarti in der Tasche eilte er zur Tür, dann die Treppe hinunter und zum Fahrrad, welches angekettet auf der Straße stand.
Schnell war der Zahlencode aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorgeholt und das Zahlenschloss der dicken Kette geöffnet.
Der Code entsprach seiner eigenen Postleitzahl. Immer wieder beschäftigte er sich mit Zahlensystemen, um der Flut neuer Codes und Nummernfolgen Herr zu werden, mal waren es Geburtstagsdaten aus der Familie, mal eine im Kopf abgespeicherte Telefonnummer oder aber eine bestimmte Ziffernfolge auf seiner Tastatur.
Zwischen den Regentropfen radelnd fuhr er die Straße hoch, bog zweihundert Meter weiter nach links ab, mit aller Vorsicht, denn als erfahrener Autofahrer wusste er, an dieser Kreuzung mangelte es so manchem Radfahrer an Rücksicht auf den Verkehr, der von rechts kam.
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Die Kirchfeldstraße gen Westen radelnd erreichte er die Friedrichstraße, wendete sich nach rechts – und musste feststellen, dass die 712 mit ihren zwei Wagons schon an der Haltestelle stand. Die Strasse war durch das hohe
Verkehrsaufkommen ziemlich verstopft.
„Wie soll ich wissen, wo sie eingestiegen ist?“, fragte er sich.
Er war schon auf gleicher Höhe mit der Bahn.
„Da ist sie!“
Er hatte ihre Gestalt entdeckt, als sie durch die erste Tür des zweiten Wagons
einstieg. Jetzt bewegte sie sich nach vorn und nahm im vorderen Teil des Wagons neben zwei Herren Platz.
Nach einen lauten „piep – piep“ schlossen alle Türen der Straßenbahn.
Wieder einmal wunderte er sich, wie schnell sie auf der Strasse vorankam. Ihre langen Beine und ihr Fortbewegungsrhythmus hatten sie schnell und weit getragen. Viel schneller als er es sich vorstellen konnte.
Was nun!?
Es blieb ihm nichts anderes übrig als zu versuchen, vor der 712 die nächste Haltestelle zu erreichen. Es waren nur fünfhundert Meter.
Es klingt sehr einfach. „Nur fünfhundert Meter“. Um neun Uhr morgens. Berufsverkehr. Viele Lieferanten und Lastwagen. Die Bürgersteige voll mit Fußgängern, die zur Arbeit oder zum Einkaufen gingen. Da sollte man trotz der
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Eile sehr vorsichtig sein, vor allem, wenn man mit dem Drahtesel unterwegs war.
Jede Berührung mit einem Element dieser Blechlawine konnte fatale Folgen haben. Die Friedrichstraße war für Radfahrer alles andere als geeignet. Es gab keinen Radweg, viel Verkehr, Bahngleise und vollgestopfte Gehwege.
Also Volldampf in Richtung Haltestelle „Graf Adolf Platz“.
Grüne Ampel. Die 712 steckte im Stau. Für ihn ging es vorwärts. Glück gehabt.
Ganz dicht am Rande des rechten Bürgersteiges radelte er schnell, nahm
Rücksicht auf die kuchenblechgroßen Rückspiegel der Nobelkarossen.
„Wenn ich die Herzogstraße überquert habe, wird es klappen“, dachte er.
Und tatsächlich! Grün auch an der nächsten Kreuzung.
Die Bahn blieb zurück. Bravo! Zum Glück war der Verkehr heute sehr dicht.
Vorwärts, immer vorwärts, am Sternverlag vorbei.
Ein schneller Blick nach hinten, die 712 hatte die Kreuzung erreicht. Innerhalb von Sekunden könnte er an der Halstestelle sein. Er trat noch einmal in die Pedale und stand im nächsten Augenblick auf dem Bahnsteig in der Mitte der Strasse. Das Rad lehnte er vorsichtig an die Trennwand aus dickem Glass und stellte sich so auf, dass sie sich direkt vor ihm befinden musste, wenn der Zug hielt.
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Die Bahn kam angefahren, und tatsächlich blieb sie genau so stehen, wie er geplant hatte.
Sie saß mit gesenktem Kopf auf der Bank. Jetzt blitzschnell handeln.
In die Bahn zu springen war keine gute Idee, denn Sekunden später würden sich die Türen wieder schließen.
Mit der Faust klopfte er kräftig an die Glassscheibe. Die Köpfe der Fahrgäste drehten sich zu ihm um und suchten den Grund für das überraschende Geräusch. Wieso klopfte da jemand von außen gegen die Scheibe!?
Die Zeit lief. Er klopfte ein weiteres Mal. Erst jetzt schaute sie auf – und guckte verblüfft. „Was machst du denn da!?“
Er winkte ihr mit ihrem Smartphone zu. Da lächelte sie und eilte zu Tür. Als sie die Hand nach draußen streckte, ging die „Piepshow“ los. Das Gerät hatte den Besitzer gewechselt. Im nächsten Moment waren alle Türen geschlossen. Die Bahn setzte sich in Bewegung.
Geschafft!
Später erhielt er eine SMS auf seinem Handy:
„Du bist ein verrückter Schatz – Danke!“