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24b

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22.08.2018
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24b

Es war ein wolkenloser Dienstag im April, als Hausnummer 24b verschwand.
Oskar Fingernagel, Bewohner des dritten Obergeschosses der Hausnummer 25, hätte während seiner allmorgendlichen Routine, die aus Frühstück, duschen und dem abschließenden Zähneputzen am Badfenster bestand, beinahe übersehen, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen den Häusern mit der Nummer 24a und 26 eine etwa hausbreite Lücke aufgetan hatte. Er bemerkte es erst, als er sich bereits von der Straße ab- und dem Waschbecken zugewandt hatte und verschluckte sich beinahe an seiner Mundspülung.
Selbst als er wenige Augenblicke später auf dem Bürgersteig stand – keine fünf Schritte vor dem Loch, das bis gestern noch der Keller eines dreistöckigen Mietshauses ausgefüllt hatte –, selbst dort fiel es ihm schwer, zu glauben, was er sah. Er wischte sich mit einer fahrigen Bewegung das schüttere Haar aus der in Falten gelegten Stirn und stemmte die Hände in die Hüften, unschlüssig, unfähig mit einer angemessenen Reaktion aufzuwarten.
Links über ihm, am oberen Ende des Stufenaufgangs zu 24a, war plötzlich das Klimpern eines Schlüsselbundes zu hören, und eine Person in dick besohlten Schuhen trat durch die sich öffnende Haustür ins Freie.
»Morgen, Anton«, sagte Oskar ohne seinen Blick von dem nicht länger vorhandenen Haus abzuwenden. »Siehst du das?«
»Sehe ich… was?« Anton, ein untersetzter Mann, außerdem Hausmeister der Nummer 24a und notorischer Frühaufsteher, watschelte die Stufen von der Haustür zur Straße hinab und platzierte sich neben Oskar.
»Na, das dort. Das Haus.«
»Ich sehe da kein Haus.«
»… Eben.« In seiner Stimme schwang Erleichterung mit, denn für einige Momente hatte er befürchtet, nur er könnte Nummer 24b nicht mehr sehen. Sie standen schweigend nebeneinander, und Oskar begutachtete die Ecken der angrenzenden Haushälfte, an der 24b eigentlich hätte anschließen sollen.
Das Schnappen eines Sturmfeuerzeuges durchbrach die Stille, und der beißende Geruch von Tabak waberte um Oskars Nase.
»Na dann ist doch eigentlich alles in Ordnung?«, murmelte Anton, bevor er einen Zug von seiner Zigarette nahm.
»Wieso in Ordnung? Hier fehlt ein Haus! Ein ganzes Haus ist über Nacht verschwunden!«
Oskar konnte nicht anders als wild in die Lücke vor ihnen zu gestikulieren, doch alles In-die-Luft-deuten und Stirnrunzeln brachte ihm nur ein tadelndes Kopfschütteln ein.
»Häuser verschwinden nicht einfach«, klärte ihn Anton mit einer schulmeisterlichen Überlegenheit auf. »Wenn hier heute kein Haus ist, war hier gestern auch keines.«
Oskar verschlug es für einen Moment den Atem.
»Anton, seit ich hier wohne, stand hier Hausnummer 24b, grau, dreistöckig, efeuüberwachsen. Und jetzt … ist es weg! Einfach so! Nummer 26 ist dort …”, er deutete auf den wuchtigen Bau rechts von ihnen. »… und Nummer 24a ist …«
Er stockte, und sein Arm verharrte ausgestreckt in der Luft, der Zeigefinger in Richtung der Hausnummer des Hauses links von ihnen zeigend, wo neben der 24 die Farbe einen kleinen, etwas helleren Fleck aufwies. Das ‘a’ aus rostfreiem Edelstahl, welches dort seit er zurückdenken konnte gehangen hatte, schien entfernt worden zu sein. Ein schrecklicher Verdacht, der ihm die Kehle zuschnürte, nahm langsam in Oskars Kopf Form an.
»An-… Anton… was machst du eigentlich schon so früh vor dem Haus?«
Er zuckte ein wenig zusammen, als ihm sein kleiner, dicker Gesprächspartner die schwielige Hand auf die Schulter legte.
»War nett mal wieder mit dir zu Plaudern, Oskar. Komm doch mal auf ‘nen Kaffee vorbei, wenn du Zeit hast.«
Anton zog noch einmal an seinem Glimmstängel, dann schnippte er ihn in das Loch vor ihnen und wandte sich zum Gehen. Als der Hausmeister wieder die Stufen zur Haustür hinaufstieg, steckte er sein Feuerzeug zurück in seine Jackentasche, und Oskar meinte ein leises metallisches Klirren zu hören, als würde es gegen einen anderen Gegenstand aus Metall schlagen – vielleicht gegen einen aus rostfreiem Edelstahl.
»Häuser verschwinden nicht einfach«, murmelte Anton – dieses Mal mehr zu sich selbst als zu Oskar – und mit einem satten Schnappen schloss sich die Tür von Hausnummer 24 hinter ihm.

