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625 Gramm

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15.12.2011
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625 Gramm

625 Gramm

„Bettina, ich sage es dir. Meine Motivation ist am Ende. Ich kann nicht mehr. Dieses tägliche Hin und Her beutelt mich. Erst kommt der alte Roland Hartwig zu mir ins Büro und faselt irgendwas von: ‚Herr Gott, Westermann! Der Vorgang sollte schon vorgestern auf meinem Schreibtisch liegen! ‘ Allen Ernstes wollte er mir erzählen, dass meine Arbeit in letzter Zeit qualitativ nachgelassen hätte. Qualitativ nachgelassen. Für wen hält er mich? Weißt du, Bettina: Ich reiße mir seit fast 10 Jahren den Arsch für diese Firma auf, nur damit sich der Hartwig alle zwei Jahre einen neuen BMW leasen kann. Und ich? Ich fahre Straßenbahn – super.“

„500 Gramm Gemischtes, ne?“ Die Stimme von der Fleischfachverkäuferin Bettina war ebenso monoton und gelangweilt wie ihr gesamtes Erscheinungsbild, als sie den wehleidigen Mann vor ihr in seinem Redefluss unterbrach. Sie trug eine weiße Arbeitsschürze, dazu ein weißes Cap mit dem etwas verblichenen Logo des Supermarktes. Wie immer. Ihre Haare waren etwas fettig, ebenso wie ihre Haut. Wie gestern auch. Er bestellte 500 Gramm gemischtes Hackfleisch bei ihr. Wie fast jeden Abend. Dennoch fand er, dass sie in ihrem weißen Outfit wie ein Engel aussah. Ein etwas vernachlässigter Engel - aber Engel ist Engel. Er wollte ja auch kein ganzes Kilo Hackfleisch an seiner Seite im Leben, ein halbes reichte ihm vollkommen. Schätzte er sich selber auch nicht als mehr auf vielleicht 625 Gramm Gemischtes ein. Zumindest hatte er einen soliden Job bei einem Versicherungsunternehmen und lebte seine liebe Mutter noch, wäre sie mit Sicherheit stolz auf ihre 625 Gramm Schweine-Rinder-Hack namens Michael.

„Äh, ja. Genau. 500 Gramm, das reicht mir für heute. Aber um zurück aufs Thema zu kommen: Auch wenn ich meine Arbeit vielleicht manchmal etwas schlampig erledige, habe ich zumindest einen sicheren Job. Das kann man von manchen Leuten hier in der Stadt wohl kaum behaupten. Hier, der Uwe Mohrmann aus dem 2. OG in meinem Haus zum Beispiel. Wohnt direkt unter mir, weißt du. Der lümmelt seit Jahren arbeitslos herum. Säuft sich Tag für Tag die Hucke dicht und kriegt nichts auf die Reihe. Hab‘ gehört, der soll sogar Drogen nehmen. Und hör mir mal zu, der hat die gleiche Wohnung wie ich. Klar, er teilt sie mit seiner Frau, aber die bekommen sie trotzdem für nichts und wieder nichts. Ist das Gerechtigkeit?“

„Lieber zwei Tüten oder reicht dir eine?“ antwortete der Fleischengel Bettina, als die rustikale Waage 508 Gramm anzeigte. Es war kurz vor Feierabend und die Motivation der weißen Schönheit hinter der Frischfleischtheke sank parallel zum Fleischbestand in der gläsernen Vitrine vor ihr.

„Zwei, mach mal lieber zwei. Ich bin ja mehr der sichere Typ, weißt du. Halt ein Ordentlicher. Wo war ich stehen geblieben? Ach, Mohrmann und seine Frau. Weißt du, ich glaube, die Gute wird sowieso bald das Zeitliche segnen. Ich habe mich letztens mal mit dem Hausmeister unterhalten. Der kennt wohl jemanden, der einen Polizisten kennt. Hat wohl gesagt, der Mohrmann hat mal wegen Totschlag gesessen. Ein ganz Fieser also. Ich bin doch sowieso der Normalste in diesem Irrenhaus. Aber der Mohrmann ist der Schlimmste, das sag ich dir. Die streiten fast jeden Abend, richtig laut. Kannst mir doch nicht erzählen, dass der seine Frau nicht prügelt. Die rennt doch ständig mit einem langen Pulli rum. Das ist mir alles nicht geheuer. Und die Polizei macht da sowieso nichts. Die habe ich schon so oft angerufen, das glaubst du mir gar nicht. Irgendwann ist sie tot.“

