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25 Jahre, für Immer
Fünfundzwanzig Jahre hatte man ihm gegeben. Wenn Ray das erste Mal wieder frische Luft atmen könnte, würde er ein alter Mann sein.
Er saß auf seinem klapprigen Metallbett und schabte mit einem gestohlenen Löffel an der kalten Betonwand zu seiner linken, doch er wusste, dass er sie niemals würde durchstoßen können.
Über ihm schnarchte ein dicker, stinkender Mann. Der Mann nannte sich nur Kasten und war - wie er selbst immer behauptete - fälschlicherweise wegen Mordes verurteilt. Wie Ray hatte auch Kasten fünfundzwanzig Jahre bekommen.
Sie hatten keine Probleme miteinander. Auch wenn Kasten ein seltsamer Mann war, der diesen Anschein hauptsächlich durch seine mangelnde Hygiene hervorrief. Er besaß zwei Unterhemden, die früher einmal weiß gewesen sein mussten und die er im Monatstakt wechselte. Eben dann, wenn er sich wusch, wobei man das, was Kasten als waschen bezeichnete, nur als kurzes Nassmachen betrachten konnte. Zusätzlich dazu besaß der große Mann eine Jogginghose, die er Tag und Nacht anbehielt. Eshnerad hatte keine Gefängniskleidung. Das wäre bei diesen Ausmaßen auch kaum finanzierbar gewesen.
Ray legte sich lustlos hin, wobei das alte Bett laut quietschte. Kasten hielt kurz in seinem Schnarchen inne, doch er schien nicht aufzuwachen.
Ray dachte über das nach, was ihn in diese Situation gebracht hatte. Es war merkwürdig. Er konnte es immer noch nicht recht glauben und eigentlich wollte er auch nicht länger darüber nachdenken. Also zwang er sich dazu, zu schlafen.
Ray erwachte unsanft, als er von Kasten am Arm gerüttelt wurde. Der Dicke flüsterte mit seiner rauchigen, tiefen Stimme:
„Hey, Ray! Wach auf! Die Torsons wollen ausbrechen. Wenn du mitkommen willst, musst du jetzt sofort aufstehen.“
Ray war auf einen Schlag hellwach. Ein Ausbruchsversuch und er sollte dabei sein?
Es kam nicht oft vor, dass jemand versuchte auszubrechen, dann fiel ihm auch wieder ein warum: „Kasten, man kann aus Eshnerad nicht ausbrechen.“
„Doch! Die Torsons wissen wie. Komm mit! Oder willst du hier versauern?“, entgegnete der Hüne, der vor dem Licht stand, das durch die Gitterstäbe einfiel.
Ray rappelte sich auf und erwiderte: „Scheiße, Mann. Ich kann für nen Ausbruchsversuch fünf weitere Jahre kriegen, dann bin ich über siebzig wenn ich wieder draußen bin.“
„Jetzt sei nicht so 'ne Pussy, Ray. Ich will dir doch bloß helfen“, antwortete Kasten in gutmütigem Tonfall.
„Scheiße, Kasten. Ich mach's“, beschloss Ray schließlich.
„Gute Entscheidung, Kumpel“, sagte Kasten, dann ging er zu den Gitterstäben und klopfte mit Rays Löffel einen komplizierten Rhythmus auf das Metall.
Eine Weile lang passierte nichts. Dann bog ein Wärter um die Ecke, den Ray nicht kannte. Er holte seine Schlüsselkarte hervor und hielt sie vor das Lesegerät am Türschloss. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken und Ray verließ zum letzten mal seine Zelle.
Kasten und er folgten dem Wachmann den Gang entlang, der auf der rechten Seite ein hohes Geländer besaß. Dieses drahtige Gestell aus Gittern war das einzige, was sie von dem Abgrund trennte, der erst siebzehn Stockwerke unter ihnen endete.
Nach ungefähr fünfzig Metern gelangten sie zu einer runden Hochsicherheitstür. Als der Mann in der grauen Uniform seine Schlüsselkarte verwendete, öffnete sie sich drehend und mit einem leisen Zischen.
Bei Rays bisherigen Aufenthalten in diesem Raum, der eine Schleuse darstellte, hatten sich dort immer mindestens zwei Wachleute aufgehalten. Dieses mal jedoch standen stattdessen die Torson Zwillinge da. Zwei große Afroamerikaner mit langen Afros und breitem Grinsen auf den Gesichtern.
