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6 Holsten und ein Snickers

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16.07.2003
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6 Holsten und ein Snickers

Von Bäumen und Bahnen

Er müßte jetzt nur ein bißchen mehr Gas geben. Ein kleines bißchen mehr. Dann würde er das Lenkrad herum reißen und genau die große alte Eiche neben der Straße treffen. Er würde sterben, ganz bestimmt. Seit Monaten schnallte er sich im Auto nicht mehr an, eine Gelegenheit wie diese konnte immer kommen. Er gab nicht mehr Gas. Er fuhr ganz normal weiter und wie immer bestaunte er die große alte Eiche. Als er zu Hause war ärgerte er sich wieder einmal über sich selbst. Warum ließ er diese Gelegenheit nur immer wieder verstreichen? Nun ja, eigentlich wußte er warum. Blutüberströmt und verstümmelt, vielleicht sogar enthauptet in einem Autowrack aufgefunden zu werden war nicht das, was er sich vorgestellt hatte.

Er dachte nicht weiter darüber nach und plante statt dessen lieber sein Abendprogramm. Viel zu planen gab es eigentlich gar nicht, er würde wie immer um halb 10 mit der S- Bahn in die Stadt fahren und sich in seine Stammkneipe setzten, den einzigen Ort an dem er gerne war. Doch indem er sich einredete er würde den Abend planen entstand eine gewisse Spannung für ihn.
Um viertel nach neun stand er am Bahngleis Nr. 2, wie jeden Samstag in den letzten, weiß Gott, wie vielen Wochen. Er hatte heute gar nicht erst versucht jemanden zu überreden ihn zu begleiten. Viele Freunde hatte er ja sowieso nicht, und die paar Personen, die er Freunde nannte, hatten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit besseres zu tun. Wer konnte es ihnen verübeln, es war ja doch jeden Samstag das gleiche. Dieser kleine Laden zog ihn magisch an, obwohl er mit den meisten Leuten dort nichts anfangen konnte. Er war viel jünger als die übrigen Gäste, aber die Atmosphäre dort machte ihn einfach süchtig. Die meisten Leute die dort hinkamen blieben noch nicht mal lange genug um den Tresen zu finden. Doch er kannte sich inzwischen dort aus, die dunkle, melancholische Stimmung ließ ihn alles um sich herum vergessen.
Er hatte schon seinen Stammplatz, ein kleiner Tisch direkt neben dem Tresen. Die Bedienung brachte ihm ein Holsten, das erste von durchschnittlich 6 pro Abend. Er mochte die Bedienung, ein junges, blondes und im Gesicht etwas bleiches Mädchen, sehr gern. Schon mehrmals hatte er überlegt sie anzusprechen, sie zum Beispiel ins Kino einzuladen, aber er konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen. Er hatte dann immer eine Münze geworfen aber bis jetzt war sie immer auf der falschen Seite gelandet. Auch an diesen Abend hatte er sich nicht getraut und so bezahlte er um halb eins seine Rechnung und ging in Richtung Bahnhof. Wie schon so oft vorher sah er die Junkies auf der einen Seite des Bahnhofs, auf der anderen standen ein par Dealer und unterhielten sich miteinander. Es war erst ein paar Wochen her, als er von einem der Männer etwas Stoff gekauft hatte.
Er hatte sich vorher informiert, wie viel man konsumieren sollte, dann hatte er bei dem Dealer die doppelte Menge gekauft. Nachdem er sich auch eine Spritze besorgt hatte schien alles ganz einfach. Er würde sich einfach das ganze Zeug auf einmal in eine Vene spritzen. Das konnte nicht gutgehen, bestimmt würde er gar nichts merken und einfach nie wieder aufwachen. Als er alles vorbereitet hatte setzte er sich die Spritze an den linken Arm. Er sah die das Blut durch die Vene pumpen, zumindest glaubte er, es sehen zu können. Die Nadel glänzte im Licht und war nur noch wenige Millimeter von der Haut entfernt. Aber er konnte es nicht. Er konnte sich diese Nadel einfach nicht in den Arm rammen. Nachdem er das eingesehen hatte versteckte er die Spritze. In der Nacht schlich er sich aus dem Haus und vergrub die Spritze in dem Sandkasten eines Spielplatzes in der Nähe.
Diesmal ließ er die Junkies zu seiner linken und die Dealer zu seiner Rechten einfach stehen. Langsam ging er die Treppen zum Bahnsteig hinauf und setzte sich, oben angekommen, auf eine Bank. Der Bahnsteig war menschenleer und so stieg er runter auf die Schienen. Wie lang ist wohl der Bremsweg einer handelsüblichen, deutschen S- Bahn? Würde sie anhalten können, wenn er 50 Meter vor ihr einfach plötzlich auf die Gleise springen würde? Er hatte sich auch diese Fragen schon unzählige Maße gestellt, zu einer Antwort war er aber nie gekommen. Er stieg wieder auf den Bahnsteig und kaufte sich an einem Snackautomat ein Snickers. Die Anzeige prognostizierte die Ankunft des Zuges für in drei Minuten. Als er die S- Bahn in der Ferne sah stieg er wieder hinunter auf die Gleise. Er biß noch einmal in sein Snickers und warf das letzte Stück weg. Die S- Bahn kam immer näher und er begann ihr entgegen zu gehen. In der Dunkelheit der Nacht schien der Zugführer die einsame Person auf den Gleisen nicht zu sehen und langsam packte diese einsame Person die Angst. Inzwischen erschien der Zug unglaublich groß und irgendwie auch böse. Er verstand nicht warum die S- Bahn nicht endlich bremste, aber das typische Quietschen war nicht zu hören. Im letzten Moment sprang er von den Gleisen. Er landete in einem Gebüsch und blieb erst mal auf dem feuchten Boden liegen.
Er war sauer. Er war sauer und verärgert. Er war sauer und verärgert und unglaublich von sich selbst enttäuscht. Um sich zu bestrafen lief er den ganzen Weg von dem feuchten Gebüsch bis zu sich nach Hause.

