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400 Meter zwischen Leben und Sterben
Noch 400 Meter.
Andre sprintete so schnell er konnte. Er wusste, die Männer in den schwarz-blauen Uniformen waren ihn dicht auf den Fersen. Er wollte sich umdrehen und sich erkundigen, wie weit er ihnen voraus war. Das hätte aber wertvolle Zeit gekostet und eins wusste er genau. Zeit hatte er nicht.
Plötzlich zerstörte ein ohrenbetäubender Knall die Ruhe der Nacht. Jedes Geräusch, was man vorher wahrzunehmen vermochte, war plötzlich ausgelöscht worden. Nur noch Andres Füße, die unterbrochen auf der weichen Erde stießen und sein konstantes, immer heftiger werdendes Atem waren zu hören.
Sie schießen auf mich!
Andre konnte nicht glauben wie laut der Knall war. Er hatte schon genügend Action-Filme gesehen, und klar, wenn man mit einem Gewehr schießt, entsteht ein lauter Knall, aber diese Lautstärke lag jenseits seiner Vorstellungen. Plötzlich wurde ihm mit einem Mal bewusst, mit welcher Kraft eine Kugel fliegt. Und welche Folgen es haben könnte, wenn man von so einer Patrone getrofffen wird.
Noch 350 Meter.
Ich muss laufen! Ich darf nicht aufhören.
Andre war schon immer ein guter Sprinter gewesen. In der Schule hatte er sogar einige Rekorde aufgestellt. 100 Meter. Das war seine beste Disziplin gewesen. 200 Meter war er auch nicht schlecht. Ihm fehlte dabei aber meistens die Kraft auf den letzen Metern. Andre wusste er hatte noch eine lange Strecke vor sich. Andre war auch nicht ganz so fit wie er es mal war, aber er würde laufen. Laufen oder sterben; so einfach war das. Noch dachte aber Andre nicht daran, dass ihm bei diesem mörderischen Tempo die Kraft ausgehen könnte. Er lief und lief und es wirkte. Der Abstand zwischen ihm und seinen Verfolgern vergrößerte sich. Noch war er aber nicht an das große Tor angekommen. Dort warteten seine Freunde mit einem Auto auf ihn. So war es geplant zumindest...
Nein, sie werden da sein. Sie würden mich nicht im Stich lassen. Sie werden da sein.
Noch ein Schuss. Im selben Augenblick traf die Kugel einen Baum, der ein paar Meter von ihm entfernt war. Andre sah noch wie der Stamm der Eiche splitterte. Er wollte genauer hinblicken, aber er war bereits daran vorbei gelaufen. Andre war noch in Schussweite und er hatte Angst. Allerdings war es keine panische Angst. Andre dachte an seiner Kindheit. Wie er früher manchmal stundenlang im Bett lag und nicht einschlafen konnte. Er musste immer an lauernde Geister und andere furchtbare Monster denken. Damals hatte er auch Angst gehabt. Sie hatte sich jedoch anders angefühlt. Schrecklicher, panischer aber nicht so imminent, nicht so ernsthaft. Andres Körper war jetzt eine Maschine. Sie musste eine Aufgabe erfüllen. Panik brachte Andre jetzt nichts. Er musste ans Ziel kommen. Er brauchte einen klaren Kopf. Es ging um Leben und Tod. Er würde ins Ziel kommen. Ja, er musste es schaffen.
Das Adrenalin hatte jetzt die Kontrolle übernommen. Andre rannte weiter durch die stille Nacht wie ein Verrückter. Seine erschöpften Lungen keuchten schon nach Sauerstoff.
Noch 250 Meter.
Warum mache ich das eigentlich?
Diese Frage hätte er sich früher stellen sollen.
Eigentlich ist mein Leben gar nicht so schlecht. Warum brauche ich das geld? Angelika!
