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70007

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03.01.2002
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70007

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Heute sind wir schon sehr lange im Bunker. Ich weiß nicht, ob es da draußen hell oder dunkel ist. Letzte Nacht war es wieder sehr laut. Die englischen Piloten sind über unsere Stadt geflogen und ha-ben ihre Bomben auf unsere Häuser fallen lassen. Mein Vater hat mir immer wieder zugesprochen, dass wir Kinder uns nicht fürchten sollen. Wenn es draußen wieder hell sein wird, dann werden die Angriffe aufhören. Ich wünsche mir, dass das stimmt. Aber unsere Strasse liegt in der Nähe des Ha-fens und so bekommen wir viel mit von den fürchterlichen Angriffen, weil hier wichtige Schiffe und Fabriken zu finden sind. Ich spiele mit meinen Schwestern in einer Ecke des Kellers mit Murmeln. Sie sind das einzige, dass ich in dem Moment in den Taschen getragen hatte, als meine Mutter in unser Zimmer rannte und uns an den Händen auf die Strasse zog. So sind sie nun unser letztes Spielzeug in den langweiligen Stunden, die wir hier unter den dumpfen Schlägen der Stadt über uns verbringen.

Plötzlich springen die Erwachsenen auf. Hektisch vertreiben sie einige unserer Nachbarn, die in der Mitte des Kellers sitzen. Außerdem werfen sie einige Koffer und Taschen zur Seite und legen ein paar Decken auf die freie Fläche. Eine Handvoll Männer kommt die kleine Treppe herunter. Für einen Moment sehe ich in die Freiheit dort oben. Rauch steigt aus den zersplitterten Ruinen, die einmal rich-tig schöne Villen waren. Dann schlägt einer der Männer die schwere Stahltür wieder zu. Erst jetzt sehe ich den jungen Soldaten, den die Männer auf den kleinen Schlafplatz legen. Sein langsamer und ge-presster Atmen drückt bei jedem Zug blutigen Schaum aus seinem Mund hervor, sein junges Gesicht kann ich nur noch schemenhaft unter der dreckigen und blutigen Haut erkennen.
Anstelle seiner schönen, schwarzen Uniform, die nur noch in Fetzen um seinen dünnen Körper hängt, sehe ich schlimmen Wunden an seinen Bauch. Ich kann hineinsehen. Am liebsten möchte ich das gar nicht, aber ich fühle mich irgendwie davon angezogen. Sein rechter Arm fehlt einfach. Der Junge tut mir leid. Er schreit aber nicht, sondern bleibt ganz ruhig liegen. Ich glaube, ich könnte das nicht. Er liegt einfach nur still auf seinem Bett und atmet angestrengt die stickige Luft hier unten im Keller.

Ich mag den Jungen. Seine Großeltern bewohnen das Haus gegenüber von unserem. Manchmal kommt er samstags zu Besuch und grüßt uns dann auch immer ganz freundlich. Dann bringt er auch Geschenke für uns mit, die ihm selbst einmal als Kind gehörten, neue Murmeln und andere schöne Dinge. Daran änderte sich nie etwas, auch wenn er jetzt mit seiner neuen schwarzen Uniform zu Be-such kommt. Seine Uniform trägt er immer ganz gerade und mit Stolz. Meine Mutter sagte dann, er wäre jetzt bei der Schutzstaffel und würde auch auf mich aufpassen. Das gefiel mir, den Jungen moch-te ich deshalb noch viel mehr als früher. Als ich meine Mutter fragte, warum er denn jetzt trotzdem hier wäre, lachte sie kurz auf und erklärte mir, dass auch Soldaten einmal Urlaub brauchen um nach Hause fahren zu dürfen.

Die Männer lassen ihn liegen. Sie gehen zu meinem Vater und sprechen mit ihm. Er ist Arzt und ich glaube, sie bitten ihn, die Verletzungen des Jungen zu behandeln. Mein Vater greift sich an seinen Bart und wischt sich anschließend mit seiner Hand über das Gesicht. Ich sehe, wie sein Blick für eini-ge Zeit auf den Jungen fällt und anschließend wieder zu einem der Männer. Sie sehen ihn weiterhin an, mein Vater schüttelt den Kopf. Ein anderer der Männer legt meinem Vater die Hand auf die Schulter und deutet mit seiner anderen auf den Jungen. Ich sehe Tränen über das Gesicht dieses Mannes laufen. Aber mein Vater schüttelt weiterhin den Kopf.