Die ganze Woche über mußte er an den Vorfall denken. Noch eine Woche später, als er wieder an seinem Tisch neben dem Tresen saß mußte er daran denken und entschloss sich, es heute abend besser zu machen. „Dieser Laden hier scheint dich ja echt zu faszinieren.“ sagte eine nette, etwas schrille Stimme von der Seite. „Dabei dachte ich das hier nur Selbstmordkandidaten und erfolglose Lehramtsanwärter herumhängen.“ Er schaute auf und konnte seinen Augen nicht glauben. Vor ihm stand die Bedienung, und sie lächelte ihn an. Es dauerte einige Augenblicke bis er antworten konnte. „Nun ja, so genau weiß ich selber nicht warum ich immer wieder hierhin komme.“ sagte er und konnte kaum glauben was ihm da passierte. Ob sie auch eine Münze geworfen hatte? „Wie wär´s ,wenn ich dir nächstes Wochenende mal einen anderen Laden zeige? Freitags habe ich immer Zeit!“ Hatte sie jetzt etwa ihn gefragt ob sie mal was zusammen machen sollen? Ja, sie hatte. Er konnte gar nicht schnell genug antworten, die Worte schienen ein Rennen zu veranstalten welches zuerst aus dem Mund heraus kommen durfte. „Ja, natürlich. Soll ich dich vielleicht abholen oder so?“ Er sollte. Sie gab ihm ihre Adresse und sie tauschen ihre Telefonnummern aus.

Es war Freitag, und es sollte ein ganz besonderer Tag werden. Er stieg ins Auto, schnallte sich an und fuhr los. Schon die ganze Woche hatte er sich überlegt wie denn der Abend wohl werden würde und inzwischen war er absolut optimistisch.
Wieder einmal kam er zu der Stelle mit der alten Eiche. Wie lächerlich seine Ideen doch noch vor kurzem waren. Freiwillig gegen eine Eiche fahren, er mußte über sich selbst lachen. Als er sich wieder auf die Straße konzentrierte sah er nur noch, wie eine große Limousine auf ihn zukam. Er sah den Fahrer im anderen Auto, er konnte seine Angst spüren. Er riß das Lenkrad herum, ein ungeheures Glücksgefühl überkam in als die Limousine an ihm vorbei fuhr. Sekunden später, wenn es überhaupt Sekunden waren, knallte er in die Eiche. Sein Airbag ging nicht auf und er merkte, das er Pech gehabt hatte. Ein letztes Mal öffnete er die Augen. Er sah das Blut auf seinem Hemd und auf seinen Händen. Er schloß die Augen wieder und er nahm nichts mehr war. Ein letzter Gedanke hielt ihn noch kurz wach: ob das mit dem Zug nicht weniger schmerzhaft gewesen wäre?


alexb

P.S.:Entschuldigt bitte die Titeländerung, aber bei nochmaligem Lesen gefiel mir der ursprüngliche Titel "6Holsten und ein Snickers" einfach absolut nicht mehr!

 

Ein toller Text! Es macht einfach Spaß, ihn zu lesen, obwohl das Ende schon irgendwie abzusehen war. Mir gefallen deine inneren Monologe und wie du die Verzweiflung des Protagonisten beschreibst.

Eine originelle Idee von dir war es, die eigentliche Ursache seiner Selbstmordgedanken NICHT zu erwähnen, damit man sich mehr auf seine Versuche, sich selbst umzubringen, konzentrieren kann. So rum wirkt das ironische Ende dieser Geschichte gleich doppelt so intensiv.

 

@ Jingles:
Danke! Freut mich, dass er dir gefallen hat. Das mit dem Selbstmordgedanken beschreibst du genau richtig: es geht nicht um das "warum", sondern um das "wie"...

 

Also, mir hat die Geschichte gut gefallen. Sie ist für mich allerdings eher humoristisch und nicht so tragisch. Deshalb stört mich auch nicht, dass er am Schluss stirbt. War das Absicht?
Den Schluss finde ich sehr gelungen, wäre doch schade, wenn er überlebt hätte.

Liebe Grüsse!
Berian

 

@ Berian:
Nein, sie sollte wahrlich nicht tragisch sein, kann sie, meiner Meinung nach, auch gar nicht, nachdem was alles vor seinem Tod passiert...Stimmt also, dass sie eher humoristisch ist!

 

Naja, das Ende war dann doch vorhersehbar, aber ich hätte ihm durchaus noch ein Treffen mit der Bedienung gewünscht...
Sonst hab ich nix dran auszusetzen.
Lord

 

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