Mitglied
- Beitritt
- 19.04.2008
- Beiträge
- 78
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
42
Die Sonne taucht unser Städtchen in gleißendes Licht und animiert mit ihrer warmen Ausstrahlung zum Einpacken der Anoraks. Sie inspiriert die jungen Dinger, ihre neuen Bauchpiercings nun endlich offen zu tragen und lockt Tulpen wie Narzissen mit heißen Versprechen auf dicke Hummeln aus dem Winterschlaf. Dieser Tag ist wie gemacht für einen Betriebsausflug. Das meint auch der Chef und empfiehlt mir, das Frühlingswetter doch mit einem kleinen Spaziergang und fröhlicher Einkehr beim Arbeitslosenverwaltungsamt zu nutzen. Das lasse ich mir zweimal sagen und bekomme zur Belohnung, weil der Boss es nicht nochmal erklären muss, neben meiner Kündigung ein wunderschönes Zeugnis ausgehändigt; eine Literarische Kostbarkeit, die in wohlgesetzten Worten, umfassend und über alle Maßen wohlwollend, einfach zum Weinen schön, von meiner Einzigartigkeit kündet.
Im Amt ist ein Auflauf wie beim Rockkonzert. Außer den Angestellten, diesen bedauernswerten Geschöpfen, darf anscheinend die halbe Stadt nach etwas Formularkram heute den Frühling genießen.
Die Wartezeit lasse ich nicht ungenutzt, sowas liegt nicht in meiner Natur, sondern erkunde freundlich-kommunikativ, woher die Schlange stehenden Fremdbetriebsausflügler angereist sind. Bewerbungsmappen schickt man schließlich nur dorthin, wo noch jemand die Post aufmacht.- Mein kleiner, feiner Beitrag gegen das Waldsterben. -
Und was ich mit meinem ersten unfreiwillig freien Nachmittag anfange, auch das weiß ich nach zwei Stunden, als meine Nase wieder den blaubandflatternden Frühling schnuppern kann: Heute schlage ich zu, hol' mir die Schöne, bevor meine Sehnsucht nach ihrer duftenden, griffigen Haut zum bloßen Traum verkommt.
Heute erfülle ich mir – ein wenig Trost braucht der Mensch – meinen lang gehegten, immer versagten Wunsch. Und ich steuere dieses exklusive Ledergeschäft, ganz am Ende unserer Einkaufsstraße an.
Da komme ich nie so richtig vorbei, muss es immer durchstreifen und lande immer bei dieser Tasche. Wie oft war ich zu ausgedehnten Entdeckungsreisen hier gewesen, hatten meine Finger kosend und staunend die unterschiedlichen Strukturen, die Weichheit, die Derbheit der vielfältigen Lederarten ertastet, meine Nase geschmeichelt den herben und doch warmen Geruch aufgenommen, zu dem jede Tasche, jeder Schuh, jede Jacke eigene Nuancen beisteuerten.
Farben und Formen, Materialkontraste zwischen Leder, Textil und Metall hatten meine Blicke gefangen genommen. Jeder dieser Ausflüge – Feste für die Sinne – hatte immer und immer wieder bei dieser kleinen Schlangenledertasche im Obergeschoss sein Ende gefunden.
An der hatte ich, wie man so schön sagt, einen Narren gefressen. Heut' würde ich nicht schon wieder unentschlossen sein, vorsorglich überschlagen, ob ich mir's leisten kann, andere tun's ja auch nicht, und die können angeblich besser rechnen. Heute kaufe ich sie!
Meine Blicke schweifen genüsslich über die bunte Vielfalt der Taschen und Täschchen, registrieren Neues, liebkosen wohlbekannte, für mich unerschwingliche Teile.
Da ist heute noch dieser Duft, untypisch für das Ledergeschäft, ein Gemisch aus Chlor, Hustensaft und Kernseife, der mir immer stärker in die Nase steigt. Unangenehm und vorlaut drängelt er sich über den vertrauten Atem der Lederwaren.
Sehr seltsam, ich kann mich ja irren, aber nach meinem Empfinden riecht es hier in zunehmendem Maße nach Krankenhaus.
