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"Je näher wir der Lichtung kamen, je eher wir das glitzern des ruhigen Wassers auf der Frontscheibe meines Busses erahnen konnten, desto mehr verschwand es aus deinen Augen. Diese Minuten haben zu viel Bedeutung, zu viel ungeschriebene Geschichte. Es ist ein Versuch, der Versuche ein ganzes Jahr, ein ganzes Leben, die ganze Welt einzufrieren. 365 Tage ist es her, 365 erste Zigaretten am Morgen, 365 letzte Berührungen am Abend, 365 Träume, Lieder, große Gedanken.
Wir stellen den Bus ab an eben der Stelle, an der du vor einem Jahr im Gras saßt. Dein Blick wirkt erstaunlich ähnlich, doch er sagt viel weniger. Damals schien dir alles so groß, so wichtig, erst heute ist es das wirklich. Groß genug, um nicht mehr existieren zu dürfen, um nur so präsent sein zu können, wie es immer war und nie wieder sein kann. Ich erinnere mich gut an deine leeren Augen, an deine Mimik. Ein Blick voll Ungewissheit. Du hattest das verloren, was dir zuvor das Wichtigste war, einfach so, ohne dass du es hättest beeinflussen können. Dem bist du heute voraus, denn es war deine Entscheidung. Ich weißt nicht, warum ich mich damals zu dir gesetzt habe, warum es mich zu dir zog. Du warst so wunderschön. Ich war so voller Energie, voller Vorfreude auf mein vermeidliches zu Hause, ohne zu wissen, dass ich es in genau diesem Moment finden werde, nur um es allzu bald wieder zu verlieren. Ich sprach von Rastlosigkeit, du sprachst von deinem gebrochenen Herzen. Wie in einem Traum vermochte ich es zu flicken, woraufhin du meines in ewiger Bewegung hieltst. Eine Bewegung, die es heute zum letzten Mal tut. Ich hoffe es bleibt nicht für immer stehen. So ganz ohne Dinge, ohne Halt stiegst du in meinen Bus und wir redeten, redeten die ganze Nacht, schliefen den ganzen Tag.
Als ich wieder erwachte saßt du neben mir auf der Matratze und zündetest dir eine Zigarette an, die Flamme des Feuerzeugs spiegelte sich in deinem Blick, er selbst war heller als die Glut, die den überflüssigen Tabak deiner selbstgedrehten Zigarette umfasste, bevor dieser zu Boden fiel. Vielleicht waren bereits alle deine Worte aufgebraucht, vielleicht war aber auch deine Stimme noch nicht wieder so stark wie du, denn du sprachst kein Wort mit mir. Auch wenn ich dich an diesem Tag noch nicht kannte, nicht so kannte, wie ich es lange tat, hatte ich keine Angst, dich je wieder zu verlieren. Keine Angst davor, dass dir alles leidtun könnte und du den letzten Abend bereutest. Schon in diesem Moment hast du dich nicht etwa einer Fremden geöffnet. Ich dachte an deine Worte der letzten Stunden, den Schmerz in deiner zittrigen Stimme und das Gefühl, welches ich dabei hatte. Ich wollte diese Stimme den ganzen Tag hören, immer beobachten, wie sich deine Augenbrauen sanft im Rhythmus deiner Worte bewegen und das kleine Grübchen in deinem rechten Mundwinkel jede deiner Emotionen wiederspiegelt. Schon da warst du mein Freund.
Nach schier endloses Ruhe fasstest du den Mut zu sprechen. "Wir können fahren, ich hab schon gepackt". Auf dem Weg in meine Heimatstadt malten wir uns die wildesten Zukunftspläne aus. Ich wusste gar nicht warum du mit mir mitkommen wolltest. Ebenso konnte ich nicht erahnen, dass es ab diesem Tag kein "Ich" mehr geben würde und du zu meiner neuen Heimat würdest. Du entschiedest dich ab diesem Tag keine Vergangenheit mehr zu haben, nie wieder dorthin zu gehen, wo du hergekommen warst, nie wieder mit den Menschen zu sprechen, die dich zu der wundervollen Person gemacht haben die du bist. Unsere Freundschaft war an diesem zweiten Tag schon so stark, dass es mir nicht einfiel etwas anders zu tun als du. Wir packten meine Sachen und verschwanden, flüchteten. Die einzige Verbindung die ich mir erhielt, war die zu meiner Mutter. Ich änderte meine Telefonnummer und gab sie nur ihr, für den Notfall. Zum Glück liebte sie mich mehr als alles andere auf der Welt, sogar mehr als ihr eigenes Glück. Die Nachricht, dass sie mich nur im absoluten Notfall kontaktieren dürfe und dass ich an sie heran treten würde, wenn ich soweit wäre akzeptierte sie.