Er dachte an seine wunderbare Freundin. Sie waren schon zwei Jahre zusammen. Sie war die schönste Frau der Welt in seinen Augen. Er hatte sie damals bei Burger King kennen gelernt. Er ging hinein und wollte eigentlich nur einen saftigen Burger bestellen. Sie arbeitete an der Kasse.
„Hallo, ich will einen Whopper ohne Käse und... äh... ich will...“.
Er wurde sprachlos als er in ihren großen braunen Augen blickte. So was Schönes hatte er nie zuvor gesehen.
„Ja, Sir? Was wollen sie?“, fragte sie und lachte ihn strahlend an, wie das nur eine Frau kann. Er wurde ganz rot.
„Ich will... Ich will...“, stockte er nur. Er wusste genau was er wollte. Sie! Das konnte er aber jetzt nicht sagen. „Ich will einen mittleren Cola“.
„Ist das alles?“, fragte sie.
„Ja... ich glaube schon...“
Er ging darauf jeden Tag zwei Wochen lang zum Burger King. Er nahm fünf Kilo zu bevor er sie endlich nach ihrer Nummer fragte.
Ich bin gleich da!
150 Meter.
Er konnte jetzt das große Tor sehen. Bald würde er dort sein. Seine Verfolger in den schwarz-blauen Uniformen schienen dies auch zu merken. Sie feuerten. Der sternenklare Himmel leuchtete auf. Jedes Insekt unterließ das piepsen, die Vögel zwitscherten schon lange nicht mehr, sogar der Wind schien aus Respekt das Wehen gelassen zu haben. Andre rannte weiter. Jetzt wurde das Laufen jedoch schwer. Andre hatte soeben seinen alten Schulrekord auf 100 und 200 Meter gebrochen und war dann noch 50 Meter durchgesprintet. Einen solchen Schub hatte die immense Menge von Adrenalin in seinem Blut ihm gegeben. Es hatte ih, auch einiges gebracht. Seine hartnäckige Verfolger waren weit hinter ihn, und das machte ihn zu einem schwer zu treffendes Ziel. Jetzt ging ihn aber die Luft aus. Das Adrenalin hatte ihn über seine Schmerzgrenze und weiter hinausgetrieben. Nun konnte sein erschöpfter Körper einfach nicht mehr. Er wurde langsamer. Andre bemerkte dies, und versuchte sein altes Tempo wieder zu erreichen. Es war aber ein Ding der Unmöglichkeit. Sein Körper hatte zu schnell zu viel Kraft verbraucht. Andre war nicht für 400 Meter gebaut. Andre lief weiter, aber er wurde langsamer.
Gott! Ich bitte Dich! Ich werde nie wieder was Schlimmes tun. Ich nehme das Geld und ziehe in ein kleines Appartement mit Angelika. Wir werden viele Kinder haben. Das ist alles, was ich will. Ich werde dich nie wieder um etwas bitten.
Eigentlich glaubte Andre gar nicht an Gott, und er hatte fast noch nie gebetet. Aber wer sollte ihm jetzt sonst noch helfen? Er hatte sowieso nichts zu verlieren. Schaden konnte es ja nicht.
Gott! Was würde Andre jetzt alles tun, wenn er jetzt überleben dürfte.
Ich gehe nach Jamaika! Ich werde Angelika heiraten und wir werden zusammen jeden Tag Wein trinken wie anständige Leute. Wir werden dann Tanzen und uns die ganze Nacht lang lieben. Und wenn wir arm sind?! Was brauche ich schon diesen Sack voll Geld hier? Ich brauche nichts außer Angelika.
100 Meter.
Die Männer in den schwarz-blauen Uniformen schossen weiter und sie kamen näher. Andre konnte jetzt das große Tor deutlich sehen! Und... doch, sie waren da! Er konnte sein rotes Fluchtauto erkennen. Der laute Motor wurde in Gang gebracht.
