37 Minuten
Der süßliche Geruch des Kunstnebels brachte ihn an den Rand einer Übelkeit. Diese Idioten mit ihrer Nebelmaschine, dachte Ben. Als wäre irgendwer auf der Tanzfläche noch nicht benebelt genug. Ben nahm einen letzten Schluck aus der Flasche, bevor er sich seine Jacke überwarf. Er spürte die Vibrationen des elektronischen Basses am ganzen Körper. Durch das bunt flackernde Stroboskoplicht sah er Basti auf sich zukommen.
Basti hatte die Arme weit ausgebreitet und sah ihn erstaunt an.
„Du willst doch jetzt nicht wirklich gehen?“
Er schob noch einen zweiten Satz hinterher, der im lauten verzerrten Wummern der Musik unterging.
„Was?“
Basti rief lauter: „Vergiss die Alte, ist doch geil grad!“
Ben schüttelte den Kopf.
„Lass mal, ich bin raus. Ich bin eh müde. Das Zeug vorhin hat mich echt fertig gemacht.“
“Es ist doch noch nicht mal zwei Uhr!”
Das Haus, das gerade von der feiernden Party-Meute verwüstet wurde, gehörte Jakobs Eltern. Jakob selbst hatte lediglich eine von ihm gemischte Bowle beigesteuert. Sie hatte gar nicht so sehr nach Alkohol geschmeckt, aber Ben wurde seitdem ein leichtes Schwindelgefühl nicht mehr los.
Die Party hier war sowieso nichts für ihn. Die Musik war ihm zu elektronisch, und er hatte das Gefühl, dass die meisten Gäste etwas eingeworfen hatten, von dem sie besser die Finger hätten lassen sollen.
„Wenn sie doch noch kommt, sag ich dir Bescheid, damit du dich richtig ärgern kannst!“ rief Basti. Er musste beinahe schreien, um gegen die Lautstärke anzukommen. „Aber vielleicht nehm ich sie auch einfach mit zu mir!“
Ben grinste nur und legte zum Abschied kurz den Arm um seinen Kumpel. Mit einem Schulterklopfen verabschiedeten sie sich voneinander und Ben verließ die Party.
Sie, das war Jana, die eigentlich auch auf die Party kommen wollte, aber schon den ganzen Abend nicht auf Bens Nachrichten reagierte. Dabei hatte sie sich sehr auf die Party gefreut, weil sie ja neu in der Stadt war. Aber Jana war begehrt, vielleicht hatte ihr einfach jemand ein besseres Angebot gemacht. Ben beschloss, einfach abzuwarten. Sie würde sich schon wieder melden.
Ben sah die Station seines Zuges schon von weitem. Eine hell erleuchtete Insel inmitten des Dunkels. Hier außerhalb der Stadt schien ihm die Nacht sehr viel schwärzer zu sein. Bis auf den leichten Wind gab es kaum Geräusche, zumindest bis der Zug sich durch ein entferntes Rauschen ankündigte.
Die frische Luft hatte Bens Schwindelgefühl kaum gelindert. Die Bowle war Schuld, das war ihm klar. Jakob hatte bestimmt irgendeinen billigen Fusel reingekippt, um die Party auf Kurs zu bringen.
Als Ben die Station betrat, war er glücklich, dass er nicht noch eine Ewigkeit warten musste. Hier draußen gab es nicht so viele Verbindungen, besonders mitten in der Nacht. Der Zug fuhr mit dem vertrauten Poltern ein, gefolgt von dem mechanischen Kreischen der bremsenden Räder und dem Zischen der aufgehenden Türen.
Ben begann seine Kopfhörer zu entzerren und betrat den Waggon vor ihm. Der Zug bestand aus mehreren Waggons, die fließend ineinander übergingen, so dass man ziemlich weit hindurchsehen konnte. Er war der einzige Fahrgast. Das würde nicht lange so bleiben, dachte er sich. Sobald der Zug sich der Stadt näherte, würde es voller werden. Ein ganzer Waggon für ihn alleine, welch Privileg! Ben ließ sich in eine Sitzgruppe fallen und legte die Füße auf den Platz vor ihm. So ließ es sich aushalten.
