- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
5 vor 12
Die Turmuhr war kaputt. Jeder Tag dauerte fünf Minuten. Matthias war das ganz recht, er hatte seine Zeit sowieso immer nur vertrödelt, wie es die Mutter ausdrückte.
Wenn er von der Schule kam, schlenderte er gemütlich ins Stadtzentrum, kaufte sich ein Schweineohr beim Bäcker und setzte sich auf die Parkbank beim Brunnen.
Die Turmuhr war von hier aus gut zu sehen, sie stand auf dem Rathaus und noch vor kurzem hatte er dem Brunnen beim Fließen zugeguckt, den Menschen beim Gehen und dem Zeiger beim Schleichen.
Eine dicke Frau kam vorbei, ein kleines Mädchen an der Hand. Armes Kind, bei einer so fetten, schnaufenden Mutter mit Doppelkinn und Schwabbelkörper! Tapferes Kind, bei einer so fetten, schnaufenden Mutter! Das Mädchen war dünn, sah nett aus, hatte eine kleine Nase und dunkelbraune Augen. Ob es wohl auch mal so dick und hässlich werden würde, wie die Mutter?
Das Mädchen tat Matthias leid, die Frau zog es am Arm, folgsam ließ es sich schleifen, friedlich glitt es in sein Unglück. Matthias putzte sich die Nase. Die Füße waren kalt. Die Turmuhr zeigte immer noch fünf vor zwölf, auch wenn das Schweineohr längst aufgeknabbert war. Der Brunnen plätscherte sein Wasser, die Menschen gingen ihre Wege.
Der Zuckerguss schmeckte im Mund weiter. Das Leben war durchwachsen. Voll von eigenartigen Dingen, anstrengend. Da war der Taubenmann mit den krummen Beinen. Er schmiss und die Tauben pickten. Zur gleichen Zeit kam, fünf vor zwölf zeigte die Turmuhr, der Krawattenmann vorbei. Heute trug er seine gepunktete Krawatte, immer den gleichen Anzug, immer der gleiche Gesichtsausdruck. Er beachtete den Taubenmann mit den krummen Beinen gar nicht, aber blickte zu Matthias. Selten tat er das.
Der Taubenmann mit den krummen Beinen guckte den Krawattenmann an. Dabei war der doch der komische und der Krawattenmann der normale!
Der Krawattenmann nahm seinen grimmigen Blick von Matthias und richtete ihn wieder grade auf seinen Weg, schritt schnell an Matthias vorbei und verschwand in der Menge.
Der Brunnen platschte, die Menschen gingen ihre Wege und die Uhr zeigte fünf vor zwölf.
Da kam das Mädchen, es warf den täglichen „warum sitzt der Junge da wieder?“ –Blick auf Matthias, nur einige Sekunden. Matthias mochte sie, lange hellbraune Haare, blaue Augen, ein viel schöneres Gesicht, als man es im Fernsehen zu sehen bekommen könnte. Warum saßen Millionen Menschen täglich vor dem Fernseher, und nicht alle um das Mädchen herum, um es immer zu anzustarren? Warum saßen sie nicht bei Matthias, sahen das schönste Gesicht der Welt, das sie, und nur sie, einige Sekunden mit seinem Blick ehrte und dann weiter ging, auf dem Weg von der Schule nach Hause, den sogar das schönste Mädchen der Welt gehen musste! Wenn Matthias daran dachte, dass sie jeden Tag aufstand – wie er – sogar wie der Taubenmann. Jeden Tag die gleichen Strapazen und Geduldsproben über sich ergehen lassen musste wie er! Die Menschen in der gleichen Kleinstadt ertragen musste! Wenn er daran dachte, dass sie die gleiche Luft atmete und die gleichen Geschäfte tätigte wie er! Das alles war unvorstellbar, das konnte nicht stimmen! Da musste etwas sein, das alles erklärte. Seine Gene konnten nicht zu neunundneunzig Prozent mit denen des schönsten Mädchens der Welt übereinstimmen!
Sie konnte nicht ernsthaft in dieser Stadt leben und alltägliche Dinge machen wie er. In Wirklichkeit war sie von Aliens eingesetzt, die das Sexualverhalten von Menschen anhand von einem perfekten weiblichen Wesen erforschen. Dabei spielte sie zwar, als führe sie ein ganz normales Leben, mit allem was dazu gehört, aber menschliche Grundfunktionen waren völlig überflüssig und der Perfektion samt deren Reiz abträglich!
Nur wenige konnten das erkennen und wenn es Menschen erkannten, dann waren das so welche wie Matthias. Viel zu ängstlich, zu scheu dazu zu dem zu stehen, was sie selbst dachten. Eigentlich viel zu Scheu sie anzusehen, aber unfähig wegzusehen, wie ein Hase, der einen LKW betrachtet, der auf ihn zugefahren kommt.
Der Brunnen plätscherte zustimmend. Die Uhr zeigte fünf vor zwölf und die Menschen taten so, als sei alles ganz normal, als gäbe es keine Aliens weit und breit, obwohl grade das schönste Mädchen der Welt an ihnen vorbei gelaufen war. Grade so als sei nicht jeder einzelne von ihnen ein einzigartiges Wesen, entstanden durch mehr Zufälle, als es Atome im Universum gibt, (gewagte These) direkte Nachfahren von einem aus dem Nichts, entstandenen oder auch einigen aus dem Nichts entstandenen Einzellern (wenn es so etwas damals schon gab)! Fast so, als sei es nicht fünf vor zwölf und als treffe das alles nicht auch für den Taubenmann mit den krummen Beinen und dem ungepflegten Auftreten zu!
Der Taubenmann! Es war jetzt fünf vor zwölf und sie ließ auch heute nicht auf sich warten. Sie, die alte Frau, „Oma“ in der Jugendsprache genannt. Die einzige Person, die sich um den Taubemann kümmerte. Ihr Hund (Schnuffi), an der linken, einen Gehstock in der rechten (wie klischeehaft), machte sie heute die Entdeckung, die sie jeden Tag machte:
Ein Mann, in den Fünfzigern, von kleiner Gestalt mit krummen Beinen, ungepflegtem Aussehen und einer Tüte voll mit Brotkrumen erdreistet sich doch tatsächlich die ihr (und ihrem Hund) so verhassten Tauben zu füttern!
Oma schrie, Schnuffi bellte und die Tauben flogen davon, der Taubenmann rannte weg, nur die Turmuhr stand noch immer.
Da kam ein Junge, erst schaute er Matthias an, dann kaufte er sich ein Schweineohr beim Bäcker und setzte sich an den Brunnen – direkt neben Matthias!
Der Junge knabberte an seinem Schweineohr, betrachtete den Brunnen, die Menschen und manchmal schielte er zu Matthias herüber. Als er es aufgegessen hatte, so dass der Zuckerguss im Mund nachschmeckte, streckte er sich kurz auf der Bank aus und stand dann auf, um zu gehen.
„Wo willst du hin?“, fragte Matthias. Der Junge drehte sich um und guckte Matthias etwas skeptisch an. „Wieso fragst du?“, fragte der Junge. „Weil es mich interessiert!“, antwortete Mathias. Es war fünf vor zwölf, der Brunnen plätscherte und der Junge legte den Kopf leicht nach hinten und zog die Stirn in Falten, er überlegte. „Gäbe es irgend einen Grund hier zu bleiben?“, fragte der Junge. „Nein, heute nicht mehr! Du musst morgen um zwölf Uhr kommen!“