404
Vierhundertvier
Der Peugeot 404 war zu seiner Zeit nicht gerade das, was die Franzosen eine »Carrosse de luxe« nennen, aber die Familienkutsche hatte dennoch ein gewisses Extra. Wenn ich mich an das Auto erinnere, sehe ich Monsieur und Madame Guiôt, die Kinder Gislène, Philippe und die kleine Catherine mit ihren langen, schwarzen Haaren auf der Rückbank, wie sie am Samstagnachmittag vom Essen im Restaurant quer durch Paris zurück in die Vorstadt fuhren. Nach dem Fernsehen, nachdem die Kinder im Bett waren, nach dem dritten Cognac ist Monsieur öfter nochmal ins Büro gefahren, um zu arbeiten. Spät in der Nacht brachte ihn dann der Peugeot aus der Bar wohlbehalten zurück. Am Sonntagmorgen flogen dann die Teller und Tassen durch die Küche und das Wohnzimmer, denn Madame ließ den Lippenstift am weißen Hemdkragen nicht einfach durchgehen.
Ich stand unschlüssig auf dem Hof des Händlers, ging dann aber doch durch die Reihen der Autos und schaute mir die Kisten an. Entweder waren sie zu teuer, total verrostet, oder sie gefielen mir von vornherein nicht. Ich wollte den Schrottplatz schon verlassen, als ich ihn entdeckte. Ich schlich um den weißen Peugeot herum, legte Scheuklappenhände an die Heckscheibe, schaute in den Innenraum und sah die bordeauxroten Sitze.
»Sie können sich ruhig reinsetzen. Er ist sehr bequem. Der Wagen ist technisch O.K. und noch ein Jahr TÜV frei. Er hat auch ein Schiebedach.« Der Autohändler patschte mir die Schlüssel in die Hand zur Probefahrt.
Als ich eingestiegen war, wusste ich: den kaufst du, egal, wie alt der Schlitten ist. Ich ließ den Motor an, legte den Schaltknüppel am Lenkrad nach oben und ruckte los. Mit einem Schwapp war ich der begossene Pudel und schaute blöde aus der nassen Wäsche. Das Wasser hatte sich in der Falz vom Schiebedach gesammelt, und da es keine Dichtung mehr hatte, wurde ich beim Anfahren bis aufs Hemd, bis in die Ritze, nass. Ich hab' dem 404 nie eine neue Dichtung spendieren können.
Die erste Spritztour ging zu Elisabeth. Das Gebläse föhnte die klamme Hose wieder trocken und so fuhr ich wie Gott in Frankreich. Ich genoss die Fahrt, steckte mir eine Gauloises an, paffte den blauen Qualm durch meine Lungen und schließlich zum Schiebedach raus.
Elisabeth hatte den richtigen Wein, aber an diesem besonderen Tag hielt ich mich ein wenig zurück. Sie ist dann mit runter auf den Parkplatz und bewunderte gebührend mich und meine Limousine. Als ich wieder losmusste, stellte ich fest, dass der Schlüssel vom Auto weg war. Nach zwei Stunden Suche war auch Elisabeth entnervt. Ich rief den Autohändler an, der mir prompt sagte, dass es keinen Zweitschlüssel gab.
Mir blieb nichts anderes übrig, als Edmund anzurufen. Edmund hatte mich nie im Stich gelassen. Er war immer zur rechten Zeit dagewesen. Wir hatten früher auf dem Schulhof die ersten Zigaretten zusammen gequalmt, Bluts-bruderschaft getrunken, und als er im siebten Schuljahr war und ich im vierten, hatte er mich rausgeboxt, wenn ich mich mit den Großen angelegt hatte und Schienbeintritte nicht mehr halfen.
Ich rief bei Daimler Benz an. Sein Meister war am Apparat. Nachdem der gemault hatte, holte er Edmund unter dem LKW hervor ans Telefon. Edmund versprach, nach Feierabend vorbeizukommen, um mir zu helfen, den Peugeot wieder flottzumachen. Als ich dann doch die Flasche Wein mit Elisabeth leergetrunken hatte, kam er. Mit einer Black & Decker bohrte er das Zündschloss auf. Als die feinen Metallspäne die vordere Sitzbank und den Fußboden silbrig bedeckten, hatte Edmund auch die Lenkradsperre geknackt. Er zeigt mir die blanken Kabel, schloss den elektrischen Kreis, der Motor sprang an, und der 404 erwachte wieder zum Leben.
Edmund konnte nicht lange bleiben. Elisabeth musste noch einige Sachen erledigen, und so fuhr ich auch bald wieder los.