Er setzte die Kopfhörer auf und stellte die Musik lauter, um das lauter werdende Fahrgeräusch zu übertönen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ben sah aus dem Fenster. Er versuchte gerade, die Konturen der Landschaft zu entschlüsseln, die im Dunkeln an ihm vorbeizog, als sein Handy brummte.
Eine Nachricht von Jana.
„Na, feierst Du schön? Schade, ich konnte einfach nicht. Frag nicht.“
Immerhin ein Lebenszeichen, dachte er sich. Er tippte die Antwort.
„Ich bin schon wieder weg. Hast nicht viel verpasst. Alles gut?“
Da war es wieder, das Schwindelgefühl. Ben musste aufsehen. Wenn er nicht aufpasste, würde ihm noch richtig schlecht werden. Vor seinen Augen drehte sich alles. Er atmete ein paar Mal tief durch. Ganz miese Mischung, das Zeug von Jakob.
Jana antwortete: „Ich hab Dir doch von dem Typen erzählt.“
„Dieser Irre, der dich stalkt? Ist er wieder da?“
Jana war nur wegen dieses Spinners umgezogen. Er hatte ihr ständig aufgelauert und sogar Nächte im Auto vor ihrer Tür verbracht. Irgendwann war es ihr zu viel geworden und sie hatte nicht nur die Uni, sondern auch die Stadt gewechselt.
„Ich weiß nicht. Egal, lass uns morgen quatschen! Komm gut nach Hause!“, schrieb Jana.
„Sag Bescheid, ich würd gern mal mit dem reden!“
Sobald er die Nachricht abgeschickt hatte, kam er sich ein bisschen albern vor. Was für ein Held er doch war. Als keine Antwort mehr kam, schickte er noch ein „Gute Nacht!“ hinterher.
Ben musste erneut tief Luft holen. Er setzte sich auf, streckte sich und öffnete das Schiebefenster. Sofort zog ein kühler Wind durch den Waggon. Besser.
Dann erlosch lautlos das Licht.
Alle Lichter auf einmal, als wäre der Strom ausgefallen. Nicht einmal die Notausgangsschilder waren sichtbar. Schwärze breitete sich aus. Bens Augen benötigten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das erste, was er nach einigen Sekunden erkennen konnte, war die nächtliche Landschaft draußen. Im Waggon selbst zeichneten sich lediglich die Konturen der Sitze ab, wo der Mondschein auf sie traf. Die Dunkelheit erstreckte sich auf alle Wagen, so weit er sehen konnte.
Ben stoppte die Musik. Das Fahrgeräusch hörte sich ganz normal an, ein gleichmäßiges Poltern untermalt von einem metallischen Rauschen. Was war passiert? Ben stand auf und ging ein paar Reihen nach vorne. Er konnte auch am Ende der Wagenreihe nichts leuchten sehen. Eine plötzliche Schwindelattacke übermannte ihn und er musste sich festhalten. Zu schnell aufgestanden. Die Konturen des Wagens um ihn herum schienen zu verschwimmen. Ben musste sich setzen. Er schloß die Augen.
Tief durchatmen, alles gut, dachte er sich. Das ist bloß ein Stromausfall im Wagen.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er einen Schatten ein paar Sitzreihen vor ihm. War das ein Mann? Es lag beinahe der ganze Waggon zwischen ihnen, aber warum hatte er die Gestalt beim Einsteigen nicht gesehen? Der Typ müsste doch auch beunruhigt sein wegen des Stromausfalls.
Ben atmete noch einmal tief durch, dann stand er auf. Hatte der Mann ihn vorhin auch nicht gesehen? Oder schlief er? Nach ein paar Schritten rief er hinüber.
„Hallo?“
Keine Antwort.
„Hallo? Was ist denn mit dem Zug los?“
Blöde Frage, wurde ihm klar, woher sollte der Typ das wissen.