 

Hey @Nnightingale,

Es war ein wolkenloser Dienstag im April, als die Hausnummer 24b verschwand.

Ah, wieder eine Geschichte die mit einer Wetterbeschreibung an einem bestimmten Tag beginnt, befürchte ich erst. Doch dann kommt das verschwundene Haus – es verschwindet nicht nur das Nummernschild – und das machte mich neugierig. Ich schreibe dir, was mir beim Lesen aufgefallen ist. Nimm dir, was du brauchst.

Er wischte sich mit einer fahrigen Bewegung das schüttere Haar von der in Falten gelegten Stirn
Haare AUS der Stirn streichen.

und stemmte dann die Hände in die Hüften, unschlüssig, unfähig mit einer angemessenen Reaktion aufzuwarten.
„dann“ wäre entbehrlich.


bis gestern noch der Keller einer Doppelhaushälfte ausgefüllt hatte …
… Anton, ein untersetzter Mann, außerdem Hausmeister der Nummer 24a
Moment. Haus 24b war eine Doppelhaushälfte. Haus 24a wäre für mein Verständnis jetzt die angrenzende, andere Hälfte. Das könntest du btw. bildlich durch eine Art Brandmauer aufzeigen. Nur so ne Idee. Stutzig macht mich hier, dass das (Einfamilien-)Haus Nr.24a einen Hausmeister hat.


und Oskar begutachtete triumphierend die Ecken der beiden angrenzenden Häuser, an denen 24b eigentlich hätte anschließen sollen.
„triumphierend“ klingt nicht passend, irgendwie zu stark und abschätzig. Er fühlt sich eher bestätigt. Vllt. findest du ein anderes Wort.
Und bei zwei angrenzenden Häusern, ist das Bild von einer fehlenden Doppelhaushälfte endgültig schief. :schiel: Oder kapiere ich es nur nicht? Ändere es vlt. in ein 3-stöckiges Mietshaus, weil ein Reihenhaus den Hausmeister nicht erklären würde.


Schließlich durchbrach das Schnappen eines Sturmfeuerzeuges die Stille, und wenig später waberte der beißende Geruch von billigem Tabak um Oskars Nase.
„Schließlich“ und „wenig später“ braucht es für mein Empfinden nicht. Die neue Handlung beendet auch allein das schweigend nebeneinanderstehen. Und es ist auch klar, dass erst das Feuerzeug zu hören ist, anschließend der Qualm wabert. Also so: „Das Schnappen eines Sturmfeuerzeuges durchbrach die Stille und der beißende Geruch von billigem Tabak waberte um Oskars Nase.“


»Anton – seit ich hier wohne, stand hier ‘Hausnummer 24b’, grau, dreistöckig, efeuüberwachsen. Und jetzt[Leerzeichen]… ist sie weg! Einfach so! Nummer 26 ist dort[Leerzeichen]…”, er deutete auf den wuchtigen Bau rechts von ihnen. »… und Nummer 24a ist-…«
Warum setzt du nach „Anton“ einen Gedankenstrich und kein Komma? Das sieht für mich schräg aus, weil es ja kein Einschub ist. Es wird ein Leerzeichen vor den Auslassungspunkten gesetzt, wenn das Wort selbst nicht abgeschnitten wird. Der Beistrich nach „24a ist“ kann weg. Zu dem „da stand eine Hausnummer – und jetzt ist SIE weg“, habe ich dir oben schon was geschrieben.