„Hier dein Gemischtes. Und Michael, mach dir da keinen Kopf drum. Das wird schon alles seine Richtigkeit haben, Streit gehört nun mal dazu.“ Mit einem müden Lächeln reichte sie ihm die 508 Gramm schwere Tüte. „Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.“

Der Supermarkt, aus dem Michael hinaus spazierte, war direkt gegenüber der Straßenbahnstation und nur einige Minuten von seiner Wohnung entfernt. Seinen schwarzen Aktenkoffer in der Rechten und das Gekaufte in der Linken, schlenderte er über den Gehweg, entlang an alten Häusern und mit Graffiti besprühten Wänden. Die preisgünstige Krawatte um seinen Hals hatte er bereits in der Straßenbahn etwas gelockert. Seine Frisur sah nach 10 Stunden Akten wälzen aus wie die eines zerstreuten Professors. Wieso war er eigentlich alleine und Totschläger, Alkoholabhängige und Drogensüchtige wie Mohrmann hatten eine Frau, die trotz solcher Fehlschläge oder gewollten Schläge bei ihrem Mann blieben? Michael war stets bemüht, ein aufrichtiger Bürger zu sein, für seinen Besitz zu arbeiten und sich nichts schenken zu lassen. Aber solche Dinge konnte er nicht kapieren.

Mit der rechten Schulter presste er sich gegen die Eingangstür des Wohngebäudes. Sie war selten abgeschlossen, meist nur angelehnt. Stufe um Stufe erklomm er das Treppenhaus, ehe er im 1. Obergeschoss ungewollt stehen blieb. Aus dem Stockwerk über ihm ertönten wieder die gewohnten Streitgespräche der Mohrmanns. Mindestens einmal am Tag durfte er diesem gehässigen Gesang zuhören. Dann ein Türenknall. „Dumme Kuh!“ hallte es durch das Treppenhaus. Sekunden später schoss ihm ein erboster Uwe Mohrmann entgegen, das Treppenhaus hinab laufend, den Weg geradewegs Richtung Ausgang suchend. Ein flüchtiges „Moin“ folgte, als sich die Blicke der beiden Männer einen Sekundenbruchteil trafen. Michael blieb wortlos. Uwe Mohrmann war ärmlich gekleidet, wirkte jedoch keinesfalls asozial. Michael wusste aber, dass hinter der Fassade ein Monster lauerte. Er hatte es in vielen Filmen gesehen. Die Mörder und Verbrecher haben immer dieses Funkeln in den Augen, welches sie verrät. Und eben dieses Funkeln fiel ihm sofort bei seinem Nachbarn auf. Michael war sich totsicher; Mohrmann hatte eine Menge auf dem Kerbholz.

Einen kurzen Moment verharrte er im 2. Obergeschoss vor der Tür der Mohrmanns. War sie schon tot? Sollte er klingeln und fragen, ob es ihr gut geht? Vorsichtig legte er sein linkes Ohr an die Tür. Dahinter hörte er nur ein leises Schluchzen einer Frau. Einige Sekunde blieb sein offenes Ohr an der hölzernen Haustür gelegt. Als Michael jedoch Schritt hörte, ging er zügig die Treppe hinauf. Noch war sie am Leben.

