5 Pillen
Ich schlucke. Das war meine letzte Pille. Seit geraumer Zeit wandere ich durch die Stadt, ohne Weg und ohne Ziel. Tagsüber treibe ich mich im Getümmel herum, ständig auf der Suche, ohne zu wissen wonach, nur um nachts wie gerädert durch die Straßen zu taumeln. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Seit geraumer Zeit fehlen mir genau zwei Dinge: Schlaf und Inspiration. Manchmal begegne ich faszinierenden Menschen oder einige belauschte Gespräche ziehen mich in ihren Bann, doch daraus entsteht nichts ... Größeres. Bereits nach kurzer Zeit kommt es mir vor, als würde ich Unsinn auf die Leinwand bringen, den reinsten Kitsch oder etwas völlig Banales, als wäre ich der schlechteste Künstler auf Erden. Immer wenn ich an diesen Punkt komme, nehme ich eine Pille.
Ich weiß, dass ich noch einige Minuten Zeit habe, bis sie wirkt, also verlasse ich den U-Bahn-Wagen, in dem ich fast den ganzen Tag verbracht habe, und suche mir eine Bank am Bahnsteig. Vor meinen Augen beginnt es zu dämmern, während meine Gedanken im Nichts verschwinden und mir mein Bewusstsein entgleitet.
Ich schieße senkrecht in die Höhe. Das kalte Neonlicht strahlt so hell, dass die Welt um mich herum lediglich weiß zu sein scheint. Von einer plötzlichen Unruhe ergriffen rappele ich mich auf und stolpere über den Bahnsteig. Langsam klärt sich mein Blick, aber alles, was ich wahrnehme, wirkt intensiver und leuchtender. Dennoch bleiben die Konturen verschwommen und jedes einzelne Geräusch wird in meinem Kopf tausendfach verstärkt. „Hallo?“, rufe ich. Nur mein Echo antwortet mir. Die tanzenden und bunten Flecken vor meinen Augen kommen auf mich zu, hämisch lachen sie mich aus. Plötzlich beginnt die Erde zu beben und ein ohrenbetäubendes Geratter brüllt durch meinen Kopf. „Ich sterbe!“, schreie ich verzweifelt. Plötzlich tut sich ein Abgrund vor meinen Füßen auf, doch eine Hand packt mich von hinten und zieht mich zurück. Ich blicke in das Gesicht einer Frau von elfenhafter Gestalt in einem langen, weißen Gewand und mit fließend blonden Haaren. „Ich sterbe“, flüstere ich heiser, während sie mich langsam zu Boden gleiten lässt und meine Augen schließt.
Mein Kopf zuckt nach oben, als wäre ich soeben aus einem unruhigen Schlaf erwacht. Unter meinen Füßen spüre ich das vertraute Ruckeln der U-Bahn. Nur ein Traum, denke ich und atme tief durch. Der Wagen hält und ich gähne. Gerade als sich die Türen wieder schließen, erblicke ich auf dem Bahnsteig ein bekanntes Gesicht, umrahmt von goldenen Wellen. Ich blinzele. Jetzt schaut mir die Frau direkt in die Augen. Dann fährt der Zug an und ich bin so perplex, dass ich ins Stolpern gerate. Dabei rutscht ein kleines, silbernes Pillendöschen aus meiner Hosentasche. Es klimpert. Ich hebe es auf und traue meinen Augen nicht. Darin liegen zwei Pillen. Ich nehme eine davon.