und mit einem satten Schnappen schloss sich die Tür von Hausnummer 24 hinter ihm.
Hah, nur noch 24. Ich mag den Schluss. :)


Den Text finde ich sprachlich rund. Handlung und Figurenanzahl sind überschaubar, genau richtig für diese bizarren Vorkommnisse in einer wohl sonst beschaulichen Nachbarschaft. Und der arme Oskar gerät nichtsahnend hinein und zweifelt an seiner geistigen Verfassung. Witzig absurde Geschichte, mit einem Ende, das über das Schicksal der anderen Häuser in der Straße spekulieren lässt. :sconf:

Vielleicht magst du deiner Geschichte noch Genre-Stichwörter geben. Vllt. „Seltsam“.
Manche Leser suchen gezielt nach Texten einer bestimmten Rubrik, z.B. SF, Romantik, Horror, Kinder, …

Spätsommerliche Grüße aus Berlin
wegen

 

Hallo @Nnightingale

Herzlich Willkommen bei uns!

Es war ein wolkenloser Dienstag im April, als die Hausnummer 24b verschwand.
Ich steh total auf den ersten Satz. Da musste ich sofort lächeln und hatte ein gutes Gefühl im Bauch. Ich mag generell absurde Texte, kann mich darauf einlassen und hinterfrage bei so einer Art Geschichte auch nicht viel, sondern lasse mich einfach reinfallen in den Wahnsinn/die Absurdität.

Sprachlich hat @wegen schon aufgezeigt, was mir beim ersten Lesen auch aufgefallen ist.

Zusätzlich ein Vorschlag:

Anton – seit ich hier wohne, stand hier ‘Hausnummer 24b’
Ich finde, die extra Anführungszeichen vor Hausnummer 24b braucht es nicht. Es reicht, wenn das kursiv steht.

Insgesamt möchte ich zur sprachlichen Gestaltung noch sagen, dass du ziemlich viele Adjektive verwendest. Du schreibst an sich sehr flüssig, da bin ich nirgends wirklich gestolpert, aber an einigen Stellen war mir das mit den beschreibenden Wörtern zu viel.

große, graue Lücke
mit einer fahrigen Bewegung
in Falten gelegten Stirn
einer angemessenen Reaktion
notorischer Frühaufsteher
begutachtete triumphierend
beißende Geruch von billigem Tabak

Nur mal ein paar Beispiele, die ich rausgepickt habe, wo man das Adjektiv/Adverb streichen könnte, bzw. eventuell sogar die ganze Formulierung. Ich würde den Text noch einmal genau danach abtasten. Welche Adjektive sind entbehrlich. Oder: wie kannst du es anders beschreiben, als nur durch ein Adjektiv (z.B. im Gespräch oder durch ein bestimmtes Verhalten).

Ansonsten habe ich den Text wirklich gerne gelesen. Der kommt unbeschwert daher und hat mir einfach ein gutes Gefühl gegeben. Zugegeben, ich weiß nicht, ob da nun eine tiefere Botschaft dahinter steckt. Falls ja, habe ich sie jedenfalls noch nicht entdeckt. Die Absurdität des Geschehens und vor allem Oskar in seiner Hilflosigkeit gefielen mir jedoch sehr.

Viele Grüße
RinaWu


p.s.: Ich finde die Idee übrigens gut, deine Geschichte mit dem Stichwort "Seltsam" zu versehen. Das stimmt den Leser gleich ein auf das, was kommt.