Tief in Gedanken versunken rührte Michael monoton mit dem Kochlöffel seine Bolognese-Soße um. Die Küche war aufgeräumt, er achtete stets darauf, die nötige Sorgfalt in seinem Leben zu bewahren – schließlich wollte er nicht verwahrlosen. Doch im nächsten Moment schon wurde er aus den Gedanken gerissen und das Bild des Engelchens Bettina aus dem Supermarkt erlosch in seinem Kopf. Scheinbar war Mohrmann wieder zurückgekehrt. Das laute Knallen der Tür und ein erneuter lauter Streit ließen ihn dies zumindest vermuten. Normal stritten sich die beiden vielleicht einmal am Tag. Heute schien der Konflikt jedoch größere Ausmaße anzunehmen. Beide schrien sich an und sofern er die dumpfen Worte durch den Fußboden hindurch richtig beurteilte, schienen sie sich gegenseitig Vorwürfe zu machen und sich zu beleidigen. Oh Gott, er würde sie tatsächlich noch über den Haufen schießen oder ihr eine Axt inmitten… Michael schüttelte den Kopf. Er konnte nicht länger warten. Besorgt griff er nach dem Telefon. Drei kurze Töne hallten durch den Wohnungsflur, als er die 110 auf dem Nummernfeld wählte. Es begann zu klingeln - klingelte, klingelte. Mohrmann hätte seiner Frau schon die Kehle zugeschnürt, ehe jemand ans Telefon ginge. Ungeduldig tippelte Michael mit den Fingern auf der weißen Flurwand herum. Als dann nach einer schieren Ewigkeit ein leicht genervtes „Polizeinotruf. Was kann ich für Sie tun?“ durch das Telefon zu hören war, begann Michael, der Dame am Telefon seine Sorgen zu berichten…

Offensichtlich hatte sich der Anruf gelohnt. Es dauert eine Zeit, bis der Streifenwagen vor dem Haus mit eingeschaltetem Warnblinklicht parkte. Michael lag auf dem Fußboden und presste seinen Kopf gegen den abgenutzten Laminatboden. Ein Klingeln. Einige Zeit verstrich. Dann einige dumpfe, leise hallende Worte in der Wohnung unter ihm. Fußschritte. Scheinbar hatten die Polizisten die Wohnung betreten. Es ärgerte Michael, dass er das Gespräch nicht verstehen konnte, musste er doch wissen, was Mohrmann seiner Frau antat. Ein hastiger Sprung auf die Beine folgte und Michael eilte zur Küche. Sekunden darauf lag er erneut auf dem Boden, diesmal jedoch das Ohr auf einen Plastikbecher gepresst, welchen er sich auf dem Boden positioniert hatte. Michael horchte, horchte, horchte genauer und es brachte…nichts. Rein gar nichts. Er hörte nur, dass sich eine Tür schloss. Einen Moment später klingelte es an seiner Wohnungstür. Hektisch sprang Michael auf und öffnete die Tür. Den Becher verkehrt herum in seiner linken Hand haltend, stand er nun den zwei Uniformierten gegenüber. Der eine war offensichtlich kurz vor dem Ruhestand oder nur ziemlich mitgenommen von den langen Schichtdienstjahren. Jedenfalls begrüßte ihn ein durchschnittliches Gesicht mit Dreitagebart und tiefen Augenringen.
„Herr Westermann? Sie hatten uns angerufen?“ Michael versteckte den Becher hinter seinem Rücken, als er bemerkte, dass er diesen falsch herum in der Hand hielt.
„Ja, genau! Äh, ist alles in Ordnung da unten? Wissen sie, ich mache mir Sorgen um die Frau Mohrmann. Bei diesem Ehemann weiß man nie. Der hat…“ Mitten in seinem schnellen Wortfluss wurde Michael recht rücksichtslos von dem Beamten unterbrochen.
„Herr Westermann, ihre Nachbarn hatten lediglich einen kleinen Streit. Niemand ist verletzt. Das passiert nun mal in einer Ehe, wenn man einige Probleme zu bewältigen hat. Wir haben mit ihren Nachbarn gesprochen und es lässt nichts darauf schließen, dass dieser Streit noch weiter eskaliert. Versuchen sie einfach, den Streit zu ignorieren. Einen schönen Abend noch.“
Als Michael zum Gegenwort ausholen wollte, drehten sich die Polizisten auch schon wieder um und gingen die Treppe hinab. Unhöflich. Einfach nur unhöflich! Erbost schloss Michael die Wohnungstür. Das konnte nicht stimmen. Diese Beamten hatten einfach kein rechtes Auge für das, was da unten wirklich passierte. Wollten sich bestimmt nur vor der Arbeit drücken. Michaels Gedanken kreisten. Was könnte er denn noch tun, damit nichts Schlimmeres passierte?

