58° Nord
Wie jede Nacht, seit er gegangen ist, wacht sie auf. Es ist 2:56 Uhr. Doch diesmal ist es anders. Sie spürt eine fremde Unruhe. Sie schwingt sich aus dem Bett, schlüpft in die verbeulte Jogginghose und wirft sich sein altes kariertes Flanellhemd über. Sein Duft hängt noch immer in den Fasern. Nicht möglich nach so vielen Jahren und doch fühlt sie sich gleich wohlig in seine Arme genommen.
Sie ist leise, obwohl sie niemand hören kann. Bewegt sich fast lautlos, tritt hinaus in die Dunkelheit. Es ist eine dieser Nächte, die er so geliebt hat. Der Vollmond strahlt in seiner unfassbaren Kraft. Die Wolken ziehen an ihm vorüber. Diese Mystik flüchtiger Formationen, nur vom Licht des vollen Mondes hinterleuchtet – diese einzigartigen Momente faszinierten ihn sein Leben lang. Er sagte, der Mond lege in diesen vergänglichen Augenblicken den Lauf der himmlischen Veränderung frei.
Sie erinnert sich, als sei es gestern. Erinnert sich an das erste Mal, als sie mit ihm dieses Himmelsschauspiel erlebte. Ihre Gedanken schwebten, ihre Gefühle tanzten und sie hatte das unbedingte Gefühl ihre Seele frei lassen zu müssen, in der Hoffnung, dass sie ihre Sehnsüchte ans Firmament schreibe. Und so geschah es. Ihre Seele malte Fantasien in den Himmel. Ausladend und kunstvoll. All ihr Streben nach Glück, der Drang nach Freiheit, der Wunsch nach Teilhabe ... sie sah es, hoch oben in diesem atemberaubenden Gewölbe.
Er legte seinen Arm um sie und sie spürte, er konnte ihre Seelenhandschrift entziffern. Sie lasen gemeinsam. Sie hatte das Gefühl in dieser Wonne aufzugehen. Erst sehr viel später verstand sie die Dimension der Bilder und geheimnisvollen Nächte. In diesen besonderen Stunden wird ihr bis heute deutlich, dass alles in Bewegung ist. Harmonisch und bedrohlich. Immer. Nicht nur die Wolkenformationen erneuern sich mit jedem Wimpernschlag, selbst der scheinbar stillstehende Mond wandelt sich in jeder Sekunde.
Und noch viel später stellte sie den Bezug zu ihrem Leben her. Sie begriff, was es bedeutet sich der universellen Bewegung hinzugeben, zu schwingen im Rhythmus des Schöpfungsprozesses, einzutauchen in den Fluss des Lebens, um sich immer wieder zu erneuern.
Es ist nicht mehr weit. Die Leuchtkraft des Mondes weist ihr den Weg. Schon aus der Ferne hört sie die tosende Brandung. Je dichter sie kommt, desto stärker klopft ihr Herz. Ihre Schritte werden sicherer und bestimmter. Im Mondlicht sieht sie die vom Wind angetriebenen und sich brechenden Wellen näher kommen. Ihre Augen haben sich längst an das diffuse Licht gewöhnt. Geschmeidig wie ein Panther bewegt sie sich über den Strand, klettert über die Findlinge und kraxelt auf den, der direkt ins Meer hineinragt. Das Dröhnen der nahenden Flut übertönt die Gedanken in ihrem Kopf. Sie setzt sich auf den wuchtigen Stein. Er ist kühl und feucht. Sie gibt ihm von ihrer Körperwärme.
Während sie so dasitzt, die Arme um die herangezogenen Knie geschlungen, schaut sie unablässig in die Gischt und den Meeresschaum, verliert sich im nicht sichtbaren Horizont. Der Wind singt ein Lied. Zunächst hört sie nur ein Summen, doch je weiter sie in das Tosen der Brandung lauscht, desto lauter erklingt eine Melodie. Sie wiegt sich, schaukelt sich. Sie neigt sich immer weiter zur Seite. Zeitlupenartig schmiegt sie sich an das feuchte Gestein. So, in Embryohaltung seitwärts liegend, sieht sie nun Meer und Mond, Wasser und Wolken. Ein Mischpult in ihrem Kopf führt das Tosen der Brandung und den Klang des Windes zusammen und sie hört eine Stimme. Die Komposition öffnet ihr Herz. Sie weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist. Sie weiß nicht, wie lange sie nun schon hier liegt und es interessiert sie nicht.
Sie bemerkt nicht, wie das Wasser unablässig höher steigt. Sie spürt nicht, dass sie bereits komplett durchnässt ist und eingehüllt vom Wassernebel. Die ersten Wellen brechen an ihr. Sie lauscht ohne Unterlass dem Klang dieser sonoren Stimme. Sie versteht die Worte nicht und doch weiß sie, dass sie sich wieder in den Armen liegen werden. Das Meer umhüllt sie. Sie schließt die Augen und spürt wie die Flut sie komplett erfasst. Mit der nächsten Welle wird sie wegtragen. Sie löst sich auf. Jetzt: Jetzt ist sie bereit »Liebster. Ich komme zu dir.«