 

Hey @wegen, hallo @RinaWu,

zuallererst und bevor ich auf eure großartigen Tips und Hinweise eingehe möchte ich mich erst mal für die ausführlichen Kommentare bedanken. Genau solche konstruktive Kritik hatte ich mir von dieser Seite erhofft und ich bin sehr begeistert darüber, dass meine erste kleine Geschichte hier in so kurzer Zeit so kompetent kommentiert wurde. :)

Also, jetzt in die Details:

es verschwindet nicht nur das Nummernschild
Witzig, dass du das anmerkst, denn in einer früheren Version lautete der erste Satz:
"Es war ein wolkenloser Dienstag im April, als die Hausnummer 24b verschwand – und mit ihr das Haus, an dem sie befestigt gewesen war."
Ich habe ihn dann ein wenig gekürzt, weil mir der Teil mit der Hausnummer etwas redundant erschien; wenn man ihn ohne diesen Zusatz ließt denkt man wahrscheinlich ohnehin, dass das gesamte Gebäude gemeint ist, aber das nur so am Rande, und weil es zu deinem ersten Kommentar passt. ^^
Die zwei kleinen Verbesserungen werde ich direkt so übernehmen, dein nächstes Kommentar hat bei mir einiges Stirnrunzeln ausgelöst, nicht weil ich es für falsch halte, sondern weil du mich auf einen Denkfehler hingewiesen hast, dan ich zuvor überhaupt nicht auf dem Schirm hatte.
Stutzig macht mich hier, dass das (Einfamilien-)Haus Nr.24a einen Hausmeister hat.
Du hast natürlich vollkommen Recht, ein Einfamilienhaus das Teil einer Doppelhaushälfte ist hat absolut keinen Bedarf für einen Hausmeister. Irgendwie ist mir das beim erdenken der Geschichte entgangen, also von daher: danke für den Hinweis! Ich glaube, wenn ich Anton einfach vom Hausmeister zum einfachen Bewohner der anderen Haushälfte umschreibe, wird das der Geschichte nichts nehmen.
Ändere es vlt. in ein 3-stöckiges Mietshaus, weil ein Reihenhaus den Hausmeister nicht erklären würde.
Das wäre eine andere Möglichkeit, den Fehler zu kaschieren, wobei ich mir nicht ganz sicher bin wie das Prozedere bei Hausnummerzusätzen ist, ansonsten würde ich 24b vielleicht zu der hälfte eines auf zwei Hausnummern aufgeteilten, zusammenhängenden Mietshauses umändern, bei dessen verschwinden dann nur auf einer Seite eine kahle Wand und auf der anderen Seite ein Stück Garten oder eine Einfahrt übrig bleibt.
So oder so, ich werde mich drum kümmern, wie das genau passieren wird, darüber muss ich noch meditieren. ^^
Mit den nachfolgenden Verbesserungen gehe ich auch vollkommen d’accord, vor allem für die Hinweise zur Zeichensetzung möchte ich mich bedanken. In diesem Bereich bin ich mir immer noch sehr unsicher, wie ich den Sprachrhythmus und die Betonung des gesagten korrekt darstellen soll, daher helfen mir diese Anmerkungen ungemein – und danke für den Hinweis zu den Tags! Da werde ich auf jeden Fall ein paar hinzufügen.
Ich bedanke mich noch einmal für die vielen Verbesserungsvorschläge und die Grüße, und schicke dir (leider) schon beinahe früherbstliche Grüße aus Bayern zurück! :D

Nun zu dir, @RinaWu.
Gestern Abend habe ich noch ein wenig auf der Seite rumgestöbert und dabei auf deine Geschichte "Kellerkiste" gelesen, die mich wirklich gefesselt und mitgenommen hat. So viel Emotion, zu so später Stunde. Toll.
Die Anführungszeichen waren tatsächlich auch ein relativ später Zusatz, bei dem ich mir selbst auch nicht ganz sicher war. Sind praktisch schon verschwunden. ^^