Ben erkannte, dass es eine Gestalt im schwarzen Kapuzenpulli war, er sah breite Schultern, aber das Gesicht lag im Schatten. Bei der Dunkelheit konnte er nicht mehr ausmachen.
„Hören Sie mich? Geht es Ihnen gut?“
Ben ging noch ein paar Schritte weiter. Der Typ regte sich nicht.
Na super, dachte sich Ben. Egal, der Typ war keine große Hilfe. Die Lichter waren immer noch aus, und es würde noch ein paar Minuten dauern bis zur nächsten Station. Irrte er sich, oder wurde der Zug etwas langsamer? Ben drehte sich um und ging wieder zu seinem Platz. Als er sich hinsetzte und wieder in Fahrtrichtung sah, erkannte er, dass der Mann aufgestanden war. Er sah definitiv zu Ben herüber.
„Hallo?“ rief Ben ihm entgegen.
Keine Reaktion. Der schaut doch tatsächlich in meine Richtung, dachte sich Ben. Der sieht mich.
Die Gestalt setzte sich langsam in Bewegung. Und kam weiter auf Ben zu.
Ben setzte sich auf. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Bloß keinen Ärger jetzt.
Ben sah nach draußen. Da vorn kam eine Station. Er konnte die ersten Wohnhäuser erkennen. Da steigen sicher Leute zu.
Der Typ kam immer noch näher. Aber er hatte scheinbar keine Eile.
Ben versuchte es noch einmal.
„Hey, weißt Du, was mit dem Licht los ist?“
Keine Antwort.
Dann ertönte ein lautes, metallisches Klacken. Und mit einem anschwellenden Surren gingen die Lichter wieder an. Der Typ war jetzt gut zu erkennen. Er war etwas größer als Ben, und hatte einen schwarzen Trainingsanzug an. Er schien nach wie vor in Bens Richtung zu sehen, auch wenn sein Gesicht durch die Kapuze kaum zu erkennen war.
Draußen zogen Häuser vorbei. Die Station. Ben war erleichtert. Gleich würde schon jemand zusteigen. Als Ben seinen Blick zurück in den Wagen wendete, sah er, dass der Trainingsanzug sich hingesetzt hatte. Was ist denn das für einer, dachte Ben sich. Gut, dass er jetzt zurück in der Zivilisation war.
Das Quietschen der Bremsen kündete den Halt an, der Zug wurde langsamer. Ben bemerkte, wie sein Körper sich entspannte. Dann zischten die Türen. Der Bahnsteig war hell erleuchtet, aber leer.
Ein paar Sekunden verstrichen. Dann hörte Ben eine Frauenstimme. Ein Lachen. Ein Pärchen kam in sein Blickfeld. Sie kamen näher, gingen dann aber vorbei und verließen den Bahnsteig. Mist, dachte Ben. Irgendwer muss doch hier jetzt einsteigen. Er hatte keinerlei Lust, mit dem Typen länger allein in einem Wagen zu sitzen. Aber hier aussteigen? Dann müsste er ewig auf den nächsten Zug warten.
Weitere Sekunden verstrichen. Dann hörte Ben tiefere Stimmen, scheinbar zwei. Einer der beiden grölte vor Lachen. Dann kamen sie leicht schwankend in Bens Blickfeld.
Genau hier hin, dachte sich Ben. Mit den Jungs im Waggon würde der Spinner da vorne schon keinen Ärger machen. Und tatsächlich: zwar hätte der eine beinahe die Türöffnung verfehlt, aber dann schafften sie es doch noch in den Waggon. Ein Piepen ertönte und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die plötzliche und unvermutete Bewegung stellte die neuen Fahrgäste vor sichtliche Schwierigkeiten, aber sie schafften es doch, sich zwischen Ben und den Trainingsanzug in eine Sitzgruppe fallen zu lassen.
Ben setzte seine Kopfhörer wieder auf und schloss die Augen.
Das nächste Bier trinke ich auf euch, dachte er in Richtung der Neuankömmlinge.
Die Übelkeit war immer noch da. Er versuchte, gleichmäßig zu atmen. Als er nach einer Weile die Augen wieder öffnete, war er mit den Betrunkenen allein im Wagen. Der Typ war verschwunden.