Als ich bei Brigitte ankam, saß sie in der Badewanne und ließ sich von ihrer Oma die Kräuterpackung in die blonden Haare einmassieren. Sie entstieg dem Bad, brauchte noch etwa eine Stunde für ihre Abendtoilette und schwebte dann wie ein Rauschgoldengel die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo ich brav gewartet hatte. Ich durfte eine Flasche von Omas Gumpoldskirchner Wein aufmachen. Das Fernsehen wurde angeschaltet. Als Guido Baumann beim fröhlichen Ratespiel sich das rosa Schweinderl aussuchte, schenkte Oma Meta noch ein kleines Schlückchen in das feine Kristall ein, aber es dauerte noch bis zum Beginn der Nachrichten, bevor sie sich entschloss, ins Bett zu gehen. Ich hatte mich zu früh gefreut. Brigitte hatte schlechte Laune und die ließ sie mich den ganzen Abend spüren. Sie war so kalt und kratzbürstig, dass ich froh war, als ich wieder im Auto saß. Ich führte die blanken Kabel zusammen und fuhr in die Stadt.
Hinter der Sparkasse, gegenüber der Nachtbar und vor dem Thalia-Theater standen sie gewöhnlich. Ich drehte zwei aufgeregte Runden, dann hielt ich, und sie stieg ein. Auf dem Parkplatz, dessen schwarzer Asphalt mit weißen Tüchlein und schlaffen Gummis gefleckt war, lobte ich die französische Federung. Plötzlich schimpfte und fluchte sie, war und tat ganz echauffiert, als sie sich den Metallspan aus dem Kübelhintern zog. Auch die Strumpfhose hatte mehrere, große Laufmaschen. Als ich sie zurückfuhr, fing das Drama an. Mein Schicksal nahm seinen Lauf.
Mir schoß das Blut in den Kopf, als ich die rote Kelle sah. Die Bullen winkten mich rechts ran. Ich überlegte eine Sekunde, hielt dann aber doch lieber an. Der Peugeot wippte nach, als sich die Dicke aus dem Auto hievte. Wollte ich nachhelfen? Die Beamten fragten nach meiner Begleiterin. Ich zuckte mit den Schultern. Die beiden grinsten sich an. Dann fanden sie schnell den gewohnten Ton: »Guten Morgen, allgemeine Verkehrskontrolle.« Nun musste ich grinsen, aber so spaßig war's ja nicht. »Die Fahrerlaubnis und die Wagenpapiere bitte.« Ich hatte meinen Führerschein nicht bei mir, und der Peugeot war noch nicht auf meinen Namen zugelassen. Auch den Personalausweis hatte ich nicht dabei, so dass ich mich nicht ausweisen konnte. Die Polizisten verlangten die Autoschlüssel. Ich versuchte, die Situation zu erklären. Einer riss die Tür auf, dann zerrten sie mich aus dem Peugeot. »Die Hände an den Einsatzwagen und mach' die Beine breit, Freundchen!« Ich wurde nach Waffen durchsucht. Mit einer starken Taschenlampe wurde der Innenraum meiner Luxuslimousine ausgeleuchtet, aber sie fanden nichts, was auf eine Straftat hindeutete. Nachdem ich mir einen Kurzvortrag über die Rote Armee Fraktion angehört hatte und auch über Autodiebstahl gut informiert wurde, glaubte ich schon, ich käme an einem Alkoholtest vorbei, aber der Polizeibeamte hielt mir die Tüte zum Blasen hin. Während seiner Anweisungen dankte ich im stillen Oma Meta, dass sie wieder mit ihrem Gumpoldskirchner gegeizt hatte. 0,3 Promille Alkohol im Blut reichten nicht aus, mir das Fahren zu untersagen. Nun wurde ich verhört und durfte alles in Ruhe erklären. Als ich den Kaufvertrag über den 404 in der Hosentasche meiner Jeans fand und ihn meinem hünenhaften Gegenüber zu lesen gab, entspannte sich die Lage etwas. Klar, dass ich kleiner war, half auch. »Wo ist denn nun Ihr Führerschein?«
»Den habe ich bei meiner Freundin liegengelassen, soll ich ihn holen? Das ist nicht weit von hier.«
»Ja«, sagte er und schaute, Bestätigung suchend, seinen Kollegen an. »Wir fahren hinter Ihnen her, aber machen sie bloß keine Dummheiten.« Erleichtert sank ich in die weinroten Sitze mit der silbrigen Glitzerspur, führte die Kabel wieder zusammen und fuhr unter Polizeieskorte, zurück zu Brigitte.