[...] dass du ziemlich viele Adjektive verwendest.
[...] an einigen Stellen war mir das mit den beschreibenden Wörtern zu viel.
Oh, jah, da sprichst du was an. Mir selbst fällt das beim durchlesen meiner Texte auch öfter auf, und wenn ich es bemerke, versuche ich es auch ein bisschen einzuschränken... oder es als "Schreibstil" zu verkaufen. ^^' Aber du hast natürlich nicht unrecht, vielleicht ist das eine oder andere Adjektiv entbehrlich, und es gibt natürlich subtilere Wege, Dinge, Situationen oder Handlungen zu beschreiben. Ich werde daran auf jeden Fall arbeiten.
Zugegeben, ich weiß nicht, ob da nun eine tiefere Botschaft dahinter steckt. Falls ja, habe ich sie jedenfalls noch nicht entdeckt.
Ich selbst bin mir tatsächlich auch nicht ganz sicher, ob und welche tiefer Bedeutung die ganze Geschichte innehat, und grundsätzlich bin ich dafür, dass ihn jeder für sich interpretieren kann... aber das ist vielleicht auch einfach die faulste Antwort. Was ich auf jeden Fall sagen kann ist, dass die Idee eines verschwundenen Hauses als Auslöser für eine Kontroverse als allererstes Form annahm, und dass ich beim schreiben wahrscheinlich ein wenig von "1984", dass ich währenddessen zum ersten Mal gelesen habe, beeinflusst wurde. Das ist vielleicht nicht direkt (oder auch gar nicht) erkennbar, aber die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Figuren Oskar und Anton, von denen der eine lieber wissentlich eine Lüge (die er sich selbst erzählt) annimmt als eine Wahrheit zu akzeptieren, die seinen geordneten Alltag erschüttern würde, hat mich beim sinnieren über meine Geschichte doch sehr an die Gedanken, die ich mir zu Orwells Werk (und vor allem dem darin beschriebenen "Doppeldenk") gemacht habe erinnert, und auch die Hilflosigkeit Oskars trägt irgendwie zu diesem Bild bei... auf jeden Fall wollte ich zwei Charaktere darstellen, die absolut gegensätzlich auf ein unmögliches Ereignis reagieren.
Aber vor allem hat mir das schreiben Spaß gemacht. :D

Auch dir nochmal vielen, vielen Dank für die äußerst konstruktive Kritik, die hilfreichen Hinweise, und andere Alliterationen, die mir jetzt nicht einfallen. Und es freut mich natürlich auch unheimlich, dass du Spaß am lesen hattest, denn dann hat die Geschichte ihren Zweck schon erfüllt. :)

Viele liebe Grüße an euch beide,
Nnightingale

 

Hallo Nnightingale,

mir gefällt dein Einstand hier bei uns und damit einen herzlichen Willkommensgruß. Fühl dich wohl bei uns mit deinem Schreiben.

Ich hab die vorherigen Kommentare nicht gelesen aus Zeitgründen, daher sieh es mir nach, wenn sich einzelne Punkte vielleicht wiederholen.

Erst mal rein inhaltlich. Mir gefällt deine kleine Zwittergeschichte. Sie gibt sich das Ansehen einer kleinen normalen Kurzgeschichte mit einem etwas seltsamen Inhalt, gleichzeitig kann man sie, wenn man will, auch als Parabel für gesellschaftliche Entwicklungen sehen. Auf einmal ist die Hilfsbereitschaft oder Menschlichkeit oder von mir aus auch die Demokratiefähigkeit weg, die vorher so trutzig und stabil da standen wie ein aus Stein gebautes Haus. Und der einizge, der es bemerkt, traut seinen Augen nicht und hat von dem Abriss so gar nichts mitbekommen, obwohl das doch ordentlich hätte rumpeln und stauben müssen. Aber manche machen eben die Augen zu und alle sonstigen Körperöffnungen, nur damit sie nichts mitkriegen. Ihm wird nicht geglaubt, und der, der ihm vorgaukelt, es sei doch alles völlig normal, hat offensichtlich selbst zu dem endgültigen Abriss mit beigetragen.
Ich komm darauf, weil mich deine Geschichte an eine Geschichte erinnert, die ich mal im Spanischunterricht gelesen habe. Von einem argentinischen Schriftsteller. Da zieht etwas Fremdes in ein Haus ein und treibt die Bewohner in immer kleinere und engere Bereiche zurück. Die Bewohner aber wollen sich nicht gegen diese Macht wehren, sondern ergeben sich ihr. Die Geschichte (ich hab den Autoren vergessen) ist eine Allegorie auf die argentinische Miltärdikatur.
Aber ich komm nicht nur wegen meiner persönlichen Leseerfahrung darauf, sondern das Thema bietet sich iwei an. Aber das kann sein, dass nur ich das so sehe.