Ein Schlag auf den Kopf holt mich in die Realität zurück. „Bist du schon wieder weggepennt? Junge, du musst entweder mehr oder weniger trinken, aber so geht das hier nicht weiter!“ Ich sitze an der Bar einer überfüllten Diskothek und der junge Mann mir gegenüber schenkt den Gästen großzügig Tequila ein. Er zögert kurz, dann trinkt er den Rest der Flasche selbst. „Salz und Zitrone sind aus, das musst du jetzt so kippen!“, brüllt er über den undefinierbaren Lärm hinweg in meine Richtung. „Ich trinke nicht mehr“, murmele ich zurück. Dann stehe ich auf und mache mich auf den Weg zum Ausgang. Was hat dich nur geritten, hierher zu kommen, frage ich mich, während ich vorwärts durch die hüpfende Menschenmasse drängele. Da höre ich auf einmal links von mir ein Klirren. „Entschuldigung“, nuschele ich und beginne die Scherben eines Glases aufzusammeln, das ich einer jungen Frau versehentlich aus der Hand geschlagen haben muss. „Ich räume das we-“, will ich sagen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Vor mir steht die Gestalt im weißen Kleid und schaut mich mit unergründlichem Blick an. Einen Moment ist in der Menge verschwunden. „Warte!“, rufe ich, doch meine Beine werden schwer und alles beginnt, sich zu drehen. Dann falle ich zurück in die dunkle Leere, aus der ich gekommen bin.
Ich sitze am späten Abend im Stadtpark und füttere Enten. Mich plagt noch immer diese endlose Leere, das Gefühl, vollkommen gefühllos zu sein. An mir vorbei ziehen allerlei Menschen, doch keiner von ihnen weckt meine innere Muse. Da setzt sich wie aus dem Nichts eine Frau neben mich. Ich brauche nicht genauer hinzusehen, um zu wissen, dass sie ein weißes Kleid trägt. „Warum fütterst du die Enten?“, fragt sie. „Ich habe absolut nichts Besseres zu tun. Alle Ideen, alle Pläne, die ich verfolge, erweisen sich als reiner Staub.“ Eine Ente klaut mir ein Stück Brot aus der Hand und quakt mich böse an. „Wenn du die Dinge immer verfolgst, ist es kein Wunder, dass sie vor dir weglaufen“, sagt sie, nimmt etwas Brot und wirft es der griesgrämigen Ente hin. Von ihrer Anwesenheit bekomme ich Kopfschmerzen. Beinahe automatisch wandert meine Hand in die Hosentasche. „Auch eine?“, frage ich die Frau und halte ihr das geöffnete Pillendöschen hin. Sie schaut mich an und steht wortlos auf. Eine besonders aggressive Ente beißt mir in den Finger und ich fluche laut. Als ich wieder aufblicke, fehlt jede Spur von blonden Locken oder einem weißen Kleid. Also nehme ich die drittletzte Pille und schlucke.
„Hey, ich hab dich was gefragt!“ Verwirrt blicke ich auf. Ich sitze in einem kleinen, gemütlichen Kaffee gegenüber einer blonden Frau in einem weißen Kleid. „Tut mir leid, bin gleich wieder da“, nuschele ich und flüchte in Richtung WC. In einem etwas schmuddeligen Spiegel starren mich dunkel umrandete Augen erschöpft an. Aus Reflex umschließt meine Hand das silbernes Pillendöschen in meiner Hosentasche. Nein, sage ich zu mir selbst, du schaffst das auch ohne, und kehre zum Tisch zurück. „Also, was studierst du?“, fragt sie wieder. „Ich arbeite an einer Bewerbungsmappe für ein Kunststudium, aber mir fällt partout nichts ein, was ich zu Papier bringen könnte.“ „Wie wäre es denn mit mir?“ Sie lächelt mich an.
Schwer atmend erwache ich in meinem Bett. Vor mir steht mein Mitbewohner und schaut mich besorgt an. „Du hast schon wieder im Schlaf geschrien, du solltest da echt mal was machen.“ Ich schaue ihn mit großen Augen an. „Hast du eine von den Dingern genommen, die ich dir gegeben habe?“, fragt er und deutet auf ein silbernes Döschen, das geöffnet auf meinem Nachttisch liegt. Darin liegen vier Pillen. „Ja, danke, aber ich glaube, die brauche ich nicht mehr“, antworte ich, während mein Blick durch mein Zimmer schweift. Überall auf dem Boden verteilt liegen Zeichnungen mit immer demselben Motiv. An der Schreibtischlampe klebt ein Post-it-Zettel. „Das ist aber nicht dein übliches Gekrakel“, bemerkt mein Mitbewohner. Darauf steht in geschwungenen Buchstaben „Nicht du findest die Inspiration, sondern die Inspiration findet dich“.