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23
23 oder Irreale Realität
Wenn Mittel zur Kontrolle entwickelt werden ist dies eine Warnung.
Wenn Mittel zur Kontrolle nicht überwacht und restriktiert werden,
ist dies ein unduldbarer Zustand.
Wenn Mittel zur Kontrolle die Persönlichkeit einschränken, ist es zu spät!
-Charles Delors
Dies ist kein schöner Gedanke, aber es ist Realität. Und vor dieser Realität sollten wir unsere Augen nicht verschließen:
23. Februar 2003. Alles begann so, wie eigentlich alles beginnt, einfach und
unkompliziert. Ein schlichtes "Sie haben Post" tönte aus den Lautsprecherboxen
meines Computers, der Download der Email wurde automatisch eingeleitet.
So weit so gut, doch alles was danach passierte war mehr als ungewöhnlich.
Die Email, ohne Absender und Betreff, vollkommen anonym. Ein seltsames Gefühl beschlich mich, dennoch öffnete ich die Nachricht, meine Neugierde war einfach zu groß.
„geh vor die tür und schau ob die tageszeitung schon geliefert wurde“
Ich weiß nicht warum, und ich weiß nicht was ich mir dabei gedacht habe, ich weiß nur noch, dass ich dies dann auch tatsächlich getan habe. Nur war dort keine Spur von einer Tageszeitung, wieso auch, in den letzen 5 Jahren wurde sie erst um 8³° geliefert, wieso sollte es heute dann anders sein. In dem Bewusstsein, dass ich Opfer eines infantilen Streiches geworden war, drehte ich mich um und war mit meinen Gedanken schon zurück an meinem Computer, als ich einen kleinen unscheinbaren Brief auf der Treppe liegen sah. Ebenfalls ohne Absender, Betreff oder dergleichen. Langsam kam mir das Gefühl, dass dies ein bisschen mehr war als nur ein kleiner dummer Streich. Ich nahm den Brief an mich, ging zurück ins Haus und machte es mir auf dem Sofa bequem. Ich öffnete den Brief und begann zu lesen, eine unglaubliche Geschichte zog mich in ihren Bann, Wahrheit und scheinbare Fiktion waren eins.
23 Tage.
23 Tage warten.
Warten auf was?
Man könnte sagen auf das Unvermeidliche.
Ich weiß es, ich habe es schon oft miterlebt, doch nicht aus dieser Perspektive.
23 Tage, jeden Schritt, jeden Atemzug, wir wussten alles, SIE wissen alles.
Ein Netzwerk, das sich sanft und unmerklich um mich spannt. Immer enger, wie eine Fliege die in ein unsichtbares Spinnennetz gerät. Ich weiß, dass es da ist. Ich weiß wie es funktioniert. Ich weiß wie man es überwindet?
Am Anfang einer Karriere, wie ich sie hatte, steht Geld, Macht oder Wissen. Es gibt keine anderen Wege, und der dritte ist der Gefährlichste.
Wissen bedeutet Macht, zu viel Wissen bedeutet den Tod.
Es gibt Grenzen, die man beachten sollte, keine tatsächlichen Grenzen, es ist die Grenze von Jäger zu Gejagtem, von Freund zu Feind.
Hier sitze ich nun, sie sind auf meiner Spur, bis jetzt war ich ihnen immer einen Schritt voraus, seit meinem finalen Entschluss.
Ich war dabei, nach einem gewöhnlichen Arbeitstag die letzten Änderungen an „Carnivore“ zu sichern. Wieder einmal war ich einer der Letzten im
Gebäudekomplex W5.
Ich sammelte meine Unterlagen und ordnete sie, als die Sekretärin, die dabei war die Arbeitsaufträge für den nächsten Tag auf den Bürotischen unserer Abteilung zu verteilen, eintrat. Sie drückte mir mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck ein Kuvert in die Hand und widmete sich, ohne mich weiter zu beachten, ihrer Arbeit. Durch einen gekonnten Schnitt mit meinem Brieföffner durchtrennte ich das Siegel und überflog gähnend den Inhalt. Doch das Gähnen blieb mir im Halse stecken. Das Dossier las sich wie ein perverser Politthriller. Mir war durchaus bewusst, dass ich mich in einer Organisation befand, in der es durchaus gängiges Mittel war, die Gesetze hier und da etwas zu dehnen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Aber in welche Dimensionen sich diese Planungen erstrecken, hätte ich nicht zu vermuten gewagt. In diesem Moment erkannte ich, dass mir dieses Dokument einen kurzen Einblick in die Tiefen der Politik bot.
„ [...] Carnivore stellt in unseren Augen eine sehr gute Grundlage dar, durch geplante Aktivitäten auf geheimdienstlicher Basis gegen jegliche Art von politischen Widerstand zu reagieren, der die mögliche Entmachtung einer unserer Mitarbeiter an politisch gefährdeter Position zur Folge haben könnte. [...] Wir bitten Sie somit Carnivore in diese Richtung weiterzuentwickeln. Da die gesetzliche Grundlage vorerst nicht geschaffen werden kann, sollten Informationen diesbezüglich nicht weitergegeben werden. [...] “
Dieser Brief war nicht für meine Augen bestimmt.
