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Schon wieder wache ich mitten in der Nacht auf, nassgeschwitzt, frierend, einsam. Erstmal einen großen Schluck Jim Beam, die halbvolle Flasche neben dem Bett sollte eigentlich mein Frühstück sein, egal. Die Kälte bringt mich fast um, aber noch schneller bringt mich der Schmerz ins Grab. Das Mondlicht fällt durch das Fenster und ich versuche mit meiner zittrigen Hand Tiere zu imitieren, die ihre Schatten an die Wand werfen, sinnlos.
Der kräftezehrende Traum zwingt mich jetzt unbedingt eine zu rauchen. Kerze an. Die letzten Krümel Tabak vom Boden und aus dem Aluaschenbecher gesammelt, versuche ich zu drehen, doch dazu braucht man ruhige Hände, scheiße.
Noch einen tiefen Schluck, das Frühstück schwindet, aber die Kippe ist fertig. Meine Lippen verkleben an der verdammten Zigarette und der Rauch zieht mir in die Augen, endlich mal wieder Salzwasser in den Augen, nach so langer Zeit. Jetzt fällt es mir ein, das Foto unterm Kopfkissen. Da ist es und der Traum wird wieder deutlicher. Der Mensch vergisst so schnell, besonders Träume, aber manche Erinnerungen wehren sich standhaft gegen das Vergessen, warum? Wieder kommt mir der Gedanke, warum halte ich nicht einfach das Foto in die Flamme der Kerze, schließe meine Augen und vergesse?
Mein Verstand sagt ja, aber mein Herz sträubt sich, so viel Schönheit kann man nicht verbrennen und es ist das letzte Foto. Plötzlich ist die Melodie auch wieder da –You are not alone- aber jetzt klingt sie anders, zynisch, schmerzhaft, entgültig.
Die Digitaluhr am Boden zeigt 2.45 Uhr an, das bedeutet es ist schon der Dreißigste, es ist tatsächlich so weit. Vor einem Jahr war es genau, vor einem Jahr an meinem Geburtstag. Ein Tag, an dem ich begann die Tage zu zählen, denn alle anderen schenkten mir irgendetwas, aber du, du schenktest mir Nervengas. Ich habe es tatsächlich ein Jahr ausgehalten, aber die Finsternis hat sich nicht erhellt und der Schmerz reißt immer noch tiefe Löcher, noch tiefer als zuvor. Das L deines Namens steht seit einem Jahr nicht mehr für Liebe, sondern für Leid.
Dein letzter Satz schwirrt schon wieder in meinem Hinterkopf umher „Versuch damit zu leben“. Ich habe es ein Jahr lang versucht aber das Ultimatum ist abgelaufen. Noch ein tiefer Schluck. Wenn ich das Foto im Kerzenlicht hin und her wende, sieht es so aus, als würdest du dich bewegen. Du bewegst dich so schön wie einst, so anmutig. Es hilft nichts, ich muss dein Bild den Flammen opfern und mir einen Gefallen tun. Dein Gesicht entfacht sich und wird dunkler und dunkler, Schönheit verbrennt doch, aber das Feuer an meinen Fingern verursacht nur einen winzigen Schmerz im Vergleich, zu dem, der meinen Verstand verbrennt. Nun bleibt nur ein Weg, ich muss die kleine Holzkiste aufmachen. In der Innenseite ist das Datum, das ich vor einem Jahr eingeritzt hatte. Das Bild ist verbrannt, nun muss nur noch das Bild aus meinem Kopf heraus. Ein tiefer Schluck, die Flasche ist leer. Das kalte Metal, das sich seinen Weg in meinen Mund sucht, vermischt sich mit dem Nachgeschmack vom Jim Beam.
Der Hahn spannt sich, ein Klicken, in meinem Kopf hallt es nach. Der Mond scheint zu weinen, oder ich tue es, ja ich tue es tatsächlich und die Träne drückt den Abzug, wenn sie mein Kinn verlässt. Es dauert, es sind Stunden, in denen sie meine Wange herunterläuft, sie läuft, sie erreicht mein Kinn, sie will fallen, mein Zeigefinger zittert und will sich endlich krümmen. Fall doch endlich, fall... sie fällt, fällt auf meine Hand, mein Finger zuckt, leb wohl.