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26. Dezember 1999

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22.06.2002
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26. Dezember 1999

Wenn des Dichters Mühle geht
So halte sie nicht ein
Denn wer einmal uns versteht
Der wird uns auch verzeih´n

-Goethe

Ein kalter Morgen. Zu kalt, als dass jemand freiwillig vor die Tür ginge. Alle Häuser weit und breit liegen noch im süßlichen Duft der Christbäume und vollkommene Stille umgibt die schlafenden Menschen, deren Festtagsglück, wie ein Heiligenschein über ihnen zu schweben scheint. Wiesen und Felder sind durch die Kälte mit weißem Reif überzogen und ich kann mir vorstellen, wie das Gras bei jedem Schritt unter meinen Füßen kracht.
Die Küchenuhr zeigt 5:16 - der 2. Weihnachtsfeiertag ist noch jungfräulich und rein.
"Ich muss verrückt sein", denke ich mir und ziehe meine Laufschuhe an. "Ich muss wirklich verrückt sein."
Leise schließe ich dir Tür hinter mir und laufe hinaus in die Dunkelheit. In der Ferne erkenne ich ein schwaches Licht, das in den oberen Stockwerken eines Hauses brennt.
"Wer hat nur einen Grund an so einem Tag zu dieser Zeit aufzustehen?", frage ich mich und befürchte, dass es Menschen gibt, deren Probleme nicht minder gering als die meinen sein müssen.
Meine Beine sind schnell und ich wundere mich, was sie nach all den schlaflosen Tagen in letzter Zeit antreiben mag. Ich weiss nicht, ob ich lachen oder weinen soll, in dem Moment, da ich die Antwort finde, doch ein eiskalter Windstoß nimmt mir die Entscheidung und so trockne ich meine Augen mit den flauschigen Ärmeln meines Pullovers.
"Fröhliche Weihnachten.", höre ich sie sagen, genau so, wie sie es vor drei Tagen sagte, mit ihrer sanften Stimme, die sich in meine Magengrube gräbt und alles durcheinander bringt.
Ich erwache kurz aus meinen Träumen und überquere die Brücke, die in die Dunkelheit führt. Ich weiss, dass dort hinten keine Lichter sind und so wähle ich diesen Weg und warte darauf, dass mich die Finsternis verschluckt, während weiter ihre Stimme klingt und mich ihr Gesicht vor Augen stärker werden lässt.
Tausend Schritte später, keiner von ihnen verfehlte die Straße und ich biege nach links in eine Allee ein. Einzig das leise Plätschern des Wassers unter der Eisdecke des kleinen Baches links von mir, begleitet mich. Immer, wenn ich diesen Weg einschlage genieße ich es, zwischen den alten Linden und Eichen hindurchzulaufen, selbst heute, da ich meine Schuhe nicht von der Straße unterscheiden kann.

"Einmal in ihre Augen sehen -
Einmal ihr Gesicht streicheln -
Einmal ihre Tränen trocknen -
Einmal ihre Wangen küssen -
Und sterben"

flüstere ich in dem Moment, als ich am siebten Baumpaar vorbeikomme und die Turmuhr schlagen höre und mein Herz stockt für eine Sekunde, so sehr erschrecke ich über meine letzten Worte.
Wieder biege ich nach links ab, höre des Baches Frostgeplätscher und kann nur noch an sie denken. Ich sehe, wie sie Kilometer von mir entfernt im Schlaf die Bettdecke bis an ihr zartes Gesicht nach oben zieht, weil ihr fröstelt und ich kann beobachten, wie ihre Lippen sich langsam nach innen wölben und von Speichel benetzt wieder, im Mondlicht glitzernd zum Vorschein kommen, als kniete ich einen heiligen Meter von ihr auf dem Boden. Fest umklammern ihre schlanken Finger die Decke, als habe sie Angst, die Kälte könnte versuchen ihrem warmen Körper den einzigen Schutz zu entreissen.
In der Dunkelheit kommt Wind auf und ich kämpfe mich der schleichenden Kälte entegegen, während ihr, Kilometer entfernt, eine Strähne ins Gesicht geweht wird, die ihr winziges Muttermal auf der rechten Wange zu verstecken sucht.
Erst in diesem Moment fällt mir auf, wie anders sie ohne es aussieht und so sanft ich es vermag puste ich ihr die Haare aus dem Gesicht, dass der kleine Punkt wieder das Seine beitrage zu ihrer nächtlichen Schönheit.