Fassungslos legte ich den Bericht beiseite. Schweißgebadet ließ ich meinen Blick durch das weite Dunkel des verlassenen Büros schweifen. Langsam ging ich zum Fenster, öffnete es. Kalter Wind streifte an mir vorbei. Es war ein Moment, der scheinbar ewig währte. Ich betrachtete all die kleinen Lichter, weit unter mir, all die Menschen, die nichts ahnten von dem, was sich hinter der Fassade ihres Lebens abspielte. Das konnte doch alles nicht wahr sein, ich musste hier raus. Weg von diesem Ort, raus hier, ich wollte nur noch raus. Ich packte meine Tasche, stopfte hastig das brisante Material hinein, knipste meine Schreibtischlampe aus und machte mich eilig auf den Weg in Richtung Fahrstuhl. Stockwerk für Stockwerk fuhr ich an verlassenen Bürosälen vorbei. Das eintönige Pingen, mit dem die Stockwerksanzeige langsam gegen 0 wanderte, ließ die Anspannung in mir unaufhörlich wachsen. Ein Gefühl der Enge überkam mich, mir wurde klar, dass es nicht die Anderen waren, um die ich mich Sorgen musste, ich hatte mich unverschuldet selbst zum Opfer gemacht. Ich wusste nun zu viel um für dieses System noch weiter tragbar zu sein. Das abrupte Abbremsen des Fahrstuhles versetzte meinen Geist zurück in die Realität. Mit hallenden Schritten ging ich durch die spiegelnde Eingangshalle aus Marmor. Die Wachleute am Eingang grüßte ich mit einem aufgesetzten Lächeln und schritt durch die sich lautlos drehende Tür in die Kälte der Nacht. Nun musste es schnell gehen, noch ein letztes Mal schaute ich in meinem zum Zuhause gewordenen Appartement in der Nähe der NSA Zentrale vorbei. Ohne viel Zeit zu verlieren schmiss ich alles, was ich für Nützlich erachtete in den Reisekoffer, der sich bei so vielen Auslandseinsätzen zu meinem treuen Begleiter entwickelt hatte. Mit dem letzten Blick zurück wurde mir klar, dass mich das bald eintreffende Taxi weit weg von dem brachte, was ein menschenwürdiges Leben darstellte. Ein Leben in Angst, ein Leben auf der Flucht vor einer Organisation, für die ich ein Problem darstellte, welches beseitigt werden muss.
Mehrere Stunden fahrt, mit der Stirn ans Seitenfenster gelehnt, vorbei an einer Welt voller Lichter, flackernden Neonschriftzügen, im Wind schaukelnden Laternen, ein von Wolken verhangener Mond. Mein Atem ließ langsam die Scheibe beschlagen. Immer wieder wischte ich sie frei, feucht, glitschig und kalt. Der Taxifahrer, der wohl die ganze Zeit gewartet hatte, um mit mir zu reden, schaltete das Radio an. Monotones Motorengeräusch, Countrymusic, das Zischen entgegenkommender Autos, das alles vermischte sich in meinem Kopf zu einem Brei aus Tönen und Lauten, der mich langsam ganz vereinnahmte und mich in die Traumwelt hinübergeleitete.
"Wir sind da Sir." Ich öffnete meine Augen, verschwommen sah ich das Gesicht des Taxifahrers vor mir, frischer Morgenwind streifte an mir vorüber und wehte den wirren Schleier meines Traumes aus meinen Gedanken. Nachdem ich bezahlt hatte, nahm ich meinen Koffer aus dem Kofferraum und zog ihn hinter mir her, vorbei an den wenigen parkenden Autos auf dem Parkplatz vor einem abgelegenen Hotel irgendwo an einem Waldrand. Wenn ich selbst nicht wusste wo ich war, so sollte es für eventuelle Verfolger noch schwerer herauszubekommen sein.
Ein Bett, daneben zwei Stühle, ein kleiner Tisch, ein Einbauschrank, das war alles, was sich in meinem Hotelzimmer befand. Ich schloss die Tür hinter mir zu, stellte den Koffer in die unterste Etage des Schrankes und setzte mich auf das Bett. Am Fenster zeichnete sich ein wunderschönes Panorama aus Bäumen, Hügeln und einem fast vollzogenen Sonnenaufgang. Dieses Bild passte so gar nicht zu meinen Gedanken.
Wie lange würde es wohl dauern, bis sie merkten, dass das Dossier verschwunden war? Wie lange würde es wohl dauern, bis sie die Überwachungsvideos analysiert hätten? Wie lange würde es wohl dauern, bis sie mich mit dem Dokument in der Hand an meinem Schreibtisch sitzend erkannt hatten? Wie lange würde es wohl dauern, bis die Jagd auf mich beginnen würde? Ich war mir sicher, dass dies alles schon lange passiert war. Sie wussten schon alles.
Was wäre passiert, wenn ich nicht geflüchtet wäre, wenn ich einfach zum Abteilungsleiter gegangen wäre? Freundlich hätte er gesagt: "Danke sehr, das finde ich sehr aufrichtig von ihnen." Nie wieder hätte man mich danach gesehen, die Geschichte wäre aus, ein Happy End, alle Menschen blieben glücklich.