Am Hauptbahnhof holte sich Ben zwei Cheeseburger, um die Wartezeit zu überbrücken, und vielleicht seinem Magen etwas zu tun zu geben. Aber sie halfen kein bisschen gegen die Übelkeit, und er schleppte sich leicht schwitzend auf den Bahnsteig, wo er in die U-Bahn nach Hause steigen wollte.
Noch eine Viertelstunde, dachte sich Ben. Das schaffe ich jetzt auch noch.
Ein Windzug aus dem Tunnel kündigte das Einfahren der Bahn an. Auf dem Bahnsteig war richtig was los. Die meisten waren unterwegs zur nächsten Party, wie es schien. Zusammen mit den anderen Fahrgästen betrat er den Wagen. Er beeilte sich, um einen Sitzplatz an einem Fenster zu ergattern. Erschöpft ließ er sich fallen.
Eine Nachricht von Basti.
„Gut, dass Du vorhin weg bist. Hier sind gerade die Bullen eingefallen. Irgendwas ist mit dem Zeug von Jakob. Hier darf keiner weg und draußen stehen Krankenwagen. Gehts Dir gut?“
Kein Wunder, dachte Ben. Das erklärt, warum die alle so komisch drauf waren. Und auch, warum ihm schlecht war. Gut, dass er nur ein Glas von Jakobs Wundermischung getrunken hatte.
„Mir gehts okay, mir ist nur etwas übel. Und Dir? Was ist denn drin gewesen?“ schickte Ben zurück.
Als nicht direkt eine Antwort kam, steckte er sein Telefon wieder ein. Doch dann durchfuhr es ihn wie ein Stromschlag.
Der Kapuzenmann saß im selben Wagen wie er.
Und er sah in Bens Richtung.
Ben konnte sein Gesicht immer noch nicht erkennen. Der Fremde saß ein paar Reihen weiter vorne. Zwei Grüppchen des Feiervolks waren zwischen ihnen. Deswegen hatte Ben ihn wohl zunächst übersehen.
Ben drehte sich um. Hier waren überall Menschen. Der Typ würde doch hier keinen Ärger anfangen. War er ihm gefolgt?
Es waren nur noch drei Stationen bis zu Bens Wohnung. Nicht, dass der nachher noch an derselben Haltestelle aussteigt wie ich, dachte er sich. War er paranoid? Vielleicht hatte der Typ einfach zufällig denselben Heimweg wie er? Nein, der Mann war vorhin eindeutig auf ihn zu gekommen. Irgendwas war komisch mit dem.
Da hatte Ben eine Idee.
Er stand auf.
Ben bewegte sich in Richtung der hinteren Tür. Er musste sich durch eine Gruppe offensichtlich angetrunkener Jungs winden, die keinerlei Anstalten machten, ihn durchzulassen. Da vorn war schon die Haltestelle. Der Zug wurde langsamer.
Ben wartete, bis der Wagen zum Stehen gekommen war, und drückte den Türknopf. Die Türen glitten mit einem Zischen auf.
Ben trat schnell heraus und machte einen Schritt nach links, weg von der Tür.
Der Bahnsteig war vollständig leer.
Ben blickte nach rechts in Richtung der nächsten Tür.
Wenn der Typ ihm jetzt folgte, würde Ben wieder einsteigen.
Und wenn der Typ dann ebenfalls wieder einsteigen würde, würde Ben mit Sicherheit wissen, dass er ein Problem hatte.
Er wartete ein paar Sekunden. Nichts passierte.
Ein Piepen ertönte. Ben sah hinüber zur nächsten Tür. Nichts. Es war überhaupt niemand ausgestiegen.
Mist, dachte Ben. Mit einem Satz war er wieder im Wagen, kurz bevor die Türen sich wieder schlossen. Von den Anwesenden hatte niemand sein Gehampel bemerkt. Ben sah hinüber zu der Stelle, wo er den Kapuzenmann gesehen hatte. Verschwunden.
Er war definitiv nicht ausgestiegen. Aber hier war er auch nicht.