"A stone´s throw from Jerusalem
I walk a lonely mile in the moonlight
And though a million stars are shining
My heart is lost on a distant planet
That whirls around the April moon
Whirling in an arc of sadness
I´m lost without you
I´m lost without you"

höre ich mich leise singen, während ich die neunte Baumreihe das zweite Mal passiere und die Turmuhr zehnmal schlägt. Warm fühle ich ihren Atem, der wie Schweiß von mir hinabläuft und während sich meine Kleidung damit durchtränkt, ertrage ich die unsagbaren Schmerzen der Kälte auf meiner Haut und schmecke das Salz eines Tropfens, der auf meiner Zunge zergeht.
Seit fast einer Stunde habe ich kein Licht um mich herum mehr gesehen und noch immer dröhnt mir das ewige Klopfen meiner Schuhe auf dem Asphalt, wie der Rythmus ihres Liedes im Kopf. Und während ihr Spiel über die Sechzehntel fliegt und sich der Saal vor Ehrfurcht und Stille erbricht, spüre ich den Duft ihrer Haare - einen heiligen Meter von ihrem Bett entfernt und wache, dass der Frost sie schlafen lässt und der Wind ihre Schönheit respektiert.
Leise höre ich ihren Herzschlag, der langsam und sicher seinen Takt hält und nichts von seiner Güte preisgibt, während ihr häufiges Husten unsere dunkle Stille durchbricht und ich mich, wie schon so oft frage, ob der kommende Sommer ihre niemals enden wollende Schwäche für Krankheiten lindern wird.

"Durch sie die Lieb an Kraft gewinnt
Wenn wir gemeinsam stärker sind
Der Schönheit kleines Schreckgespenst
Die du elend Schwäche nennst."

spricht mein Mund, als ich 18 Glockenschläge und tausend Gedanken an sie später, das fünfte Mal die Allee passiere und das kalte Wasser unter der eisigen Decke des Baches höre. Die Turmuhr schlägt zweimal auf ihren bronzenen Glocken und ich spüre noch immer keine Schwäche in meinen Beinen, die sich in endlos gleichen Klängen ihren Weg über die steinige Straße bahnen und längst keine Schmerzen mehr registrieren. Ich bemerke nicht, dass mein Gesicht in Schweiß und Tränen vom brennend kalten Wind schwimmt und mein Herzschlag hat den Kampf gegen den Rythmus meiner Schritte aufgegeben und sich seinen Takten angeglichen. Durch die schimmernde Schicht von Flüssigkeit glaubt mein Auge Licht wahrzunehmen, doch noch immer werde ich von ihrem verschwommenem Gesicht vor mir geführt und die vollkommene Dunkelheit entblößt sich mir wieder, als ich einen Augenblick die Lieder schließe.
Während ich erste Regentropfen auf meiner todgeglaubten Haut spüre und das Rauschen der Bäume im ankommenden Sturm vernehme, sehe ich sie als kleines Mädchen, so wie sie mir das erste Mal erschien. Es kommt mir unglaublich vor, dass ihr kleines Herz schon damals so viel Freundlichkeit besitzen konnte wie heute und tropfnass vom stürmenden Regen erinnere ich mich an unsere erste Berührung. Ein einfacher Handschlag war es und wenngleich ich damals seine Bedeutung noch nicht erfasste, sonderbar war mir allemal zu Mute in dem Augenblick, da sich unsere kleinen Hände umklammerten, mit dem einzigen Wunsch, nämlich die andere so schnell, wie möglich wieder loszulassen - oder? Ich kann mich nicht mehr genauer daran erinnern, aber ich weiss sicher, dass ich mich unwohler daher fühlte, dass man unseren Handschlag von allen Seiten bestaunte, als aus der reinen Tatsache ihre Hand zu ergreifen. Auf diese Begebenheit hin folgend dachte ich jahrelang nicht mehr besonders an sie, bis mich eines Tages die Erkenntnis traf, irgendetwas faules schwebe in der Luft und ehe ich mich versah, war mein Herz in die Falle gelaufen - viel zu weit schon, als dass ich es hätte aufhalten können. Und so laufe ich im polaren Schneeregen der Finsternis entgegen, mit mehr flüssiger, als fester Kleidung, die mir am Körper klebt und ich kann nur an ihre leuchtend lächelnden Augen denken, die mir den Weg zeigen und Kraftreserven wecken, die nicht vorhanden sind.
"My mistress´ eyes are nothing like the sun" sagt Shakespeare und in Momenten, wie diesen hat er vielleicht sogar Recht.