Auf der letzten Seite, befanden sich ein paar Namen, ich las sie durch, wieder und wieder. Es waren die Namen von Politikern, die sich gegen die aktuelle Politik ausgesprochen hatten. In schäbiger Bürokratensprache war angedeutet, dass sie zu Testzwecken überwacht werden sollten - bei Gefahr sollte man sie ausschalten.
Und auf eben dieser Liste fand ich Ihren Namen.
„Und auf eben dieser Liste fand ich Ihren Namen.“ Unendlich langsam, unendlich oft schoss dieser Satz immer und immer wieder durch meinen Kopf, wie ein niemals enden wollendes Echo. Meine Gedanken verselbstständigten sich, wirrer immer wirrer, nahezu willenlos gab ich mich ihnen hin. Mir kam es beinahe so vor, als würde ich mich selbst außerhalb meines Körpers befinden und mich betrachten, vollkommen hilflos, ohne Einfluss auf die immer größer und abstruser werdenden Gedankenkomplexe. Wenn dies wahr war, wenn auch nur die Hälfte davon stimmen sollte …
Jäh riss mich das grelle Piepsen des Eierkochers aus meinem Albtraum. Ein herber Bruch zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Ich stand auf, der Brief glitt mir aus der Hand, ich hob ihn auf, wieder fiel mein Blick auf die letzen Zeilen, und sie begannen wieder wild durch meinem Hirn zu spuken. Doch schließlich beherrschte ich mich, konzentrierte mich, langsam gelang es mir wieder Herr meiner Sinne zu werden. Ich ging in die Küche, um zu frühstücken. Der Appetit war mir jedoch vergangen, lustlos würgte ich einige Bissen hinunter. Unmittelbar danach begann ich mir über meine Situation Gedanken zu machen. Ich stand auf, ging wieder zu dem Sofa und nahm den Brief, ich musste ihn in Händen halten, sonst konnte ich es nicht glauben. Langsam las ich den Brief noch einmal durch. Beim zweiten Abschnitt stoppte ich. „Carnivore”, irgendwo hatte ich das schon mal gehört. Ich ging an meinen PC, um über das Internet einige Informationen darüber heraus zu finden. Schon nach kurzer Zeit fand ich einen interessanten Artikel, der vom FBI über eben dieses Projekt veröffentlicht wurde.
Anscheinend schien dies eine Art ‚Gemeinschaftsprojekt’ zu sein, das sich nicht alleine auf die NSA beschränkte. Laut FBI wurde ‚Carnivore’ mit der offiziellen Bezeichnung ‚DCS1000’ dazu entwickelt den E-Mail Verkehr und den Informationsaustausch in Foren und öffentlichen Chats zu filtern, und eventuelle Terroristengespräche zu erkennen, und deren weitere Aktivitäten zu verfolgen und aufzuzeichnen. Berichte über die Möglichkeit gezielt Personen mit diesem Instrument überwachen zu können wurden dementiert. Mit gemischten Gefühlen lehnte ich mich zurück. Erleichterung einerseits, da die Überwachung sich wohl nur auf meine Aktivitäten im Bereich Internet und Email bezog. Beklemmung andererseits, da dies bedeutete, dass jede Email, jede aufgerufene Internetseite protokolliert wurde, dass irgendwer, irgendwo da draußen alles über jede einzelne Nachricht, die ich an meine Freunde oder Verwandte geschickt hatte, wusste und diese gelesen hatte. Beklemmung weil diese Überwachung den Kern meiner Persönlichkeit traf. Es wurde nicht überwacht, was ich während der Arbeit tat, auch nicht, wie das Geschirr wusch oder sonstige Haushaltsdinge erledigte. Es wurde überprüft welche Freunde ich habe, über welche Themen ich mit ihnen rede, welche Interessen ich habe, meine Einstellungen zu bestimmten politischen Situationen. Langsam verkrampfte sich meine Hand, Wut packte mich, aber ich war hilflos, was konnte ich schon tun? Einen guten Freund kontaktieren, nicht mit Hilfe der hochgelobten ‚Neuen Medien’. Es ärgerte mich, dass ich die Informationen über das Internet gesucht hatte, wie konnte ich nur so unvorsichtig sein. Klar, ich hatte es nicht wissen können, doch nun hatte ich auf mich aufmerksam gemacht.
Das Bild vor meinen Augen verschwamm, und an seine Stelle trat einer jener Aufkleber wie sie zu Zeiten des 2. Weltkrieges an jedem Fernsprecher klebten „Der Feind hört mit“.
Klick für Klick forschte ich mich in den folgenden Tagen durch die Informationsflut des weltweiten Netzwerkes. Mein alter Studienkollege bot mir einen Kaffee an, dankend stellte ich die Tasse neben mich. Ich war froh, dass er mir erlaubte ein paar Tage bei ihm zu übernachten. Die Zeit, in der der Senat nicht tagen würde, wollte ich ausnutzen um so viel wie möglich über „Carnivore” herauszufinden und wenn möglich dies alles als Streich oder einen Versuch mich zu verängstigen abzutun. Doch je länger ich suchte, desto mehr kam mir das alles merkwürdig vor, denn alle Informationen schienen unvollständig, immer fehlte etwas. Viele Links, die mehr versprachen als grobe vordergründige Informationen, führten ins Leere. Ganze Seiten waren gelöscht. Ein Gefühl der Angst, ein Gefühl der Beklemmung beschlich mich. Seiten, die ich noch einen Tag zuvor besucht hatte, existierten nicht mehr, alle Informationen schienen mir in den Händen zu zerrinnen. Ich fühlte mich bedroht, ein dunkler, undurchdringlicher Schleier legte sich über meine Sinne.