Als ich ins zweite Stockwerk komme, mich erwartungsfroh meiner Kauflaune überlassen will, werde ich herb enttäuscht. Die Verkaufsfläche ist umdekoriert. Vom Leder befreit ist die Etage. Kein einziges Krokotäschchen, keine Straußenlederpumps, nicht mal ein halbes Schlangenlederbustier ist in Sichtweite. Da ist nichts, rein überhaupt nichts von den ersehnten Kostbarkeiten.
Dafür sind in der Mitte des Raumes eigenartige Kabinen aufgebaut. Sie erinnern irgendwie an Umkleidekabinen, scheinen aber, von der Tiefe her, mindestens dreimal so groß. Vor diesen merkwürdigen Neukonstruktionen ist eine lange Reihe roter Schalensitze verschraubt. – Straßenbahnatmosphäre, nur dass alle vorn sitzen dürfen …
Einige wenige Plätze sind noch frei. Und ein dezenter Dreiklang ertönt.
Gleichzeitig leuchtet über der vorderen Kabine eine rote zweiundvierzig auf. Die umfangreiche Dame mit dem lustigen Hütchen und den schlecht sitzenden Stützstrümpfen schaut noch mal ängstlich kontrollierend auf ihr kleines gelbes Zettelchen, das sie die ganze Zeit vor sich in den Händen hält und erhebt sich. Sie schlurft hustend und schniefend zu der Kabine, in die sie durch einen Vorhang verschwindet.
Nein, hier werde ich wohl meine Tasche nicht bekommen.
Wirklich ärgerlich, aber nicht zu ändern.
Ich wende mich um, zurück zur Treppe, will das Geschäft verlassen.
„Aber bleiben Sie doch, bitte!“ Eine ältere Frau packt mich sanft, aber bestimmt am Arm. „Sie werden sehen, alles ist ganz leicht und unkompliziert ... Und vor allem sehr preiswert! Für uns und auch für Sie!“, grinst mich ein Pferdegebiss unter dunklem Bubikopf an. „Aber ich wollte doch nur …“ „Jaa, sicher, kommen Sie. Ich zeige und erkläre Ihnen alles“, redet sie beschwichtigend, jedes Wort penibel artikulierend, auf mich ein. „Übrigens, ich bin Schwester Ulla!“ Schon zieht sie mich, keinen Widerspruch duldend, in Richtung der hinteren Kabinen.
„Als alle, damals, zu dieser Weltmeisterschaft, nur Augen für zweiundzwanzig Bürschelchen hatten, die um einen Ball stritten, da waren wir nicht untätig.“, plaudert sie fröhlich vor sich hin. „Nein, wir waren fleißig, sehr fleißig, haben Vieles beredet, in die Wege geleitet … Das Pilotprojekt, das Sie hier endlich erleben können, ist nicht das Einzige, was uns eingefallen ist … Ach ja, wenn man relativ ungestört, durch pausenlose Balljagden abgeschirmt, seine Visionen verwirklichen kann, dann entstehen solche wunderschönen Sparmodelle!“
Mensch, wovon redet sie, wo ist die denn drauf?
„Wir machen es jetzt wie die Post, werden unseren Service ohne eigene Räumlichkeiten bieten. Die ganze Palette. Und alle haben was davon!“, schwärmt die Schwester. „Keine monatelangen Wartezeiten für Kassenkunden, keine Praxisgebühr, denn wo keine Praxis ist … nicht wahr?“ – verschwörerischer Blick.
Kassenkunden, Wartezeiten … Das kann doch nicht ernst gemeint sein!
„Sie wollen mir jetzt nicht sagen, dass hier medizinische Versorgung von Menschen stattfindet?“
„Aber ja doch!“ Begeistert klatscht Ulla in die Hände.
„Husten, Schnupfen, Wurmfortsatz, alles hier an einem Platz!“
„Auch Operationen?“, staune ich.