Der Appetit war ihm vergangen. Michael stocherte mit der Gabel in seinen Spaghetti herum. Es war Ruhe eingekehrt in der Wohnung der Mohrmanns. Doch diese Ruhe bedrückte Michael. Wieso machte er sich Sorgen um diese Frau? Es war doch nicht sein Problem, sie hat es sich selber ausgesucht. Sie entschied sich für dieses Leben – er hatte rein gar nichts damit zu tun. Aber hatte sie es sich wirklich ausgesucht so zu leben? Wer würde ihr helfen, wenn nicht er. Sie hatte bestimmt niemanden anderes. Michael war ein ordentlicher Bürger, pflichtbewusst, einigermaßen gebildet. Dennoch war er nur Durchschnitt. Täglich ging er zur Arbeit, kam wieder zurück, legte sich schlafen. Derselbe Trott Tag für Tag. Ihm fehlte das besondere Etwas in seinem Leben.
War es nicht seine Pflicht, Leuten zu helfen, die vielleicht einen falschen Weg einschlugen? Im Fernsehen sah er immer wieder, wie wichtig es sei, Zivilcourage zu zeigen. Wäre er auch nur in der Lage, Frau Mohrmann ein bisschen zu helfen, könnte er sich gut fühlen. Er hätte etwas bewirkt. Michael setzte sich auf seine Couch im Wohnzimmer, legte die Beine hoch und schaute an die Decke.

Es war zehn Minuten nach sieben am Abend. Die Spaghetti waren mittlerweile abgekühlt und es begann wieder zu toben in der Wohnung unter ihm. Die Schreie waren noch lauter als bei der Auseinandersetzung zuvor. Michael blickte zum Telefon, schüttelte dann jedoch abwehrend seinen Kopf. Die Polizei tat eh nichts. Er hörte dem Geschrei eine Zeit lang zu, tippelte dabei nervös mit den Fingern seiner rechten Hand auf seinem Oberschenkel herum. Er würde selbst herunter gehen. Er richtete sich auf, strich sich die Falten aus seinem Hemd glatt und marschierte auf seine Wohnungstür zu. An diesem Abend wollte er zeigen, dass er mehr Gewicht auf die Waage brachte als 625 Gramm. Er war mehr wert.

Michael atmete tief ein und wieder aus, als seine Hand zur Klingel der Mohrmanns fuhr. Dann stockte er. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Er konnte die Schreie laut vernehmen. Leise schob er die Tür ein Stück vor. Direkt vor ihm war der leere Flur der Wohnung. Das Gebrüll kam jedoch aus der Nähe. Michael wagte einen Schritt in die Wohnung und verharrte einen Moment lang in der Türschwelle. Links von ihm lag die Küche der Wohnung. Dort stand sich das Ehepaar direkt gegenüber. Aggressiv wurde miteinander diskutiert, sich gegenseitig Vorwürfe gemacht und wild gestikuliert. Michaels Magen verkrampfte sich, der Puls schoss in die Höhe – Uwe Mohrmann hatte ein Messer in der Hand.
Michael hatte recht gehabt. Er wusste, dass es soweit kommen würde. Das war seine Chance, Schlimmes zu verhindern.

Und es war wie ein Film, der sich vor den Augen Michaels abspielte, als er sich von hinten auf Uwe Mohrmann warf. Die Arme fest um den Hals seines Nachbarn geschlungen, presste er sie fest zusammen, um den Mohrmann zu Boden zu ringen. Durch den ungeahnten Angriff stolperte Uwe Mohrmann nach vorne.

Frau Mohrmann schrie, doch diesmal nicht die üblichen Schreie. Keine Schreie der Verzweiflung. Keine Schreie des Hasses auf ihren Ehemann. Es waren Schmerzensschreie. Das Messer vergrub sich tief in ihren Unterleib. Blut schoss über die Hand ihres Ehemannes, ehe sie polternd mit dem Kopf auf die Küchenzeile schlug und stillschweigend auf dem Küchenboden zum Liegen kam.