Reichte es ihnen denn noch nicht alle meine Informationen abzuzapfen, sie verfolgten mich, sie wussten, dass ich hier war, sie wussten es, sie waren hier. Ich drehte mich um. Ein Schatten huschte vorüber, leise schloss sich eine Tür. Mein Freund musste mich verraten haben, wieso auch sollte seine Frau genau an dem Tag abreisen, als ich ankam. Sie hatte sich offentsichtlich mit meinen Verfolgern in Verbindung gesetzt. Ich machte das Licht aus, rannte aus dem Zimmer, schloss behutsam die Tür, dass sie mich nicht hören konnten. Der Gang war dunkel. Ein matter Schein drang aus dem Schlüsselloch der Tür nebenan. An die Wand gedrückt, schlich ich mich durch den mit Teppich belegten Flur, bis ich durch das Schlüsselloch schauen konnte. Das Licht blendete mich für einen Augenblick, dann wurde der Umriss eines telefonierenden Mannes sichtbar. Plötzlich legte er den Hörer beiseite und kam auf mich zu. Ich schreckte auf, stellte meinen Fuß auf meinen anderen und kam ins stolpern. Rückwärts viel ich gegen die Wand. Wankend stand ich auf und hetzte den Gang entlang, er durfte mich nicht erwischen. Bevor mein Verfolger die Tür öffnete, gelang es mir mich ins Bad zu flüchten. Ohne Ausgang, ohne Hilfe, ohne Chance zu entkommen. Die Zeit stand still, ein Atemzug hielt ewig. Kalte Fliesen, weiß und blau kariert, über mir, unter mir, um mich, die Tür öffnete sich. Ein greller Schauer schäumenden Lichtes überflutete mein Versteck, meinen Geist, meine Wahrnehmung schwamm mit auf dieser Welle, weg von der Realität, weit weg von mir, wo ich war, wer ich war.
Das gleichmäßige Geräusch eines rotierenden Deckenventilators, ferne Schritte und Stimmen, ich schlug die Augen auf. Außer mir war niemand in dem Raum, alles war weiß und steril, ein kleiner Fernseher stand gegenüber des Bettes, an der Decke gehalten von zwei schwarzen Stangen. Die drei Leuchtstoffröhren an der Decke sorgten für ausreichend Licht, man hatte die vierte wohl absichtlich nicht ausgetauscht. Rechts von mir, ein kleines Fenster, sorgsam bedeckt von einem gelblich schimmernden, zerknitterten Vorhang. Die große, massive Tür auf meiner Linken öffnete sich. Die Sicht wurde frei auf einen Teil eines Ganges, belegt mit großen, grauen, polierten Granitsteinen, verdeckt nur von einer Frau in einem weißen Mantel. Sie kam auf mich zu, schaute mir ins Gesicht und drehte sich ausdruckslos wieder um. Sie winkte jemandem, der offensichtlich außerhalb meines Sichtfeldes gewartet hatte und kam in Begleitung dieses Mannes wieder zu mir zurück. Es war mein Studienfreund, bei dem ich die letzten Tage verbracht hatte.
Nach den Worten „Er war in einem psychischen Schockzustand, es war gut, dass Sie ihn zu uns gebracht haben. Er hat sich nun aber wieder soweit erholt, dass wir ihn heute noch entlassen können”, verabschiedete sich die Frau und verließ das Zimmer. Er habe mich ohnmächtig im Badezimmer gefunden und ins Krankenhaus gebracht, klärte er mich über meine Situation auf.
Eine mechanische Stimme aus dem Lautsprecher über mir rief die nächste Haltestelle aus. Ich stand auf. Mit einem Ruck und einem grellen Quietschen stoppte die Straßenbahn. Ein Gewirr aus Stimmen um mich, anonyme Gestalten, jedes Leben in vorgegebenen Bahnen, sie waren auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen. Sie alle drängten sich die engen Fußwege entlang. Tausende Menschen waren unterwegs an diesem Tag.