Ich klingelte. Brigitte hatte mir nie den Haustürschlüssel anvertraut; ich drückte nochmals auf die Schelle, aber es tat sich nichts. Nur im Nachbarhaus und beim Juwelier Stoot gegenüber gingen die Lichter an. Nach einer Weile steckte Oma Meta den Kopf aus dem Schlafzimmerfenster: »Junge, mein lieber Junge, was ist denn passiert? Bist Du verletzt? Ach Gott, die Polizei!«
»Es ist nichts Schlimmes, Oma. Beruhige Dich, ich habe nur meinen Führerschein auf dem Wohnzimmertisch liegengelassen.«
»Brigitte schläft schon. Ach die Nachbarn, dass mir auch das noch passieren muss. Ich werde das Kind wecken, sie wird gleich kommen.«
Brigitte trug das gleiche Negligé wie damals in den Sommerferien in Bad Gastein, als wir uns nachts heimlich auf dem Gang im Hotel zum Küssen trafen. Mir wurde wieder heiß ums Herz. Aber die Kühle ihrer Stimme, als sie mir sagte, dass meine Papier nicht auf dem Wohnzimmertisch lagen, brachte mich auf den Boden ihrer und meiner Realität zurück. Ich suchte in der Küche, auf dem Besucherklo, unter der Spüle, aber ich konnte weder meine verlorene Liebe noch die verfluchten Papiere finden.
Im Abstand von drei Sekunden erhellte das Blaulicht den Goldregen, den Flieder und die anderen Sträucher und Bäume in den Vorgärten der Schukkertstraße. »Meine Papiere müssen zu Hause sein, ich kann sie hier nicht finden.« Der Andere von den beiden, der den Streifenwagen fuhr, kratzte sich am Kopf und sagte: »Und wo ist denn zu Hause?«
»Nicht weit von hier, auf dem Dönberg, wenn Sie wieder hinter mir herfahren, sind wir in fünf Minuten da.«
Es hatte angefangen zu nieseln und bevor wir losfuhren, warnten mich noch meine Freunde und Helfer: »Die Straßen sind jetzt schmierig und glatt, fahren Sie vorsichtig.« Ich beachtete alle Gebots- und Verbotszeichen, setzte rechtzeitig den Blinker, hielt mich strikt an die Geschwindigkeitsbegrenzung und fuhr, die Polizei im Nacken, an der nächsten Verkehrskontrolle vorbei. Die Tachonadel zitterte; aber im grünen Bereich. Bevor ich in den Weg zum Haus meiner Eltern einbog, hielt ich an. Ich hatte Schiss, den Bullen würden die Nerven oder die Sicherungen ihrer Handfeuerwaffen durchgehen. Daher stieg ich aus und ging langsam ins grelle Scheinwerferlicht. Ähnlich wie Lucky Luke, nur eben ohne Pferd. Ich erklärte den beiden, dass wir nun einen Kilometer über einen nicht befestigten Waldweg hinunterfahren müssten. Ich hörte den Polizeifunk, doch dann wurde das Gedudel durch die Standortmeldung meines Streifenwagens unterbrochen. Nochmals erhielt ich die Warnung: »Machen Sie jetzt bloß keine Dummheiten!« Ich setzte mich wieder in mein Auto und fuhr, die Schlaglöcher zählend, im Schneckentempo den steilen Weg runter durch den Wald. Den Peugeot parkte ich auf dem Hof. Die Bullen ließen ihr Auto auf dem Weg stehen und stiegen aus. Wieder musste ich eine Erklärung abgeben: »Ich habe Ihnen ja erzählt, dass ich die Wagenschlüssel verloren habe und dass mein Freund das Schloss aufgebohrt hat. An dem Schlüsselbund war auch mein Haustürschlüssel. Ich muss jetzt also durch das Küchenfenster einsteigen. Ich mache Ihnen dann die Haustür von innen auf.«
Die beiden schauten mich ungläubig an, aber ich ließ ihnen jetzt keine Zeit zum Nachdenken und stieg durchs Fenster ein. Als ich öffnete und sie herein bat, kam ihnen mein Vater, nur mit einem Unterhemd, entkleidet entgegen. Der kleine, nackte Po verschwand aber sofort wieder, denn das Stück Kuchen aus dem Eisschrank hatte vor allem Vorfahrt. Die Herren von der Polizei nahmen in der Diele Platz. Ich ging in mein Zimmer und begann erneut, meine Papiere zu suchen.
Ich hatte meine ganze Bude auf den Kopf gestellt und war im Begriff die Garderobe zu durchwühlen, als ich ganz deutlich den Bums, den dumpfen Knall, hörte. Die Grünröcke hatten fluchtartig das Haus verlassen und rannten nach draußen zum Auto. Doch der Streifenwagen war nicht mehr zu sehen. Die Suche dauerte nicht lange. Fünfzig Meter unterhalb des Hauses, vor einem dicken Baum, stand der grünweiße Ford mit eingedrückter Frontpartie. Als ich dazu kam, brüllte der Große seinen Kollegen an: »Du Idiot! Du bist zu blöd' die Handbremse anzuziehen. Jetzt hängen wir hier, und die Karre springt nicht mehr an.«
Wenige Minuten später zog mein weißer Peugeot 404 das Bullenauto lässig aus der Scheiße.