400 Meter Hölle
400 Meter. So lang ist die rote Aschenbahn. 400 Meter Hölle. Heute muss ich sie zweimal durchqueren. Zunächst ist es nur ein Schnauben, später verwandelt sich der Atem in ein heulendes, verzweifeltes Geräusch. Luft, die nach Metall schmeckt und nur schwer die enge Kehle hinabrinnt. Eine glühende Hitze breitet sich in der Brust aus, wandert den Hals hinauf und verbrennt das Gesicht. Jede Berührung der Füße mit dem Boden ist eine Erschütterung, so hart, als würde der Kopf gegen eine Betonmauer donnern.
Und dann sind da die anderen Schritte. Schritte wie Peitschenhiebe. Bedrohlich, unaufhaltsam kommen sie näher. Die Verzweiflung treibt den Körper noch einmal an. Der Schmerz wird unerträglich, der Atem zu einer Sirene. Vergeblich. Der Verfolger triumphiert. Mühelos zieht er vorbei. Hilflosigkeit. Überrundet.
„Dann sind die Letzten jetzt auch da“, sagt der Richter im Trainingsanzug. Sein Urteil fällt er mit einer Stoppuhr. Fein säuberlich wird es in eine Tabelle auf seinem Klemmbrett eingetragen. Um ihn herum stehen die Zeugen der Anklage. Judith, Mareike, Jan und Michael, die Sportskanonen aus unserer Klasse. Sie sind hier die Auserwählten. Ich bin unsichtbar.
Vor der Hölle gibt es kein Entrinnen. Sie gehört zu meinem Leben, unausweichlich. Festgeschrieben und eingeschweißt in meinem Stundenplan. Wieder folge ich dem Richter mit der Stoppuhr zur roten Aschenbahn. Spüre den Untergrund des Betons auf dem Schulhof. Steige die Treppen hinab zum roten Platz, höre auf zu existieren.
Heute sind es 100 Meter. Meine Sohlen drücken gegen das Metall der Startblöcke. Roter Sand unter meinen Fingerspitzen. Neben mir vier Verfolger. Los! Die Umgebung verschwimmt zu einem Wirbel aus Rot. Beine und Arme bewegen sich plötzlich synchron in einem unbekannten Rhythmus. Dann die Ziellinie.
Zunächst ist da gar nichts. Dann ein leises Murmeln. „Was, die Sabine?“ Der Richter nennt uns die Zeiten, unsere Urteile. Ich höre nicht hin, ich bin unsichtbar. Eine Hand auf meiner Schulter. „Herzlichen Glückwunsch“, sagt Judith. Erst jetzt wird mir klar: Ich war die Schnellste.