Ben lief weiter nach vorn, zu der Stelle, an der er ihn zuletzt gesehen hatte.
Er musste sich an einer Stange festhalten, als der Zug etwas ins Wanken geriet. War er jetzt völlig durchgeknallt? Bildete er sich den Kapuzenmann nur ein? Wie konnte es sein, dass der Typ ihm die ganze Zeit gefolgt war, und immer ganz plötzlich verschwand, wenn es gerade passte?
Dann wurde ihm alles klar.
Das war sicherlich dieses miese Zeug von Jakob. Irgendetwas hatte er beigemischt, um die Fete anzuheizen. Irgendwas Halluzinogenes.
Ben hatte keine Erfahrungen mit Drogen, wenn man mal über die zwei Züge an einem Joint zu Beginn des Studiums hinwegsah. So war das also, dachte er. Na danke, Jakob. Zuhause würde er erstmal googeln, was das gewesen sein könnte. Sicher irgendwas chemisches.
Er holte sein Telefon heraus. Keine neuen Nachrichten.
„Was war denn jetzt drin in dem Zeug?“ fragte er Basti in einer Nachricht.
Basti antwortete nicht.
Als der Zug in Bens Haltestelle einfuhr, hatte er sich vollends beruhigt. Er stieg aus und atmete ein paar Mal tief durch.
Die Übelkeit war verschwunden, bemerkte Ben. Immerhin. Vielleicht würde es jetzt besser werden. Die paar Meter Fußweg zu seiner Wohnung würden sicher den Rest erledigen.
Ben ging die Stufen hinauf an die Oberfläche und betrat die leere Straße.
Zwei Minuten bis zur Kreuzung, dann nochmal drei bis zum Haus.
Ben kannte jeden Busch und jeden Stein auf dieser Strecke, in den zwei Jahren, in denen er hier wohnte, war er ihn unzählige Male gelaufen. Ben freute sich auf sein Bett.
Basti hatte nicht mehr geantwortet. Wer weiß, was da los war. Vielleicht war sein Kumpel auch schon unterwegs nach Hause. Ben war gespannt auf die Einzelheiten. Jakob hatte jetzt sicher ein Problem. Selbst Schuld, dachte Ben.
Er sah seine Reflektion in einem der Schaufenster an der rechten Straßenseite.
Durch die Dunkelheit war das Spiegelbild sehr klar zu erkennen.
Ben zuckte zusammen.
Ungefähr fünfzig Meter hinter ihm war noch jemand. Ben stoppte. In der Spiegelung erkannte er, dass die Gestalt ebenfalls anhielt.
Ben entspannte sich. Mit einem Grinsen drehte er sich um.
Der Kapuzenmann. Seine Halluzination war wieder da. Erstaunlich, was einem das Gehirn so vorspielen konnte, dachte Ben. Für ein paar Sekunden standen beide einfach da.
Na gut, mal sehen, wie weit die Illusion geht.
Ben setzte sich in Bewegung. Mit großen Schritten ging er auf den Kapuzenmann zu.
Der Mann ging ebenfalls los.
Es waren nur noch dreißig Meter. Ben versuchte, Details zu erkennen, aber in der Dunkelheit war es völlig unmöglich, irgendetwas an dem Typen zu erkennen.
Dann sah er, wie der Mann etwas aus der Tasche zog. Es blitzte kurz auf, als es das Licht einer Straßenlaterne spiegelte.
Ein Messer.
Ben verlangsamte seinen Schritt.
Zwanzig Meter. Der Kapuzenmann ging jetzt schneller.
Ben blieb stehen. Das war eindeutig ein Messer. Der Typ kam immer schneller auf Ben zu.
Es ist nur eine Illusion, dachte Ben. Es ist nur in deinem Kopf.
Der Typ war nur noch wenige Meter entfernt. Er streckte den Arm mit dem Messer weit nach rechts, als würde er zum Schlag ausholen.
Dann hörte Ben zum ersten Mal seine Stimme.
„Sie ist nichts für dich!“ sagte sie trocken.