Mir fällt im Nachhinein daran auf, dass solche Parabeln ihre Tücken haben. Wenn sie zur Zeit einer Diktatur geschreiben werden, bleiben die Autoren, um nicht anggegriffen zu werden, oft so allgemein oder in einer Bilderwelt, dass man die selbe Symbolik für etwas ganz anderes, vielleicht sogar Konträres oder Reaktionäres verwenden könnte.
Aber lassen wir mal das Thema, denn ich weiß ja noch nicht mal, ob du einen über den rein unmittelbaren Inhalt hinausgehenden Sinn im Kopf hattest.

Also gehen wir mal lieber zum Stil.
Was mir auffällt und gut gefällt, ist, dass du den Protagonisten und seinen Blick mit einer gewissen behäbigen Exaktheit beschreiben hast, die durch den Stil erzeugt wird. So zum Beispiel das häufige pedantische Rückbeziehen auf die Hausnummer.

Eigentlich gehören Wetterbeschreibungen ja zu den Nogos der Schreibeszene, aber hier passts. Wolkenloser Himmel in einem wechselhaften Monat. Alles scheint, wie es besser nicht sein könnte. Doch da verschwindet ein Haus. Auch hier fällt mir das Genaue auf: 24b

Es war ein wolkenloser Dienstag im April, als Hausnummer 24b verschwand.

Hier ist so ein Beispiel, wie du durch Genauigkeit in der Beobachtung, die Einschübe, die Äufzählungen, den Schein erzeugst, man hat hier einen sehr akribischen, etwas altmodischen Menschen vor sich, der sich an seine Routine hält und von ihr gehalten wird.
Oskar Fingernagel, Bewohner des dritten Obergeschosses der Hausnummer 25, hätte während seiner allmorgendlichen Routine, die aus Frühstück, duschen und dem abschließenden Zähneputzen am Badfenster bestand, beinahe übersehen, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen den Häusern mit der Nummer 24a und 26 eine etwa hausbreite Lücke aufgetan hatte.

Selbst als er wenige Augenblicke später auf dem Bürgersteig stand – keine fünf Schritte vor dem Loch, das bis gestern noch der Keller eines dreistöckigen Mietshauses ausgefüllt hatte –, selbst dort fiel es ihm noch schwer, zu glauben, was er sah.
Die Wiederholung von "selbst" passt hier, weil es die Wirkung seiner Ungläubigkeit erhöht, aber das "noch" nimmt sie wieder weg.


Ansonsten hast du ziemlich viele Attribute (Adjektiveu.a. verwendet) um die Personen zu beschreiben. Manchmal könnte man das streichen, weil es überladen wirkt, oder sogar in eine einzige Richtung führt.

Das Schnappen eines Sturmfeuerzeuges durchbrach die Stille, und der beißende Geruch von billigem Tabak waberte um Oskars Nase.
»Na dann ist doch eigentlich alles in Ordnung?«, murmelte Anton zaghaft, bevor er einen Zug von seiner Zigarette nahm.
Hier bei "billig" kommts mir sehr deutlich überladen vor. Ich wüsste auch nicht, was es dir bringen sollte, wenn der Anton auch noch arm ist. Würde von der Geschichte abführen. Bzw wirkt eher wie eine recht formelle Art, einen Charakter abzubilden.
Und "zaghaft" habe ich gestrichen, weil du damit die Lesweise in eine ganz eindeutige Richtung drängst. Da der Anton ja später das Nummernschild mit sich führt, also mit dem Abriss was zu tun hat, passt das "zaghaft" nicht so gut. Führt den Leser zu sehr ab in die Richtung, dass der Anton nur denkt: Nicht sein kann, was nicht sein darf und Angst hat, der Oskar nimmt ihm diese Sicht durch sein beharren. Lass ihn stattdessen eine Geste machen oder so, wenn du unbedingt was willst. Aber mit "zaghaft" führst du den Leser ein bisschen zu sehr an der Nase rum.
Oder wähle ein anderes Adjektiv, wenn es unbedingt eines sein muss. Antons Mittäterschaft soll ja überraschend sein und der Leser darf sich gerne auf vorgeführt fühlen, aber eben ein bisschen geschickter.