Weg, wir waren einfach weg, gemeinsam. Wir hatte nichts und dabei hatten wir alles. Es wurde Herbst, wir fuhren gen Süden. Erinnerst du dich an den Geschmack der ersten Oliven, die wir je vom Baum pflückten? Ihre fürchterliche Trockenheit? Mein Gelächter über unsere Einfältigkeit? Das Feuer am griechischen Strand? Den kalten Wind, die warme Decke?
Mit dem Frühjahr fuhren wir wieder in nördliche Richtung. Steile Alpenpässe, das laute "Mäh" der Bergziegen, bis hin zum Röhren eines Elches.
Eben er war es, der uns kurz vor der verehrenden Botschaft vom Tod meiner Mutter weckte. Mitten in einem der finnischen Wälder klingelte mein Telefon. Zum ersten Mal musste ich eine andere Stimme als deine hören, eine Stimme, deren Klang ebenso befremdlich war wie die Nachricht, die sie übermittelte. Herausgerissen aus allem was wir uns aufgebaut hatten, fuhren Tage und Nächte lang, hielten uns an den Händen. Wir hielten stundenlang die Hand des anderen, die wir schon nicht mehr von der eigenen unterscheiden konnten. Irgendwas ist dort mit dir passiert. Die Tatsache, dass wir an einem Ort waren, der mein altes zu Hause war veränderte dich. Plötzlich warst nicht mehr du es. Vielleicht war es Rache, Neid oder einfach Nostalgie, doch auch du wolltest mir plötzlich mitteilen, dass du eine Vergangenheit hast, wolltest mir einen Ort zeigen, der mal das für dich war, was durch mich ersetzt wurde. Wir sprachen über das Konzept Heimat, tagelang, wochenlang. Du wolltest wissen, was es auf der Welt noch für dich gab außer mich. Warum? Auch ich war kurz in einer anderen Welt mit dir, einer vergangenen Welt. Aber nur weil ich es musste und nur mit dir. Ich sprach dort mit niemandem, ich ging allem aus dem Weg. Ich wollte das erhalten was wir hatten, weil es so viel größer war. Das tatest du nicht. Als wir an deinem alten Ort waren liest du mich alleine, obwohl du erst davon sprachst ihn nur mir zeigen zu wollen. Du hast dich aufgelöst, suchtest Kontakt zu alten Gepflogenheiten. Vielleicht ist es egoistisch von mir, doch ich frage dich, warum brauchst du mehr als mich? Warum konnte es nicht immer so bleiben wie es war? Ich hätte dich gerne angeschrien, eingesperrt, konserviert. Doch ich habe dich verloren, ich muss dich nun hergeben. Natürlich hast du meine Bedrücktheit gespürt, es gab ja keine Konturen mehr zwischen uns. Also schlugst du vor wieder zu gehen, du wolltest dorthin, wo unser Leben vor einem Jahr begann. Nun liegst du hier neben mir. Die Sonne wird bald aufgehen und ich habe beschlossen dich nicht zu teilen, darum teile ich nun uns. Jonathan, ich werde gehen. Ich schriebe dir diese Zeilen, weil ich nun mein eigenes "wir" bin, weil ich es nun alleine versuchen werde. Du hast mich aus meinem Leben gerissen, hast mir alles gegeben, das ich je brauchte. Aber nun kannst du es mir nicht mehr geben, weil es nie wieder genug sein wird. Kompromisse sind keine Option. Ich gehe, weil du schon längst gegangen bist. Vielleicht sehen wir uns wieder, doch das werden nicht wir sein, nur ich und dein Schatten. Jonathan wir waren groß als wir Freunde waren."
Mit zitternder Hand lasse ich den Brief in den Sarg sinken, auf dass er ewig mit dir brennt, so brennt wie wir füreinander brannten. Auch wenn du es nie erfahren wirst, wir sind noch immer Freunde und deshalb ist dein Abschiedsbrief an mich auch mein Abschiedsbrief an dich, unser Abschiedsbrief.