Ich wühlte mich durch die Masse, zunächst ziellos, wusste nicht wohin, musste erst einmal Abstand gewinnen, nachdenken. Ich zielte auf eine kleine Seitenstraße, um dem großen Wirrwarr aus Menschen, Autos und Fahrrädern zu entkommen. Ich dachte über meine Situation nach, was war geschehen? „Psychischer Schockzustand“, wie konnte es dazu kommen, es gab überhaupt keinen Grund. Ein paar zensierte Seiten über Carnivore, die simple Feststellung, dass die Frau meines Freundes abgereist war, alles im Nachhinein lächerliche Indizien für eine Verfolgung. Es schien mir unbegreiflich welch kurze Zeit mich psychisch labil gemacht hatte. Ich brauchte Urlaub, musste raus, ich konnte mich nicht mehr länger in dieser Stadt aufhalten, zumindest nicht für die nächste Zeit. Ich dachte zurück an meinen letzen Urlaub, es war schon eine ganze Weile her, es kamen einige schöne Erinnerungen in mir auf, ich war zusammen mit meiner Familie bei ein paar Freunden, irgendwo in der Einsamkeit. Wie ich so in meinen Erinnerungen schwelgte, rempelte mich ein vollkommen verwahrloster Mann an. Eine knappe Entschuldigung und sofort hastete er weiter. Ich schaute ihm nach, er drehte sich noch einmal um, als ob er nach irgendjemandem Ausschau hielt, der ihn verfolgen könnte. Ich schaute in seine Augen, und obwohl er schon ein gutes Stück von mir entfernt war, konnte ich darin tiefe Angst und Verunsicherung erkennen. Schnell wandte er seinen Blick wieder ab und spurtete davon. Ich dachte mir, dass ihn womöglich das gleiche Schicksal wie mich ereilen würde, der Wahnsinn. Meine Gedanken kehrten sich allmählich wieder der aktuellen Lage zu, die irgendwie seit dem Aufenthalt in der Klinik gar nicht mehr so schlimm schien, die Ruhe hatte mir scheinbar in den letzten Tagen gefehlt, und der Anfall war wohl eine Abwehrreaktion meines Körpers. Vielleicht waren es auch die Massen an Medikamenten, die mir in der Klinik eingeflößt worden waren. So oder so, es war sicher das Beste, wenn ich mich für ein paar Tage in eine andere Stadt begab um dort abzuwarten würde, was die Zeit bringen würde. So entschloss ich mich nach Hause zu gehen und ein paar Sachen zu packen um ein bisschen aufs Land zu fahren. Mein Freund hatte mir zwar angeboten, ich könnte noch ein paar Tage bei ihm bleiben, bis ich mich wieder vollständig erholt hätte, aber unter diesen Bedingungen zog ich die Einsamkeit vor.
Zu Hause angekommen wurde ich in meiner Entscheidung für ein paar Tage auszuspannen bestärkt, denn obwohl ich nur ein paar Tage abwesend war, befremdete mich meine Wohnung. Eine tiefe Leere überkam mich, nicht so wie die ganze Zeit, nicht von mir ausgehend, doch intensivier, beängstigender, denn ich bemerkte, dass ich kein Zuhause mehr hatte, keinen Ort an den ich mich zurückziehen konnte, keinen Ort an dem ich mich geborgen fühlte. Langsam lies ich meinen Blick durch das Zimmer wandern, irgendetwas war anders, irgendetwas war fremd, irgendetwas störte das Bild, irgendetwas hatte sich verändert. Da fiel es mir auf, mein Schreibtisch, meine Unterlagen, sie fehlten, nein, nicht alle, aber ein Teil. Der Brief, schoss es mir durch den Kopf.
Mein Puls begann wie verrückt zu schlagen, wie ein riesiger Vorschlaghammer klopfte er in meinen Adern, das Blut schoss in meinen Kopf, Panik, meine Krawatte schnürte sich langsam enger und enger um meinen Hals, bis mir das Atmen kaum noch möglich war. Hastig schleppte ich mich zum Sofa, „Ruhig bleiben!“, schrie ich mich selbst an und ließ mich ins Sofa fallen. Panikartig sprang ich wieder auf, denn diesmal war es klar, man verfolgte mich wirklich! Es gab nur noch eines, raus aus dieser Stadt. Raus! Irgendwohin wo mich niemand kennt. Ich verzichtete darauf, irgendetwas einzupacken, frische Kleidung konnte ich mir auch unterwegs kaufen. Ich rannte hinunter zu meinem Auto, kramte die Schlüssel aus meiner Tasche, fand jedoch nur einen mit krakeliger Schrift beschriebenen Zettel, musste von meinem Freund sein. Aufgeregt durchsuchte ich die anderen Taschen. Ich fand ihn nicht, es wäre sowieso zu gefährlich gewesen mit dem Auto zu fahren. Ich rannte hinaus auf die Straße.
"Bringen Sie mich nur heraus aus dieser Stadt, einfach nur weg hier..." Schweißgebadet und am Ende meiner psychischen Belastbarkeit lehnte ich in den bequemen Sitzen des alten Mercedes. Ich atmete tief durch, es roch modrig. Beschwichtigend legte ich meine Hand auf mein wild schlagendes Herz. Zittrig steckte ich die andere Hand in meine Tasche um mir mit meinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn zu tupfen, da hielt ich ihn schon wieder in der Hand, diesen Brief.
Ich habe nicht viel Zeit, hier, ich hoffe, dass sie reicht, diesen Brief fertig zu schreiben. Es wird immer schlimmer, sie kommen immer näher, ich spüre ihren Atem schon in meinem Nacken. Nicht mehr lange kann ich diesen Terror durchhalten.