Michael ließ ab von Uwe, stolperte erschrocken einige Schritte zurück. Seine Blicke trafen zuerst auf den Nachbarn, der fassungslos vor dem Körper seiner Frau stand. Die einzigen Geräusche in der Küche kamen vom brodelnden Wasser aus dem Kochtopf auf dem Herd. Neben dem Topf stand ein Holzbrett mit Gemüse, welches offensichtlich gerade eben von seinem Nachbarn mit dem Messer geschnitten wurde.

Michael lehnte sich an die Küchenwand und sank zu Boden.

 

Hallo zusammen,

die Geschichte ist sozusagen mein Erstlingswerk. War eigentlich für einen Kurzgeschichtenwettbewerb gedacht. Wollte es einfach mal ausprobieren, sowas zu schreiben. Hab's dann leider motivationstechnisch nicht geschafft sie fertig zu schreiben.

Aber irgendwie wäre es schade drum gewesen, sie halb fertig liegen zu lassen. Deshalb hab ich sie mal zu ende geschrieben, um mal zu gucken, wie das Feedback ist und ob ich vielleicht irgendwann mal was Neues schreibe oder ob jegliche Hoffnung verloren ist. :)

Bis dann

 

Hallo Boemmel

„500 Gramm Gemischtes, ne?“

Hier lese ich das ne als Verneinung, was mich stutzen liess. Mit einem oder wäre es mir sofort klar.

Die Stimme von der Fleischfachverkäuferin Bettina war ebenso monoton und gelangweilt wie ihr gesamtes Erscheinungsbild, als sie den wehleidigen Mann vor ihr in seinem Redefluss unterbrach.

Für das von sehe ich eigentlich kein zwingendes Erfordernis, die Stimme der Fleischfachverkäuferin beinhaltet es doch.

Ein etwas vernachlässigter Engel - aber Engel ist Engel.

Auch in der Vorweihnachtszeit, etwas viel Engel in einem solch kurzen Satz. Aber vielleicht liesse sich der eine Engel ja durch eine geeignete Formulierung ersetzen. Etwa: … - aber Engel sind einfach zauberhaft. Wobei das engelhafte lese ich nur in deiner Formulierung, das Bild der Fleischverkäuferin selbst zeigt mir eher das Gegenteil.

Hier, der Uwe Mohrmann aus dem 2. OG in meinem Haus zum Beispiel.

Finde ich jetzt nicht eine elegante Zeichenwahl in einem literarischen Stück. Lässt sich doch mit der Ausformulierung, zweiter Stock, schön einbinden. Auch anderswo schreibst du 1. Obergeschoss, da dasselbe.

Es war kurz vor Feierabend und die Motivation der weißen Schönheit hinter der Frischfleischtheke sank parallel zum Fleischbestand in der gläsernen Vitrine vor ihr.

Ein Text, der sich gut in einer Parodie einschmiegt, na ja, was sich da abspielt, ist es indirekt auch. Will es schlicht als ernsthaftes Thema durchgehen, wenn auch mit einem Augenzwinkern, ist es mir zu gekünstelt.

Was kann ich für Sie tun?“ durch das Telefon zu hören war, begann Michael, der Dame am Telefon seine Sorgen zu berichten…

Leerschlag zwischen berichten und Auslassungszeichen fehlt. Wobei, die Auslassungszeichen mir hier gar nicht erforderlich scheinen, ein Punkt hätte für den Sinn des Satzes den gleichen Effekt.

Ein pointiertes Ende fügte sich an. Vom Lesestrang her war es mir mühelos, doch hatte ich es als Leser einfach so hingenommen, ohne eigentliche Hochs und Tiefs. Die Figur des Michael, seine Persönlichkeit, konnte ich mir gut vorstellen, ein kleinlicher Durchschnittstyp von Mann. Der Inhalt gab mir aber etwas wenig Spielraum für eigene Bilder, es bot sich mir nur ein strikt dem Text folgendes Lesen. An manchen Stellen hätten vielleicht Andeutungen gereicht, die auf etwas nur zwischen den Zeilen Definierbares hinwiesen.