Ben erstarrte.
Es dauerte wertvolle Augenblicke, bis es ihm gelang, seinen Körper aus der Starre zu befreien und sich in Bewegung zu setzen.
Wenn das eine Illusion war, war sie ihm eindeutig eine Spur zu heftig. Er drehte sich um und rannte los.
Der Kapuzenmann begann, ebenfalls zu rennen.
Scheiße, dachte Ben, ich weiß genau, wer das ist.
Er lief auf die Kreuzung zu, so schnell er konnte. Noch einmal nach rechts, dann würde er schon vor seinem Hauseingang stehen.
Der Typ weiß dann, wo ich wohne. Die Erkenntnis traf ihn noch rechtzeitig. Der Typ war nicht schneller als er, das war gut. Ben beschloss, einen Umweg zu nehmen. Das hier war seine Gegend. Hier kannte er jede Ecke.
Er lief einen Fahrradweg zu seiner linken herunter. Rechts über den Spielplatz würde er laufen. Der war fast vollständig eingezäunt, aber eine Stelle des Zaunes fehlte, direkt da, wo er an das Haus grenzte. Ben hatte die Stelle schon oft als Abkürzung zur Tankstelle benutzt.
Er bog nach rechts ein. Der Sand des Spielplatzes unter seinen Füßen brachte ihn ins Rutschen. Ben fiel hin. Er stützte sich mit dem Ellenbogen ab. Sofort richtete er sich wieder auf. Er ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Arm.
Ben lief weiter. Der Typ verlor langsam den Anschluss. Jetzt nach rechts, unter dem Ast hindurch. Da war die Öffnung. Ben drückte sich an der Hauswand entlang und verließ den Spielplatz. Er bog schnell um die Ecke, damit sein Verfolger ihn nicht sehen konnte. Er war jetzt beinahe einen vollständigen Kreis gelaufen, die Tür seines Hauses war schon in Sichtweite. Noch im Laufen holte er den Schlüssel heraus.
Erst kurz als er vor der Tür stand, nahm er sich die Sekunde, um einen Blick nach hinten zu werfen. Niemand da.
Ben machte auf und drückte die Tür hinter sich ins Schloss. Die Treppenhausbeleuchtung ging an.
Scheiß Bewegungsmelder, dachte Ben. Er sprang mit großen Sätzen die Treppe hinauf. Hoffentlich würde der Typ das Licht nicht sehen. Schon war er an der Wohnungstür.
Rein, Tür zu.
Ben schloss die Tür und lehnte sich dann mit dem Kopf dagegen. Das war knapp gewesen. Er war völlig außer Atem.
Sieh nach, dachte er.
Vom Balkon aus würde er auf die Straße herunter sehen können. Er ließ das Licht in seiner Wohnung ausgeschaltet und bemühte sich, die Tür zum Balkon leise zu öffnen.
Hier vom vierten Stock aus hatte er einen perfekten Überblick.
Bens Herz machte einen Satz. Das Adrenalin war wieder zurück.
Unten, auf der anderen Seite der Straße, stand der Kapuzenmann. Er war ihm hier her gefolgt. Oder hatte er von vornherein gewusst, wo Ben wohnte? Der Mann setzte sich in Bewegung. Auf Bens Hauseingang zu.
Ben sprang zurück in die Wohnung. Er versuchte, sein Handy aus der Tasche zu holen. Dabei fiel es ihm zu Boden. Ben hechtete hinterher. Notruf. Er wählte die 110. Es klingelte einmal. Ben setzte sich vor die Eingangstür. Schon hörte er die Schritte auf der Treppe.
Wäre er doch bloß nicht auf den Balkon gegangen. Im Haus gab es keine Namensschilder. Der Typ hätte ihn nicht so schnell gefunden. Aber vielleicht wusste er auch schon, auf welcher Etage Ben wohnte.
„Hallo?“
Die Polizistin am anderen Ende der Leitung. Ben gab seine Adresse durch und dass gerade ein Einbruch passieren würde.