Sie trugen beide sehr ähnliche Kleidung, der eine ein grünes, der andere ein rotes Tanktop mit schmalen Trägern und je eine hellgraue Jogginghose. Man merkte ihnen die Aufregung trotz ihrer gespielten Lockerheit an, der Schweiß perlte ihnen von den Stirnen und sie blickten sich gehetzt um.
Ray hatte sich immer gut mit den Torsons verstanden, dennoch wunderte es ihn, dass sie wertvolle Zeit opferten, um ihn mitzunehmen.
„Wie wollt ihr es an den Drohnen und den Mauern vorbei schaffen?“, war die erste Frage, die er an die beiden richtete.
„Hey, Dude, kein Problem wir haben da so unsere Beziehungen“, antwortete der linke von beiden, der das rote Shirt trug und von dem Ray glaubte, dass es Rick war.
„Vertrau uns!“, sagte der andere, der Bob hieß.
Der Wärter schritt nun an den beiden vorbei zur nächsten Tür und als er seine Schlüsselkarte durch den Schlitz zog, schloss sich die Tür hinter ihnen und vor ihnen öffnete sich die andere.
„Wer ist er?“, wollte Ray wissen und nickte in Richtung des Wachmanns.
„Also, wenn er später aussagt, er habe nicht gewusst was er tut, dann hat er recht. Wie gesagt, wir haben Beziehungen und eine davon ist ein wunderbarer Therapeut, der vor allem von der Eshnerad-Direktion jedem Wärter ans Herz gelegt wird. Der Typ versteht was von Hypnose“, antwortete Bob grinsend.
Nun fiel Ray auch die Leere im Blick des Mannes auf. Er dachte nur kurz darüber nach, dann folgten sie dem Mann in grau durch die Tür in einen geräumigen Aufzug, der sie hundert Stockwerke nach oben befördern sollte.
Der Wachmann gab ein langes, komplexes Passwort in ein Eingabefeld ein und bestätigte es, indem er seine Schlüsselkarte an das Display hielt. Der Aufzug schoss in die Höhe. Ray hasste es, mit einem Hochgeschwindigkeitsaufzug zu fahren. Es fühlte sich an, als spränge er aus einem Flugzeug. Doch es ersparte Zeit und so waren sie bereits in wenigen Sekunden angekommen. Die Aufzugtüren öffneten sich, als der Wachmann seine Karte erneut benutzte. Sie traten hinaus auf einen kurzen Gang, der in einen zweigeteilten Raum führte.
In der Mitte des Raumes befand sich ein Tresen, der über eine Panzerglasscheibe mit eingelassenem Sprechgerät vom Rest getrennt war.
Direkt daneben befand sich eine weitere Sicherheitstür und wie Ray von seiner Einweisung wusste, konnte sie nur von beiden Seiten gleichzeitig geöffnet werden.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, trat nun ein weiterer Wachmann auf der anderen Seite der Scheibe auf die Tür zu und schob gleichzeitig mit dem ersten Mann in grau seine Karte durch den Schlitz.
Die Tür öffnete sich wie die vorherigen mit einem leisen Zischgeräusch und ihnen kam ein Schwall frischer Luft entgegen. Das, was die Ventilationssysteme des Gefängnisses ausgaben, konnte man nicht als frisch bezeichnen. Als die Ausbrecher den Hauch der Freiheit rochen, wussten sie, dass ihre Tortur ein Ende hatte. Sie sahen eine 2 Meter hohe Flügeltür am Ende des Ganges, in dem sie sich nun befanden, und verfielen in einen leichten Laufschritt, der sich schnell zu einem Rennen entwickelte.
Sie stießen die Tür gemeinsam auf und standen endlich wieder unter freiem Himmel.
Ein letztes Mal drehten sich die Vier zu dem niedrigen Gebäude um, dessen Großteil unterirdisch lag, dann rannten sie hinaus in die Nacht.
Doch schon nach einigen Schritten hielten sie inne. Ein Licht kam in einigen Metern Höhe auf sie zugeflogen.
„Eine Drohne! Das sollte nicht passieren“, rief Rick so laut, dass Ray Angst hatte, man könne sie hören.