Nach knapp 30 Kilometern, ewig anhaltendem Regen und einer schier endlosen Läufertrance vernehmen meine Augen erste rötliche Lichtstrahlen am grau bewölkten Horizont und ich kehre über die Brücke der Finsternis auf den Weg nach Hause zurück, als sich alle Schmerzen der letzten drei Stunden über mich ergießen und ich mehr tot, als lebendig die fehlenden fünfhundert Meter auf meinen geschundenen Beinen laufe, bis ich stürzend an meinem Ziel ankomme. Mein Herz schlägt gewaltig und schnell in meinen erfrohrenen Ohren, während ich am Boden liege und meinen flachen Atem in die Höhe schießen sehe, wie aus einem Springbrunnen, der sich im verzweifelten Kampf der Schwerkraft entgegensetzt. Doch mein Atem kommt aus solch heisser Brust, dass er den Kampf gegen die Höhe gewinnt und sich erst in der frostigen Luft verflüchtigt.
Meine Hände sind so rot, wie das Blut, das durch meine Adern schiesst und als ich versuche aufzustehen, fällt mein Kopf schneller züruck auf das steinerne Pflaster, als mein Kreislauf zusammenbrechen kann.
Als hätte ich nichts aus der Sache gelernt, sehe ich im dämmernden Licht durch meine schmerzenden Augen ihr Schlafgemach, durch dessen Fenster erste Sonnenstrahlen dringen. Und in dem Moment, da die frostige Kälte sich über meine Geliebte stürzen will, weil die Nacht mich schon am Boden sieht, bricht sie hasserfüllt und leblos vor dem Bett des schlafenden Engels zusammen - totgewünscht durch den letzten Wahnsinn in meinen Gedanken, gemordet durch die letzte Wärme meines Lebens und ertränkt in der letzten Liebe meines Herzens.
So erwacht das Mädchen Stunden später aus ihrem sanften Schlaf, mit Leichen zu ihren Füßen und den Spuren unseres Kampfes, während ich mich in die Küche geschleppt habe und von unten auf die unerreichbare Uhr starre.

8:37 Uhr - Ich muss verrückt sein.

Zwölf Stunden später kann ich bereits wieder an meinem Schreibtisch sitzen; nur meine Hände zittern, als spürte ich noch die frostige Kälte des Sturmes in meinen Gliedern. Ein weißer Zettel liegt vor mir, ein silberner Federhalter wackelt in meiner rechten Hand. Noch einmal biege ich in meinen Träumen in die dunkle Allee ein und höre das Geplätscher des kleinen Bächleins, das wie ein Weggefährte an meiner Seite entlangläuft und sich nicht vom eisig kalten Wind der Nacht stören lässt. Noch einmal höre ich die bronzenen Glocken der Turmuhr schlagen - ihr Rythmus kämpft gegen meine Schritte, doch schon bald geben sie auf und verstummen.
Noch einmal passiere ich die endlosen Baumreihen, deren Alter von meiner Liebe zeugen und noch einmal spricht meine Seele ohne, dass ich es verstehe.