Im Nachtrag schriebst du dann:

Hab's dann leider motivationstechnisch nicht geschafft sie fertig zu schreiben.

Aber irgendwie wäre es schade drum gewesen, sie halb fertig liegen zu lassen. Deshalb hab ich sie mal zu ende geschrieben, um mal zu gucken, wie das Feedback ist und ob ich vielleicht irgendwann mal was Neues schreibe oder ob jegliche Hoffnung verloren ist.


Hier fragte ich mich, aus welcher Motivation du diese Geschichte denn begonnen hattest? Wenn es einzig darum war, einen Wettbewerb zu gewinnen, dann war es meines Dafürhaltens die falsche Motivation. Wenn es darum ging, dein Schreibtalent zu testen, kann ich auch höchstens die Schultern zucken. Wenn du aber einem inneren Bedürfnis folgend, aus Freude am Schreiben es tätest, wäre meine Antwort, die Motivation ergibt sich daraus von selbst.

Ich habe deine Geschichte soweit gern gelesen. Dass ein Erstlingswerk gerade umwerfend wird, ist eher unwahrscheinlich. Jede Geschichte erfordert nun mal vorab ein wenig Inspiration und dann jede Menge Arbeit, bis sie sich zu dem formt, was sich ein Autor wünscht. Dann ist aber immer noch der Brückenschlag zum Leser, der sich auch erarbeitet werden muss, indem man möglichst viele von diesen überzeugen muss, diese Geschichte zu lesen sei es der Wert. Dies gelingt manchmal besser oder mal weniger, wie jeder Autor erfahren muss. – Vielleicht ist dies dir ja ausreichend Motivation.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

erstmal vielen Dank für deine vielen Worte. War allerdings die letzten zwei Wochen im Urlaub und finde erst jetzt wieder Zeit, noch etwas dazu zu schreiben.

Hier lese ich das ne als Verneinung, was mich stutzen liess. Mit einem oder wäre es mir sofort klar.
Verständlich, jetzt, wo du es sagst. Der Hintergrundgedanke war halt, dass sich der normale Sprachgebrauch widerspiegeln soll. Wäre ein "nä?" an dieser Stelle nicht auch denkbar? Ein "oder?" ist irgendwie nicht das, was ich will. Hört sich irgendwie zu steif für die Fleischfachverkäuferin in meinem Kopf an.

Der restlichen Kritik schließe ich mich stillschweigend an. :)

Das mit der Motivation und dem Wettbewerb soll nicht falsch verstanden werden. Ich finde es nur hilfreich, ein gewisses Thema vorgegeben zu bekommen. Gerade, wenn man Anfänger ist und versucht, die ersten Geschichten zu schreiben. Ans Gewinnen habe ich weiß Gott nicht gedacht. Dass ich die Geschichte links liegen gelassen habe ist normal, das passiert mit vielen Dingen bei mir, wenn ich viel zu tun habe. Ich schreibe gerne, aber es soll halt auch nur ein Hobby sein und demnach finden andere Sachen Vorrang.

Nochmals Danke und Grüße

 

Hallo Boemmel

Er bestellte 500 Gramm gemischtes Hackfleisch bei ihr. Wie fast jeden Abend.

Was macht ein alleinstehender Mann fast jeden Abend mit 500 Gramm Hackfleisch? Selbst wenn jemand viel isst, reicht das - inklusive Spaghetti - eigentlich locker für 2 (Personen oder Abende).

Du versuchst viel in diese Geschichte zu packen: Einsamkeit, Entfremdung, anonymes Leben in der Grossstadt, Zivilcourage. Ich finde das sehr ambitioniert, und für ein Debüt grundsätzlich auch gelungen.
Als Kritik möchte ich anbringen, dass die beschriebenen Charaktere / Situationen sehr austauschbar sind. Der Konflikt mit dem Vorgesetzten, die Streitereien der Nachbarn, der Auftritt der Polizisten ... das ist nichts Besonderes, nichts Neues. Das sind viele Allgemeinplätze, die man irgendwie schon kennt. Ich denke, das kann man noch ein bisschen kreativer, individueller gestalten.