Um es kurz zu fassen: Ich muss Sie treffen. Versuchen Sie so schnell wie möglich nach Shireton zu kommen. Nehmen Sie am besten ein Taxi und wechseln Sie es auf halber Wegstrecke. Das Hotel heißt „Einhorn“, es ist das einzige Hotel in dieser kleinen Stadt. Verhalten Sie sich unauffällig und reden Sie mit niemandem. Ich werde Sie kontaktieren.
Was konnte er von mir wollen, fragte ich mich, und ich fragte es mich immer wieder, ohne auf eine Antwort zu kommen. Wieso begab er sich selbst in noch mehr Gefahr, um mich zu sprechen, es reichte ihm nicht nur mir etwas mitzuteilen, er wollte auch etwas von mir. Doch was...
Ein „Wo soll ich Sie denn absetzten?“ befreite mich aus diesem ewigen Kreis der Gedanken. Mein Ziel war klar.
Durch die geschlossenen Augen nahm ich nur die stetigen Übergängen von Licht und Schatten wahr, die sich über das Taxi legten, und das schon seit Stunden. Ein riesiger Wald, der mich Baum für Baum weiter von der Gewissheit entfernte, noch Kontrolle über mein Leben zu haben. Ich war müde, sehr müde, es war zwar erst Nachmittag, doch das war mir egal, ich legte mich auf die Seite und versuchte einzuschlafen.
Ein Ruck und das Taxi kam zum stehen. Ich schaute auf. Wir standen an einer Ampel, vor mir befand sich ein Dorf, falls Dorf der richtige Ausdruck ist, um eine kleine Ansammlung von Einfamilienhäusern zu beschreiben. Dies sollte das Ziel meiner Reise sein?
Der schwache Schein einer Straßenlampe deutete mir den Weg. ‚Einhorn’, vor mir stand es in schwarzen altdeutschen Buchstaben auf einem Gebäude, dass die anderen um mehrere Etagen überragte. Braune Linien sollten es von größerer Entfernung wie ein Fachwerkhaus aussehen lassen. Fröstelnd schritt ich die Stufen bis zum Eingang hinauf, öffnete die massive Tür aus Naturholz und trat einer Wand aus heißem stickigem Rauch entgegen. Das Klirren von Besteck und lauten Stimmen empfingen mich in einem gut besuchten Restaurant. Fast das ganze Mobiliar bestand aus zurechtgestutzten Baumstümpfen, an der Decke hingen mit Glühbirnen, die wie Kerzen aussahen, besetzte hölzerne Wagenräder und an der Wand alte Gartengeräte. Durch die engen Gänge zwischen den Tischen huschten zahlreiche Bedienungen in Trachtengewändern, mit Tellern und Biergläsern in den Händen. Es kam mir befremdend vor, im Herzen von Amerika, doch es war mir egal, ich hatte Hunger und wollte etwas essen.
Ein stilgerechter Teller Sauerkraut, ein Krug Bier, ich war satt. Die Bedienung nahm mit einem gekonnten Lächeln die Bezahlung entgegnen und wünschte mir einen schönen Abend. Vorsichtig schlängelte ich mich durch das Labyrinth aus Tischen und Stühlen, es war ein Wunder, dass ich es bis zum Empfang schaffte, ohne jemanden Umzurempeln oder auf die Füße zu treten.
Eine Nacht sollte reichen, wiederholte ich in meinen Gedanken, als ich im Laufschritt die Treppen hinauf rannte. Ich holte den Schlüssel aus meiner Tasche und schloss die Tür, an der die hölzerne Zahl 23 hing, auf. Das Zimmer war genauso kitschig wie der Rest dieses Hotels, an der Decke erneut eine Räderlampe, auf das Bett, dass mit abertausenden Schnitzereien verziert war, schaute eine Kuh auf einer grünen Weide mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund herab. Ich wiederholte leise „Eine Nacht sollte reichen“.