„Der Typ ist direkt hinter der Tür verdammt! Schnell!“
Die Polizistin riet ihm, zu tun, was der Einbrecher wollte, und ihn nicht zu konfrontieren. Sicher nicht, dachte Ben.
Da hörte er schon ein Kratzen am Türschloss. Wollte der Typ die Tür knacken? Dann wurde es ruhig.
Das nächste was Ben hörte waren schnelle, lauter werdende Schritte. Dann fühlte er, wie er von der Tür in Richtung der gegenüberliegenden Wand gedrückt wurde. Der Mann hatte die Tür aufgebrochen. Ben schoss hoch und lief ein paar Schritte rückwärts. Es war immernoch dunkel in der Wohnung.
Dort wo die Tür offen stand, zeichnete sich im Dunkel die Gestalt ab. Sie hatte immer noch das Messer in der Hand.
Das musste er einfach sein, schoß es Ben durch den Kopf. Der Wahnsinnige, der Jana aufgelauert hatte.
Ben konnte nur fliehen. Zeit gewinnen. Die Polizei würde kommen.
Er drehte sich um und lief in Richtung des Badezimmers. Die Tür würde nicht lange halten, aber immerhin. Er warf sie hinter sich zu und drückte sich dagegen.
Der Schrank. Er hatte eine Schere in dem Schrank. Er machte einen Satz nach vorn, riss die Schranktür auf und riss alles aus den Regalen. Dort war sie. Er nahm die Schere in die Hand. Da sprang die Tür hinter ihm auf. Ben packte die Schere mit der ganzen Faust , warf sich herum und schlug einfach zu.
Einmal, zweimal. Er hatte getroffen, das bemerkte er schnell. Direkt in den Hals. Der Angreifer setzte sich nicht zur Wehr und ging mit einem Glucksen zu Boden. Er wandte sich kurz, die Hände an seinen Hals gepresst. Ben sah auf die Blutlache, die sich auf dem Boden zu bilden begann. Die Schere in seiner Hand war ebenfalls voller Blut. Er warf sie ins Waschbecken und rannte aus dem Raum.
Im Flur ließ er sich zu Boden fallen. Bens Augen waren weit aufgerissen. Was war da gerade passiert?
Hatte er den Typen umgebracht? Panik breitete sich in ihm aus. Er stand auf und lief zurück zum Badezimmer.
Da lag der Typ.
Er sah sehr wirklich aus.
Die Blutlache wurde immer größer.
Ben warf die Badezimmertür hinter sich zu.
Er ging den Flur entlang. Im Wohnzimmer ließ er sich auf das Sofa fallen. Er war so müde. Sein Körper schmerzte überall. Seine Hände waren voller Blut. Seine Jacke aufgerissen.
Er saß eine Weile so da und dachte überhaupt nichts. Starrte ins Dunkel.
Sein Blick wanderte auf die Kommode. Ein Foto seiner Familie, bei einem der letzten Familienurlaube aufgenommen. Alle lächelten ihn an.
Dann hörte er Stimmen im Treppenhaus. Nach wenigen Augenblicken hörte er die Rufe.
„Polizei! Wir kommen jetzt rein.“
Hatte er wirklich jemanden erstochen? Wie in Trance registrierte er, wie die Beamten einen Raum nach dem anderen sicherten. Gleich würden Sie das Badezimmer sehen. Gleich war alles vorbei. Er hatte jemanden umgebracht. In Notwehr. Aber jemanden umgebracht.
Als die Polizisten ins Wohnzimmer kamen, stand er auf.
„Ist er wieder weg oder wie? Wohin ist er gegangen?“
„Er ist im Badezimmer.“ Antwortete Ben ruhig.
„Ist er nicht. Ist er vielleicht geflohen?“ Ben stand auf. Er hatte Probleme, das Gleichgewicht zu halten. Einer der Beamten packte ihn.
„Der ist völlig weg. Verstehst Du, was ich sage?“ fragte der Polizist.
Ben riss sich los und lief mit großen Schritten in Richtung des Badezimmers.
Der Boden war blitzblank.
Ben sackte zusammen.
Schlafen, einfach schlafen.