Nach einigen Schrecksekunden rannten sie in die entgegengesetzte Richtung um einen Teil des Gebäudekomplexes herum.
Auch hier lauerte eine weitere Drohne auf sie, es war eine Kampfdrohne, die aber auch gelegentlich zum Transport von leichter Ware benutzt wurde. Sie flog direkt auf sie zu.
Doch bevor es sie endgültig erreichte, stoppte das Fluggerät und begann den Sinkflug.
Wenige Sekunden später war es gelandet und das Heck öffnete sich.
Die Vier Ausbrecher rannten auf das große Fluggerät zu und als der letzte von ihnen im Innenraum angelangt war, schloss sich die Klappe sofort wieder.
„Unglaublich“, war alles was Bob dazu sagte.
Rick hingegen schien der plötzliche Auftritt der Drohne nicht allzu sehr überrascht zu haben und er fing sofort mit einem ganz anderen Anliegen an:
„Ray, sag mal: Der Typ, den du umgelegt hast, der hat doch so eine Maschine entwickelt, mit der er Zeitreisen konnte, oder? Du kannst uns doch bestimmt zu diesem Ding bringen, oder?“
Jetzt wurde es ihm klar. Die Torsons wollten Ray nur mit sich nehmen, um mit der Zeitmaschine des alten Professors in die Vergangenheit zu fliehen.
„Ja, kann ich machen“, antwortete Ray, der damit eigentlich keine großen Probleme hatte. Auch er hatte sich gewünscht eines Tages zu der seltsamen Gerätschaft zu gelangen und sein Schicksal zu ändern.
Der Flug dauerte eine Weile, doch nach einigen Stunden erreichten sie das kleine Örtchen namens Retnalzore, in dem Ray sein komplettes Leben vor dem Knast verbracht hatte.
Die Drohne landete auf dem Anwesen des Professors und sie mussten nur noch einige Schritte laufen, bis ein Recht prunkvolles Haus erreichten. Die Eingangstür war offen.
Sie betraten einen Raum, der mit einem roten Teppich ausgelegt war und an dessen Wänden Kerzenhalter und kunstvolle Gemälde hingen.
An den Seiten standen einige Marmorbüsten, die bekannte Physiker wie Isaac Newton, Galileo Galilei, Albert Einstein oder auch Redwald Dorminster darstellten.
Es war ein seltsames Gefühl, wieder hier zu sein. Doch als hätte er es schon hundert mal gemacht, ging Ray zu einem der Kerzenhalter an der Wand und zog an ihm.
Ein Teil der anliegenden Wand schwang zurück und gab den Blick auf einen Aufzug frei. Ray wies die anderen an, die kleine Kammer zu betreten, dann folgte er ihnen und schloss die Wand hinter sich. Anschließend drückte er einen kleinen Knopf an der Rückwand, eine Schiebetür schloss sich und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
Als sie unten ankamen und die Tür sich öffnete sahen sie, dass sie sich in einem gut ausgestatteten Labor befanden. Alles war in einem klinischen Weiß gehalten und am Ende des Raumes befand sich eine große Maschine, die mit vielen Schläuchen und Kabeln verbunden war.
„Das ist sie?“, fragte Bob und deutete auf die kapselförmige Maschine.
„Ja“, erwiderte Ray ehrfürchtig.
Sie gingen auf das große Metallgebilde zu und Ray fragte:
„Wohin wollt ihr?“
„2017“, erwiderte Rick, als hätten sie es sich schon weit im Voraus überlegt.
„So weit zurück?“, fragte Ray erstaunt. „Seit ihr euch sicher?“
Alle nickten. Dann ging er weiter auf die Zeitmaschine zu und betätigte einen Schalter, der die vordere Tür mit einem lauten Zischen öffnete.
Der Innenraum sah aus, als würden sie ohne Probleme alle gleichzeitig in die Maschine passen.
„Bitte Einsteigen, die Herrschaften“, sagte Ray mit einem sarkastischen Unterton.
Die Drei anderen betraten die Kapsel und Ray sagte:
„Ich werde nachkommen. Habt ihr irgendein bestimmtes Datum im Sinn? Oder einen Ort?“
„Nein“, erwiderte Rick. „Aber warum kommst du nicht sofort mit? Genug platz ist doch.“
„Ich muss noch etwas erledigen. Ich programmiere die Maschine dann auf den 01.01.2017 und lasse euch in Paris auftauchen. Ist das Okay?“, entgegnete Ray.