Ich befand mich in einem großen Park, der von kleinen schmalen Wegen durchzogen war. Diese Wege waren durch kleine Hecken vom Rest des Parks abgegrenzt, jedoch war es möglich über diese Wege an jeden Ort des Parks zu gelangen. Es war heiss, die Sonne brannte auf die Betonplatten. Ich schlenderte durch den Park und setzte mich auf eine am Wegesrand stehende Bank, um das Treiben der Menschen zu beobachten. Immer wieder die gleichen Menschen liefen an mir vorbei. Die einen schrien, die anderen hüpften, wieder andere rannten, jeder auf seine eigene Weise, alle innerhalb der Wege, keiner außerhalb. Diese Idylle wurde jedoch bald durch ein paar Randalierer gestört, die die Begrenzungen der Wege wegrissen, hinein rannten, den Garten zerstörten, und von dort mit Stöcken auf die Menschen auf den Wegen warfen. Die Masse reagierte geschockt, stürmte hinein, und machte die Randalierer unschädlich. Dieser Vorfall veränderte die Dynamik und die Struktur de Masse, sie begann sich zu Organisieren, es wurden bestimmte Personen ausgewählt, denen es erlaubt war die ‚verbotene Zone’ zu betreten. Sie waren dazu bestimmt solche Vorfälle zu verhindern. Nach der Installation dieser Institution normalisierte sich alles wieder. Die Menschen rannten, hüpften, sprangen. Ich stand auf und ging weiter. Schritt für Schritt änderte sich das Bild vor meinen Augen. Ich begann zu rennen, immer dunkler und unheimlicher Wurde die Szene, ich rannte und rannte immer weiter, bis ich nicht mehr konnte. Schwer atmend hielt ich an. Erschreckt nahm ich das Bild das sich mir bot wahr. Keine Hecken mehr, keine Zäune, keine Wachmänner, alles grau. Das einzige was noch existierte war die ‚verbotene Zone’ und die Wege. Die selben Menschen, die den Weg entlang gingen, doch sie gingen merklich hastiger. Überhaupt hatte sich das Verhalten der Menschen stark verändert. Wo es kurz zuvor noch vereinzelt Menschen gab, die auf ihrem Weg kurz inne hielten, die ‚Verbotene Zone’ betrachteten und über den Sinn der Hecken und des Parks sinnierten, floss eine Masse geschäftig hastender Individuen. Ich stellte mich in die Mitte dieses zähen Stroms und schaute den Menschen ins Gesicht. Alle Blicke waren auf den Boden gerichtet. Plötzlich sah ich einen Mann, er ging aufrecht. Er zeigte sein Gesicht, in dem sich Wut, Hass und Angst gleichermaßen widerspiegelten. Es war für alle gut sichtbar, doch keiner beachtete ihn, ja es schien fast als ob sie noch mehr Angst bekamen. Ein laut tönendes Motorengeräusch breitete sich über die ganze Szene, es kam immer näher und näher, immer aufdringlicher. Eine silbern glänzende Scheibe schoss aus den Wolken, größer und größer, lauter und lauter. Mit einem sanften Schlag, landete das futuristisch anmutende Fluggerät direkt neben dem auffälligen Mann, Roboter stiegen aus und zerrten den Mann in das Fahrzeug. „Ein konspiratives Element wurde rechtmäßig entfernt. Es verstieß gegen Regel 8231.2.“ schallte es aus allen Richtungen. Als einziger schaute ich dem Fluggerät nach, als es rasant beschleunigend senkrecht in die Höhe schwebte. Doch nach einigen Metern kam drehte es und kam geradewegs auf mich zu. Meine Ohren waren kurz davor zu explodieren, als sich die Scheibe neben mir auf den Boden senkte. Die Luke schlug auf und ein Roboter aus dem Innenraum griff nach mir. Ich drehte mich um und rannte. Ich bemerkte hunderte kleine Kameras, die überall an den Bäumen hingen, sich auf mich richteten. Wo war ich hier hineingeraten? Langsam entwickelte sich die Umgebung wieder zurück, die Hecken, die fröhlichen Gesichter, alles kam wieder an seinen Platz. Am Ende des Wegs, also am Anfang der Reise angekommen, verschwamm die Umgebung zu einem Gefüge aus Farben und Tönen, undeffinierbar, unsinnig. Es überkam mich das Gefühl grenzeloser Ohnmacht, ich strampelte , kam nicht vom Fleck, ich schrie, niemand hörte mich, ich schlug wild um mich, traf aber niemanden, umso mehr Kraft ich in meine Bemühungen steckte umso schwächer wurde ich.
Schweißgebadet schreckte ich von meinem Traum auf, kalter Schweiß rann mir am gesamten Köper hinab, mein Puls raste. Eiseskälte kroch an meinen Füßen herauf. Ich starrte auf das Fenster, es war offen. Ich hatte es wohl vergessen zu schließen. Das Zimmer war über Nacht total ausgekühlt, genauso wie mein Körper. Ich fasste mir an die Stirn, siedend heiß. Bloß kein Fieber, dachte ich, nicht krank werden, nicht jetzt. Ich schaute auf die Uhr, 10 nach 5, die ersten Sonnenstrahlen sammelten sich auf der Decke. Noch immer hatte der Traum einen Teil meines Gehirnes vereinbart. Ich war erschreckt und erstaunt zu gleich, über die Genialität der Wachmänner, die sich dadurch abgeschirmt hatten, indem es sich in ein Gebiet begeben hatte, das für alle Anderen tabu war, und somit in der glücklichen Lage jeden Widerstand sofort erkennen und ausschalten zu können. Unverständlich, wie dies alles aus dem simplen Wunsch nach Sicherheit vor Randalieren entstehen konnte. Ich fügte alles zusammen was ich gesehen und erlebt hatte und bemerkte, dass der Bruch an der Stelle geschehen war, an der die Wachleute die technischen Mittel hatten, die Anderen kollektiv zu überwachen, an der Stelle, an der sie nicht mehr zur gefährdeten Stelle an der Hecke rannten, wenn sich dort Randalierer versammelten, sondern erst alle Hecken, und danach alle Menschen grundsätzlich überwachen konnten, und somit nicht nur ihre Taten sondern auch ihr Verhalten einschränkten und kontrollierten.
Die Überwachung geschah nicht mehr aus Sicherheitsgründen, sondern dem Selbstzwecke der Machterhalt des Systems der Überwachung.