Ich trete vor. So stehe ich nun neben dem Jungen und beobachte ihn eine Weile. Sein Kopf kippt lang-sam in meine Richtung. Wir sehen uns an. Vielleicht hat er mich sogar erkannt, vielleicht aber auch nicht. Auf seinem Gesicht kann ich jedoch keine Antwort erkennen. Er sieht mich immer noch an, als mein Blick über seine Wunden wandert. Er sieht sehr schlimm aus. Auf seiner Halskette, die wie zwei große Halbmonde aussieht, steht eine Zahl. Hände greifen nach meinen Schultern und ziehen mich plötzlich von dem Jungen weg. Mein Vater sagt zu mir, dass ich mir das nicht ansehen darf.

Die Menschen im Bunker sprechen wieder. Erst leise, aber dann wieder ein wenig lauter. Mein Vater steht neben mir. Ich sage zu ihm, dass er Arzt sei. Er müsse dem Jungen helfen. Bitte, Papa, er sieht sehr krank aus. Mein Vater sagt, das geht nicht. Er würde bald bei Gott sein. Warum, Papa. Du bist Arzt. Du kannst ihm helfen. Gib ihm Medikamente. Mein Vater sagt nur, dass ich nicht hinsehen soll.

Niemand sieht zu dem Jungen hin. Ich setze mich in die Ecke des Bunkers und beobachte ihn still. Die anderen schauen immer noch weg. Meine Mutter spricht leise mit meinem Vater. Er sagt, sie würden ihm keine Schmerzmittel geben können, sie werden für Notfälle benötigt. Aber dies sei doch ein Not-fall, erwidert meine Mutter. Mein Vater weist sie zurück. Sie würde das nicht verstehen.

Der Atem des Jungen wird ruhiger. Blut läuft aus seinen Mundwinkeln und seinem Bauch heraus. Ich fange an zu weinen. Warum hilft ihm denn keiner? Verzweifelt klammere ich mich an meine angezo-genen Beine und schaue dem Jungen zu. Es sieht aus, als würde es ihm sehr weh tun. Ich fühle mich plötzlich so komisch. Als wäre ich der Junge, ich möchte das aber nicht. Mein Weinen wird lauter. Mit meinen schmutzigen Ärmeln wische ich mir meine eigenen Tränen aus dem Gesicht. Meine Mutter reicht mir ein Taschentuch. Ich falte es auf und schaue es mir genauer an.

Wenn keiner dem Jungen helfen möchte, dann muss ich das tun. Mein Vater hat mir immer meine Wunden abgetupft, wenn ich hingefallen bin und mich verletzt habe. Also gehe ich nun wieder zu dem Jungen. Ich wische den Dreck aus dem Gesicht des jungen Soldaten. Langsam wird er sauberer. An einigen Stellen sehe ich wieder seine helle Haut. Aber er atmet immer noch leise, es geht ihm noch nicht besser. Ich glaube, die Erwachsenen beobachten mich. Der Junge blutet dafür jetzt weniger aus dem Mund. Vielleicht habe ich es doch geschafft, denke ich.

Ich feuchte das Tuch an und mache weiter. Irgendwann höre ich sein schweres Atmen nicht mehr. Aufhören möchte ich nicht. Ein Mensch steht plötzlich neben mir und seine Hand streichelt über mei-nen Kopf.

Er ist tot, sagt mein Vater zu mir.

Crashterpiece

 

Hi Crashterpiece

wundert mich jetzt, dass ich der erste bin der auf deine Geschichte antwortet. naja, vielleicht kommen noch ein paar Antworten dazu.

zur Geschichte:
Ich fand sie gar nicht schlecht. Sie ist gut beschrieben und lässt sich leicht lesen. Das ist aber auch schon alles. Eine Beschreibung eben.
In deine Geschichte lässt sich mehr Tiefe einbauen.
Z.B könnte man die Personen und ihre Einstellung zum Krieg näher beschreiben (was vor allem bei dem jungen SS-Mann interessant wäre) oder man könnte eine Abneigung der Zivilbevölkerung gegenüber der SS deutlich machen.
Aber das muss der Autor selber entscheiden.

Wieso 70007 als Überschrift? Meinst du damit die Nummer auf der halbmondförmigen Kette?

Fazit zum Schluss:
Gut ausgeführte Kurzgeschichte, aber ohne Hintergrund

Grüße
Morticinus

 

Hallo Morticinus,

Danke für deine Anregungen, hatte schon fast vergessen, diese Geschichte hier abgelegt zu haben :)

Die Geschichte sollte aus besonderem Grund keine interpretationswürdige Tiefe haben. Ich habe die ganze Handlung aus Sicht eines Kindes beschrieben, deshalb die "leichte" Sprache und damit auch das Unverständnis des Erzählenden gegenüber den Ereignissen, sowohl im Bunker als auch in der Welt drumherum.

70007 ist eine kleine Zahlenspielerei von mir, denk dir die 7 und die 0 als Buchstaben, dann macht es einen makabren Sinn.

C.

PS: die Geschichte war ursprünglich mal als Beitrag zum Thema 'Sterbehilfe' gedacht...

 

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