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24b
Es war ein wolkenloser Dienstag im April, als Hausnummer 24b verschwand.
Oskar Fingernagel, Bewohner des dritten Obergeschosses der Hausnummer 25, hätte während seiner allmorgendlichen Routine, die aus Frühstück, duschen und dem abschließenden Zähneputzen am Badfenster bestand, beinahe übersehen, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen den Häusern mit der Nummer 24a und 26 eine etwa hausbreite Lücke aufgetan hatte. Er bemerkte es erst, als er sich bereits von der Straße ab- und dem Waschbecken zugewandt hatte und verschluckte sich beinahe an seiner Mundspülung.
Selbst als er wenige Augenblicke später auf dem Bürgersteig stand – keine fünf Schritte vor dem Loch, das bis gestern noch der Keller eines dreistöckigen Mietshauses ausgefüllt hatte –, selbst dort fiel es ihm schwer, zu glauben, was er sah. Er wischte sich mit einer fahrigen Bewegung das schüttere Haar aus der in Falten gelegten Stirn und stemmte die Hände in die Hüften, unschlüssig, unfähig mit einer angemessenen Reaktion aufzuwarten.
Links über ihm, am oberen Ende des Stufenaufgangs zu 24a, war plötzlich das Klimpern eines Schlüsselbundes zu hören, und eine Person in dick besohlten Schuhen trat durch die sich öffnende Haustür ins Freie.
»Morgen, Anton«, sagte Oskar ohne seinen Blick von dem nicht länger vorhandenen Haus abzuwenden. »Siehst du das?«
»Sehe ich… was?« Anton, ein untersetzter Mann, außerdem Hausmeister der Nummer 24a und notorischer Frühaufsteher, watschelte die Stufen von der Haustür zur Straße hinab und platzierte sich neben Oskar.
»Na, das dort. Das Haus.«
»Ich sehe da kein Haus.«
»… Eben.« In seiner Stimme schwang Erleichterung mit, denn für einige Momente hatte er befürchtet, nur er könnte Nummer 24b nicht mehr sehen. Sie standen schweigend nebeneinander, und Oskar begutachtete die Ecken der angrenzenden Haushälfte, an der 24b eigentlich hätte anschließen sollen.
Das Schnappen eines Sturmfeuerzeuges durchbrach die Stille, und der beißende Geruch von Tabak waberte um Oskars Nase.
»Na dann ist doch eigentlich alles in Ordnung?«, murmelte Anton, bevor er einen Zug von seiner Zigarette nahm.
»Wieso in Ordnung? Hier fehlt ein Haus! Ein ganzes Haus ist über Nacht verschwunden!«
Oskar konnte nicht anders als wild in die Lücke vor ihnen zu gestikulieren, doch alles In-die-Luft-deuten und Stirnrunzeln brachte ihm nur ein tadelndes Kopfschütteln ein.
»Häuser verschwinden nicht einfach«, klärte ihn Anton mit einer schulmeisterlichen Überlegenheit auf. »Wenn hier heute kein Haus ist, war hier gestern auch keines.«
Oskar verschlug es für einen Moment den Atem.
»Anton, seit ich hier wohne, stand hier Hausnummer 24b, grau, dreistöckig, efeuüberwachsen. Und jetzt … ist es weg! Einfach so! Nummer 26 ist dort …”, er deutete auf den wuchtigen Bau rechts von ihnen. »… und Nummer 24a ist …«
Er stockte, und sein Arm verharrte ausgestreckt in der Luft, der Zeigefinger in Richtung der Hausnummer des Hauses links von ihnen zeigend, wo neben der 24 die Farbe einen kleinen, etwas helleren Fleck aufwies. Das ‘a’ aus rostfreiem Edelstahl, welches dort seit er zurückdenken konnte gehangen hatte, schien entfernt worden zu sein. Ein schrecklicher Verdacht, der ihm die Kehle zuschnürte, nahm langsam in Oskars Kopf Form an.
»An-… Anton… was machst du eigentlich schon so früh vor dem Haus?«
Er zuckte ein wenig zusammen, als ihm sein kleiner, dicker Gesprächspartner die schwielige Hand auf die Schulter legte.
»War nett mal wieder mit dir zu Plaudern, Oskar. Komm doch mal auf ‘nen Kaffee vorbei, wenn du Zeit hast.«
Anton zog noch einmal an seinem Glimmstängel, dann schnippte er ihn in das Loch vor ihnen und wandte sich zum Gehen. Als der Hausmeister wieder die Stufen zur Haustür hinaufstieg, steckte er sein Feuerzeug zurück in seine Jackentasche, und Oskar meinte ein leises metallisches Klirren zu hören, als würde es gegen einen anderen Gegenstand aus Metall schlagen – vielleicht gegen einen aus rostfreiem Edelstahl.
»Häuser verschwinden nicht einfach«, murmelte Anton – dieses Mal mehr zu sich selbst als zu Oskar – und mit einem satten Schnappen schloss sich die Tür von Hausnummer 24 hinter ihm.