Das gilt nicht für die Szene an der Fleischtheke. Hier verstehe ich nicht, was es mit diesen Gramm auf sich hat, warum bezeichnet sich der Prot. selbst als "625 Gramm Gemischtes"? Auch die Faszination für die Verkäuferin (fettiges Haar, fettige Haut) verstehe ich nicht ganz. Ich nehme an, für ihn ist es eben eine - vielleicht die einzige - Bezugsperson, daher fühlt er sich irgendwie zu ihr hingezogen - aber das wird mir zu wenig deutlich, vor allem erscheint mir dann auch die "Vergötterung" durch ihn (Stichwort Engel) zu übertrieben. Besser könntest du das mMn dadurch darstellen, dass er bspw. einen Haufen Kleinigkeiten bei ihr kauft (dann kann er sich auch länger mit ihr unterhalten), die er dann beim Verlassen des Supermarkts aber einfach wegwirft. Dann würde deutlicher, dass es ihm hier um die Frau, die Unterhaltung geht.

Was ich am Ende nicht verstanden habe, warum ist die Tür der Nachbarn offen? Sag jetzt nicht damit der Prot. eintreten kann ... wenn das der Grund ist, musst du das umschreiben. Da musst du dir was anderes ausdenken, so einfach darf das nicht gehen (ich muss den Prot. irgendwie in die Wohnung bringen - also lass ich mal die Tür offen stehen).

Vom Stil her - ähnlich wie die Situationen - alltäglich, nichts Besonderes. Das darfst du aber bei einem Debüt durchaus als Kompliment auffassen, da gibt es auch viel Schlechteres. Angenehm wenig RS- oder Grammatikfehler. Aufgefallen ist mir:

Dahinter hörte er nur ein leises Schluchzen einer Frau.

"ein, einer" klingt nicht so gut. Warum nicht: "das leise Schluchzen einer Frau"?

Einige Sekunde blieb sein offenes Ohr an der hölzernen Haustür gelegt.

Sekunden

Es dauert eine Zeit, bis der Streifenwagen vor dem Haus mit eingeschaltetem Warnblinklicht parkte.

dauerte

Er würde selbst herunter gehen.

hinunter
Siehe auch: http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch/0,1518,341697,00.html

Also insgesamt ein gutes Debüt. Wie gesagt, ich würde mir noch kreativere Situationen und Charaktere / Dialoge wünschen. Und die offene Tür ... da musst du nochmal was machen, glaub ich ;)

Viele Grüsse.

 

Das mit dem " 'ne?" am Satzende ist in Norddeutschland doch durchaus geläufig. Ich verstehe das als Kurzform von "nicht wahr?"

 
Zuletzt bearbeitet:

kein schlechter erstling, finde ich.

das mit den 500 gramm hackfleisch pro tag finde ich auch zu viel - vielleicht solltest du ihm eine katze dazuschreiben. katzen sind immer gut und brauchen nicht viel aufmerksamkeit, auch nicht vom autor. :D

das "ne" finde ich nicht unpassend, hab's auch nicht als verneinung verstanden... aber es hat mich gewundert, dass sie den guten michael gedutzt hat... da fehlt wohl ein wenig vertiefung dieser "beziehung", gewöhnlich werden die kunden im supermarkt nicht gedutzt, auch nicht stammkunden.

das hier fand ich etwas unpassend:

Normal stritten sie nur einmal am Tag.

der gute mann war doch nur abends zuhause, da kann er das gar nicht wissen, und das vorher geschriebene suggeriert eigentlich eher einen dauerstreit.

Dennoch war er nur Durchschnitt.

gefällt mir auch nicht wirklich, weder als erzählerischer aspekt noch als selbsterkenntnis, nicht da, wo das steht.

die nummer mit den 625 gramm habe ich nicht wirklich verstanden. der verkäuferin engelsgleichheit ist auch ein wenig fragwürdig, die gehört irgendwie unterstrichen, finde ich.

aber liest sich ganz gut, am ende könnte der gute mann noch ein wenig fleisch gebrauchen (kein hackkfleisch ;) ), irgendwie.

 

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