„Okay“, stimmten alle zu.
Dann schloss Ray die Tür der Kapsel und betätigte den Schalter der die Maschine in Gang setzte. Sie gab ein lautes Surren von sich und die Lichter des Raumes flackerten, dann war wieder alles Still.
Als Ray die Tür der Kapsel öffnete waren seine Freunde verschwunden. Wenn alles gut gegangen war, waren sie nun im Paris des einundzwanzigsten Jahrhunderts und eigentlich schon seit über hundert Jahren tot.
Ray programmierte die Zeitmaschine nun auf ein Datum, das nur einige Monate zurücklag, begab sich dann in die Kammer und betätigte den Schalter im Inneren, der ebenfalls die Zeitreise auslöste. Um ihn herum wurde es schwarz.
Ray fand sich einige Momente später wieder im Foyer wieder. Wenn alles gutgegangen war, befand er sich nun in der Vergangenheit. Seine Hoffnung bestätigte sich als wenige Sekunden später die Tür aufschwang und er sich selbst gegenüberstand. Besser gesagt einer Version von sich, die einige Monate jünger war als er.
„Hör zu!“, begann Ray, „Wir haben nicht viel Zeit. Ich bin du aus der Zukunft. Du wirst den Professor umbringen und dann musst du alle Beweise dazu vernichten, hast du verstanden?“
Der andere Ray schüttelte den Kopf und fragte: „Warum sollte ich ihn umbringen?“
„Das ist doch unwichtig, du wirst es halt tun. Es ist schon geschehen. Vertrau mir, ich bin du! Es ist wichtig! Aber vernichte alle Beweise!“
Nachdem Ray diesen Satz beendet hatte, löste sich die Welt um ihn herum auf und er befand sich in einem Raum, der mit völliger Schwärze ausgefüllt war.
Vor ihm stand ein Mann, der einen schwarzen Anzug mit Weste, ein weißes Hemd und eine purpurne Fliege trug. Sein Gesicht schien jung, aber seine Augen wirkten, als hätten sie die Geburt des Universums gesehen. Er begann zu sprechen:
„Du hast einen Fehler begangen Ray. Ein Verbrechen, wie es schlimmer kaum sein könnte. Weißt du, wovon ich spreche?“
„Ja“, erwiderte Ray mit zitternder Stimme, „Ich habe den Professor ermordet. Aber... Aber wer sind Sie?“
„Dass du den Wissenschaftler ermordet hast, ist nur ein Teil des Problems, Ray“, erwiderte der seltsame Mann.
„Wer sind Sie? Gott?“
Der Mann lachte: „Gott. Nein, wenn es einen Gott gäbe, hätte ich ihn schon kennengelernt. Man nennt mich den Lord der Zeit. Ich sorge dafür, dass die Zeit den richtigen Lauf nimmt. Und da ist das Problem. Wo ich eingreife in den Strom der Zeit, um das schlimmste zu verhindern, da entstehen gelegentlich Spuren. Paradoxen, wenn man so will. Das hat dazu geführt, dass du dich selbst dazu angestiftet hast einen Mord zu begehen. Das ist das Problem, dein eigentliches Verbrechen ist nämlich nicht der Mord selbst, sondern die Anstiftung zum Mord.
Weißt du Ray, die Zeit kann neu geschrieben werden, doch du hast sie nicht verändert, du hast die Dinge belassen wie sie waren, ohne nachzudenken. Du hast es versäumt den Kreis zu durchbrechen. Wir haben immer eine Wahl, egal wer wir sind, oder woher wir kommen. Deswegen sollst du deine gerechte Strafe erhalten: Fünfundzwanzig Jahre Gefängnis, wieder und wieder. Die gleichen Fünfundzwanzig Jahre, bis ans Ende der Zeit. Fünfundzwanzig Jahre, für immer.“
Ray erwachte in einem kalten Betonraum ohne Fenster und Türen und er wusste, dass er bis ans Ende der Zeit hier verweilen musste, denn er hatte den Verlauf der Zeit auf eine völlig falsche Art und Weise unverändert belassen.