Aus Zeitgründen muss ich leider stoppen. Ich würde einfach noch mal nach solchen Adjektiven schauen, die zu formell wirken oder von der Geschichte wegführen. Man kann viel mit dem zeigen von Gesten oder Mimik machen oder wie in dem Fall des Tabaks mit dem Nennen einer Tabaksorte. Aber letzteres würde aus meiner Sicht nicht in deine Geschichte passen. Da würde ich einfach streichen.
Vielleicht kannst du ja schon mit diesen Hinweisen etwas anfangen.

Viele Grüße von Novak

 

@Ronnie, du Fuchs! :D Da bist du mir auf die Schliche gekommen!
Nein, im Ernst, als ich diese Geschichte geschrieben habe hatte ich gerade 1984 zum ersten Mal gelesen, und auch der Inhalt der Geschichte, die moralischen Implikationen sind sehr, sehr stark von den Gedanken inspiriert, die ich mir beim Lesen gemacht habe, daraus will ich keinen Hehl machen. Die sprachlichen Ähnlichkeiten waren zugegebenermaßen keine Absicht, aber da bin ich wohl einfach unterbewusst beeinflusst worden.
Eigentlich kann man die Geschichte gerne als meine persönliche kleine Hommage an 1984 und Orwell sehen – und den ersten Satz als kleines Easteregg. :D

 

Hey @Manlio!

Danke für die vielen Tips. :D

Das klingt ungefähr, als befände sich Anton im selben Haus in einem oberen Stockwerk am Fenster.
Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, dass Anton Oskar vom oberen Ende des Stufenaufgangs zur Haustür aus begrüßt, aber wenn man sich die beschriebene Umgebung nicht selbst ausgedacht hat kann das wohl wirklich etwas verwirren, da hast du wohl Recht. Ich werde das, wie du vorgeschlagen hast, ein bisschen spezifizieren.
Was mich wundert, Anton hat doch Dreck am Stecken, warum ist er so erpicht darauf, mit Oskar zu plaudern?
Ich glaube Antons Motivation dahinter, dass er Oskar so direkt anspricht, ist, dass er seinen Alltag so normal wie möglich fortführen möchte... aber eigentlich muss ich dir zustimmen. Vielleicht würde es sich besser einfügen, wenn Oskar das Gespräch beginnt.
Zum Rest: Da hast du mich tatsächlich noch auf ein paar Logikfehler aufmerksam gemacht, die ich jetzt so auf keinen Fall lassen kann. Danke!
Antons letzter Satz zu Oskar war so eine Art Notlösung, da ich nicht wusste wie ich das Gespräch beenden soll, er ist mir wirklich nicht all zu gut gelungen, und vollkommen zufrieden bin ich mit ihm auch nicht. Ich glaube, jetzt wo du mich auch nochmal darauf hingewiesen hast, werde ich mir da eine Alternative überlegen.

Liebe Grüße, Nnightingale

Hallo @Novak,

Ich kann mit deinen Hinweisen auf jeden Fall etwas anfangen, eine ganze Menge sogar, ich habe ein paar von ihnen auch direkt umgesetzt. Vielen Dank also für die Anmerkungen, und auch vielen Dank für die interessante Interpretation bzw. den Vergleich mit ähnlichen Geschichten; du hast einige Gedanken, die ich mir beim Schreiben gemacht habe, besser in Worte gefasst, als ich es hätte können. Tatsächlich bin ich überhaupt erst durch George Orwells "1984" zum Verfassen dieser Geschichte inspiriert worden. Was ich genau vor hatte kann ich auch nicht sagen, es war mehr eine Reaktion auf einen Schreibimpuls als minutiös durchdachte Planung, die mich hier zum Schreiben gebracht hat. Aber was du geschrieben hast fühlt sich auf jeden Fall richtig an. :D
Die Sache mit den Adjektiven wurde jetzt auch schon öfters angemerkt, und ich sehe das auch langsam... In Zukunft werde ich versuchen, weniger mit ihnen um mich zu werfen und sie mit etwas mehr Bedacht einzusetzen. ^^

Nochmal vielen Dank für die unglaublich hilfreichen Hinweise, ganz liebe Grüße,
Nnightingale

 

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