Jetzt waren aber die Schmerzen in seinen Beinen aber wirklich unerträglich. Sie brannten wie Feuer und Andre hatte teilweise Angst, dass sie einfach unter ihn zusammenklappen könnten. Sein Puls hämmerte in seinem Kopf und er spürte tausend kleine Nadelstiche in seinen Fingerspitzen. Das gleiche Gefühl, das man bekommt, wenn ein Körperglied einschläft. Das Blut schaffte es nicht mehr ganz hin. Aber er lief weiter. Sein Blut kochte, seine Finger schliefen ein, seine Beine brannten und seine Lungen drohte zu zerplatzen, aber er lief weiter.
75 Meter.
Andre schloss seine von Tränen feuchte Augen und biss seine Zähne zusammen. Es war schon eigenartig. Ein halbes Leben lang war er herumgelungert, hatte scheße gebaut. Er war in der Schule zwei Mal sitzen geblieben. Sein Leben hatte für ihn noch nie so richtig Sinn gemacht. Ausgerechnet jetzt, als ihn nur ein paar Meter zwischen Sicherheit und Gefangenschaft, Leben und Tod, Himmel oder Hölle trennten, ausgerechnet jetzt hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass alles ganz klar sei. Es was so einfach, so simpel. Er musste es nur noch zum Fluchtauto schaffen, dann würde alles vorbei sein, dann würde er sein Leben leben. So wie er es bis jetzt auch hätte tun sollen.
50 Meter.
Plötzlich explodierte einen Schmerz in seinem Rücken.
Mein Herz!
Es war klar, er hatte damit gerechnet. Er war nicht James Bond und Tom Cruise war er auch nicht. Das hier war die Realität. Er konnte nicht davon ausgehen, dass seine Verfolger so schlechte Schützen sein würden, wie die idiotische Bösewichten in den Action-Filmen.
Die Kugel haute ihn fast glatt von den Beinen. Aber eben nur fast. Er kam ins Stolpern und wollte schon fallen. Er bereitete sich auf den Tod vor. Er dachte an Angelika. Ihre weiche Haut. Der süße Duft, der zwar irgendwie künstlich aber zugleich natürlicher als tausend Rosen war. Das bezaubernde Lächeln, für das es sich schon lohnte zu leben. Er wollte sie nicht verlieren. Sie hatten nicht viel Geld und sie hatten sich in letzter Zeit oft gestritten. Andre hatte sich auch deshalb auf diese Mission eingelassen. Er dachte das Geld würde helfen. Jetzt kam ihm sein gesamter Gedankengang kindisch und egoistisch vor. Jetzt konnte er nicht verstehen, was er mit dem Sack voll Geld überhaupt wollte, den er noch in seinen fast eingeschlafenen Händen noch hielt.
Noch stehe ich! Vielleicht ist es doch nicht mein Herz!
Andre war schon so weit gekommen. Er würde jetzt nicht aufgeben.
Ich werde nicht sterben!
Andre richtete sich wieder auf und schaffte es, langsam aber sicher seine durchgebrannten Beine wieder in Gang zu bringen. Er würde ins Ziel kraulen wenn er es musste.
Das Geld! Ich brauche es nicht!
Andre wollte das Geld schon hinschmeißen und hätte es auch fast getan. Dann dachte er aber an seine Freunde, die jetzt noch immer auf ihn warteten, obwohl alles schief gelaufen war. Sie würden warten. Bis zum bitteren Ende wenn es so käme. Er schuldete es ihnen. Er würde das Geld behalten.
25 Meter.
Ahhhhhhhhhhhhh!!!
Andre lief und lief und lief. Und er schaffte es auch. Zwei Freunde unterstützten seinen Kampf auf den letzten Metern und hielten ihn hoch. Sie brachten ihn ins Auto und fuhren davon.
„Hast du das Geld?“
„Ja.“
Die Gangster lachten und freuten sich wie kleine Kinder.
„Was machen wir jetzt?“, fragte einer von ihnen.
„Leben wäre nicht schlecht“.