Als ich aufwache ist das weiße Blatt beschrieben und nach einem kurzen Blick darauf kann ich guten Gewissens schlafen gehen.
Alles wurde gesagt.
Alles.

"Heut am Abend sitz ich hier
Und sehne mich nach dir
Die Weihnachtsferien, lang gewollt
Die Zeit nun ihren Tribut schon zollt
Drei verdammte Tage
An denen ich dein Gesicht nicht sah
Ich mich langsam wirklich frage
Was mit mir geschah

Am Tage irr ich stets umher
Versuch mich von dir abzulenken
Bei Nacht ich längst schon schlaf nicht mehr
Ich kann nur stets an dich noch denken

Mein Herz, mein Körper, meine Seele
Sie haben immer dich im Sinn
Kaum seh ich dich - ich machtlos über meine Liebe bin
Und umsonst ich meine Worte wähle

So sitz ich hier und denk an dich
Es gibt kein "Wir" - sind Gottes Pfade ärgerlich?"

"Ich muss wirklich verrückt sein.", murmle ich leise.

Nach Tagen kann ich endlich wieder schlafen.

25./26.11.2000 DWGM/Yalo/TheVoice

 

Servus Gérard,

meine Augen singen keine Lieder deswegen heissen sie auch Augenlider und das ist kein Rechtschreibfehler, sieh selbst im Duden nach ;)
Anonsten mögen ein paar drin sein, die ich sicher bei der nächsten Überarbeitung erwische.
<<Das Bemühen um eine differenzierte Gefühlsbeschreibung ist erkennbar>> <- kannst Du das genauer erläutern? Eigentlich ist es doch gar nicht so differenziert oder? Das meiste ist Verwirrtheit & Sehnsucht!?
<<Die Dramatik des Geschehens erscheint, angesichts der mangelnden realistischen Details, etwas überhöht.>> <- :) hähäm, mir ist das, was ich schreibe passiert. Dass ich da ein wenig künstlerische Freiheit mitreingebracht habe ist ja klar ;) Findest Du es wirklich zu surreal?

Yalo

 

Aloha!

meine Augen singen keine Lieder deswegen heissen sie auch Augenlider und das ist kein Rechtschreibfehler, sieh selbst im Duden nach
Durch die schimmernde Schicht von Flüssigkeit glaubt mein Auge Licht wahrzunehmen, doch noch immer werde ich von ihrem verschwommenem Gesicht vor mir geführt und die vollkommene Dunkelheit entblößt sich mir wieder, als ich einen Augenblick die Lieder schließe.
*hüstel* ;-)

hähäm, mir ist das, was ich schreibe passiert. Dass ich da ein wenig künstlerische Freiheit mitreingebracht habe ist ja klar Findest Du es wirklich zu surreal?
Das Leiden des autobiografischen KG-Autors ... kenn das Problem aus eigener Erfahrung, es ist wahnsinnig schwer, dem Leser exakt dieselbe Dramatik zu vermitteln die man selbst empfindet ... schreibt man fiktiv, dann sucht man automatisch nach Formulierungen, die der Dramatik bzw. Nicht-Dramatik angepasst sind ... schreibt man authentisch, dann formuliert man seine eigenen Gefühle, und die kennt halt keiner sonst ...

jedenfalls liest es sich sehr schön und fesselnd :)
auf Wunsch schreib ich dir auch die gröbsten orthografischen Schnitzer raus ... meld dich halt.

so long
SaltyCat

 

ja hiermit melde ich mich. Da es sich hierbei um meine letzte Geschichte handelt (hab seit mehr als nem Jahr nicht mehr als ein gedicht zusammenbekommen) und ich sie für die beste, die ich bisher geschrieben habe, halte, will ich sie natürlich auch verbessern. Also immer voll drauf mit euren Vorschlägen & Kritiken ;)

 

jedenfalls liest es sich sehr schön und fesselnd
solche Sätze lassen einem nach soviel Arbeit das Herz aufgehen :)

sorry für den doppelpost wollt das nur loswerden

 

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