Zu viel Sinn für einen Traum. Ich war Gefangen in einer Geschichte, von der ich weder wusste, wie sie ausgeht, noch, wie sie überhaupt begann. Ich hatte nichts damit zu tun, doch war ich mitten drin. Ich tastete mit meiner linken Hand nach der Nachttischlampe. Mit einem Klick begann sie den Raum mit Licht zu erfüllen, ein Licht, das mir half, meine Gedanken wieder der Realität zuzuwenden. Ich stand auf, ging ins Bad und wusch mich. Eiskaltes Wasser befreite mich vom letzten Rest an Schlaftrunkenheit und schaffte es meine Stimmung merklich zu verbessern. Das Telefon rief mich zurück in den Schlafraum. Nachdenklich nahm ich den Hörer ab und begann das Gespräch mit einem fragenden "Ja?".
"Für den Zug um zwölf sind noch Plätze frei." kam es mir aus dem Hörer entgegen. Leicht irritiert meinte ich, dass mein Gegenüber doch sicherlich falsch verbunden sei.
"Ein Platz wurde reserviert, zwölf Uhr, Richtung Jamesville.".
Noch bevor ich erneut antworten konnte, war das Telefonat wieder beendet.
Der kleine Zeiger sprang so eben von 11 auf 12, nur etwa zehn weitere Wartende standen mit mir an dem eingleisigen Bahnhof im Zentrum von Shireton. Ein Finger tippte mich an der Schulte an. Ich drehte mich um. Dieses Gesicht kannte ich, die Augen, in dessen Tiefe sich die Furcht widerspiegelte, ich erinnerte mich. In der Stadt hatte er mich angerempelt. Zig Fragen wollte ich ihm stellen, doch sie kamen mir nicht über die Lippen. Die Aufregung, die er ausstrahlte griff auch auf mich über. Ich wünschte mir, dass der Zug doch kommen sollte. Gerade fuhren in den Bahnhofsparkplatz zwei schwarze Vans ein, als mein Gegenüber mir eine Fahrkarte in die Hand drückte und im Bahnhofshäuschen verschwand.
Grell Quietschend kam der gerade einfahrende Zug zum stehen. Ich zog den Hebel und die Tür schwang auf. Mit einem Sprung war ich im Innern. Ein kurzer Blick auf meine Fahrkarte wies mir dem Weg zur ersten Klasse.
Der Zug war fast leer, hier und da saß jemand, scheinbar in Gedanken versunken auf seinem Platz. Durch mehrere verrauchte Wägen hindurch gelangte ich endlich zu meinem Abteil. Es war leer, die Luft roch alt, die rot-blauen Stoffbezüge auf den zwei sich gegenüberstehenden Sitzreihen hätten es schon lange verdient gehabt, einmal ausgelüftet zu werden. Ich ging hinein und riss das zuerst klemmende Fenster auf. Tief brummend setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Der einströmende Wind vertrieb den vermoderten Geruch aus dem Abteil und aus meiner Nase, der frische Hauch einer saftigen Wiese nahm seinen Platz ein. Einen Augenblick schien es mir, als würde die vorbeiziehende grün glänzende Idylle meine Beklemmung von mir reißen.
Doch nur einen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde. Ein letzter Versuch aus diesen Albtraum zu entfliehen. Ein Albtraum, der mich seelisch und körperlich zerstört hat, ich bin ein Wrack. Meine eigenen Entscheidungen haben schon längst nichts mehr an meiner Situation geändert.
Getrampel, es kommt immer näher, Schreie, Hilferufe. Alles passiert so schnell, und doch so unendlich langsam. Ich stehe auf dem Gang, er kommt auf mich zu, er versucht etwas zu sagen, etwas auszudrücken. Ich stehe ihm im Weg. Er trifft auf mich auf. Ein Schlag, er fällt auf den Boden, ich halte mich an der Wand. Er schreit, sie kommen immer näher. Ich stehe im Weg, ich weiß es. Das Netz ist geschlossen. Meine Gedanken, sie drehen sich im Kreis, was will er, hat er nicht angefangen? Er kriecht in mein Abteil. Drei Männer, schwarze Anzüge, sehr förmlich. In Zeitlupe verfolgen sie ihn. Musik in meinem Kopf, sie untermalt ein perfektes Ende. Ein tolles Ende, wie ich es mir wünschte, seit Beginn. Seit Ewigkeiten. Er kriecht noch immer, noch wenige Zentimeter. Schwarze Pistolen, drei Stück, sie kommen auf mich zu. Sie biegen um die Ecke. Er springt, durchquert das Fenster, Millimeter um Millimeter weicht er aus dem Sichtfeld. Er bewegt sich kaum. Frei schwebend. Zeit gibt es nicht. Langsam, unendlich langsam lösen sich die Schüsse, wie Murmeln. Glas splittert. Er knallt auf den Boden, die Kugeln dringen in ihn. Etwas rot, schon weg. Die Zeit geht ihren normalen Gang und sie wird ihn gehen.
Krächzend bleibt der Zug stehen. Jamesville.
„18. März 2003. Kurz vor Jamesville kam es in einem Zugwagon zu einem tragischen Zwischenfall.
Aus noch ungeklärten Umständen kam ein noch nicht identifizierter Mann bei einem Sprung aus dem fahrenden Zug ums Leben. […] Vermutlich handelte es sich um einen auf der Flucht befindlichen Verbrecher. […].“