„Auch Operationen!“ Euphorisiert von ihrem eigenen Gequatsche zerrt sie mich aufgeregt in eine der Kabinen. „Schauen sie nur!“
In dem kargen, steril wirkenden Raum besteht das Mobiliar nur aus einem Operationstisch. Darauf liegt eine kraftlose, ausgemergelte Frau. Sie scheint mehr tot als lebendig. Schwester Ulla will vor lauter Stolz fast platzen. „Seh'n Sie nur, wie prima uns die Schnitte gelungen sind!“
Mein Frühstück klopft zaghaft an, bittet um Sondergenehmigung zur Nutzung des Notausgangs. „ Aber … die … hat ja keine … Hände und Füße mehr …!“ „Na, ja“, gibt Schwester Ulla leicht beleidigt zurück – Ich hatte die hohe Schneidekunst wohl nicht ausreichend gewürdigt – „Wir müssen eben tiefe Einschnitte vornehmen, haben erst mal mit dem angefangen, was wir schon ausreichend beherrschen. Amputationen.“
Klasse, man versteht sich hier bestens auf Sachen ohne Hand und Fuß …
Die Frau schlägt, von Schmerzen gezeichnet ihre Augen auf und wird von der allgegenwärtigen Ulla angegrinst: „ Wie geht es Ihnen, Frau Reform?“ Beim Anblick Schwester Ullas sinkt das arme Wesen zurück in seinen apathischen Zustand. Rasch wird ihre Pritsche von zwei Weißkitteln durch die, ebenfalls mit Vorhängen abgeschottete Hintertür geschoben.
Konnte man überhaupt eine derartige Stümperei überleben? Warum hatte man hier so leichtfertig an ihr herumgeschnitten? Zu allem Überfluss macht sich gleich auch die Schwester wieder bemerkbar. „Und jetzt haben Sie alles gesehen, alles erklärt bekommen. Sie wissen nun, wir tun das Menschenmögliche, um eine angemessene und bezahlbare Versorgung zu gewährleisten.“, spult sie ihren exakt eingeübten und anscheinend schon oft aufgesagten Spruch ab. „Und nun geben Sie mir Ihre Chipkarte! Wir wollen doch eine Nummer für sie ziehen.“
Meine Chipkarte? Wieso? ... Nein! Ich muss raus hier … sofort! Ich werde mich nicht verhackstücken lassen. Soll sich die Dame doch ein anderes Schaf suchen!
Raus, nur raus! Nichts wie weg!
Meine Güte, wo ist jetzt diese Treppe?
So groß ist die Etage doch nicht, dass man sich verlaufen kann!
Ein Lift! Auch gut.
Jeder Weg nach draußen ist mir recht. Wäre mir recht, wenn dieser blöde Fahrstuhl funktionieren würde! Ich drücke Knöpfchen wie verrückt, aber nichts rührt sich.
„Sie sind wohl auch so eine?“ Diesen provokanten Tonfall, in dem mehr Feststellung als Frage steckt, den hätte sich der unscheinbare Rollstuhlfahrer zu meiner Rechten auch schenken können.
„Was für eine?“ Genervt versuche ich weiter, den Lift zu holen. Wo bin ich hier nur hingeraten …
„Der Fahrstuhl braucht einen biometrischen Fingerabdruck, den er kennt, versteh'n Sie? Sie haben sich also noch nicht erfassen lassen.“ Seine leise, kalte Stimme will leutselig klingen, schafft es aber nicht. „Was ist dagegen zu sagen? Wir kennen doch sowieso schon alles. Ihre Konten oder die Festplatte Ihres PCs, wir wissen, was los ist . Ihr Handy verrät uns, wann immer wir das wollen, Ihren Aufenthaltsort ...“ Ein kleines, herablassendes Lächeln quält sich über seine Lippen, als er selber den Knopf für den Fahrstuhl drückt und dieser augenblicklich reagiert. „Seh'n Sie, so einfach ist dann alles. Wird es bald auch für Sie sein …“
In diesem Irrenhaus sieht man mich nicht wieder. War das Strafe für preislich unangepasste Gelüste? Was meinte der mit 'Konten'? Das Ganze muss ich jetzt erst mal sacken lassen, bei einer Tasse Cappuccino. Oder vielleicht doch bei was Stärkerem?
Für heute bin ich erleichtert. Niemand weiß, wo ich das tun werde.
Ich habe nämlich gar kein Handy …