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23 Uhr
23.05 Uhr.
Der Dienst ist zu Ende, 6 Minuten Umziehzeit sind einkalkuliert. Die Höflichkeits- Überstunde habe ich abgeleistet. Es wäre ja absurd zu gehen, sobald ich wirklich Feierabend habe und es gibt ohnehin immer genug zu tun. Naja, vielleicht legt sich das mit den Jahren. Bestimmt. Und beim Umziehen im Arztzimmer habe ich auch noch mit dem Handy gespielt. „Gespielt“ sagt man immer. Dabei habe ich nur nach neuen Nachrichten geschaut. Und noch ein bisschen geschaut, was die Tagesschau so schreibt: „Flüchtlingskrise“. Dazu habe ich mir dann auch noch ein paar mehr oder weniger intelligente Gedanken gemacht, in erster Linie aber müde Gedanken. Egal, dann erstmal die Hose angezogen und kurz darüber geschmunzelt, was für ein Bild ich gerade abgegeben habe: In verschiedenfarbigen Socken, ohne Hose, durchgeschwitztes T-Shirt und mit beginnendem Haltungsschaden über ein Handy gebeugt. Ja, Selbstachtung, daran könnte man auch mal wieder arbeiten.
So, jetzt aber hinaus in die Freiheit und zu meinem Fahrrad. Es ist nachts noch ziemlich warm für Anfang September und ich freue mich auf die Fahrt durch die lauwarme Luft. Frische, staubige Stadtluft. Dafür riecht sie aber wenigstens weder nach Urin, Urin aus einer Blase mit einem liebevoll kultivierten Harnwegsinfekt, Erbrochenem oder ungewaschenen Füßen. Komischerweise stören mich in der Notaufnahme die ungepflegten Füße am meisten. Denn dieser Geruch ist vermeidbar und in meiner verqueren Sicht Geringschätzung gegenüber uns Ärzten. Stuhl, Urin, Blut, Erbrochenes. Das ist für den Patienten, der dies überhaupt noch realisiert, bestimmt auch nicht schön und er würde es ändern, wenn er könnte. Aber die Füße?
Warum jetzt diese Abhandlung über Körperausscheidungen in der Medizin? Ist doch alles schon mal dagewesen, längst Routine. Aber zu später Stunde beginnt mein Gehirn immer wild Bilder, Assoziationen und Meinungen zu fast jedem dargebotenen Stichwort zu produzieren. Egal.
Automatisch biege ich nach dem Klinikgelände nach rechts ab; das ist der Weg nach Hause. Ich möchte gar nicht nach Hause, aber es fällt mir auch nichts Besseres ein. Das hier ist eine Großstadt. Man könnte sich in eine Bar setzen und die wirren, sich drehenden Gedanken mit ein bisschen Bier polstern. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr stelle ich mir immer wieder vor, mich allein in eine Bar zu setzen und habe es nie getan. Dabei sehe ich mich- 1983 geboren, ganz Kind der amerikanischen Kinokultur- am Tresen auf einem hohen Hocker mit abbröselndem rotem Ledersitz positioniert, Erdnüsse essend, Bier trinkend und mich mit einem interessanten Menschen unterhaltend. Dieser interessante Mensch ist natürlich ein Mann mit verlebtem Gesicht, dennoch gut aussehend, zu alt für mich und, naja eben interessant. Und, ich vergaß: Verraucht ist die fiktive Kneipe natürlich auch. Dass ich mir nicht einmal ausmalen kann, auf welche Art und Weise dieser Mann denn nun interessant ist, zeigt, dass ich entweder nicht mit viel Fantasie gesegnet bin oder dass ich realistisch genug, müde genug oder resigniert genug bin, um einfach nur wie jeden Tag nach Hause zu fahren und um die Menschen ihr Leben in Kneipen ohne mich leben zu lassen. Vermutlich würde ich mir nur ein Getränk bestellen, es verstohlen trinken und mich schämen, dass ich allein hier bin. Vielleicht würden ein oder zwei gute Lieder gespielt und ich nehme mir vor, sie auch zu Hause wieder zu hören, vergesse die Titel aber sowieso. Seit ein paar Jahren schon werde ich nicht mehr angesprochen, wenn ich allein unterwegs bin. Zwei Möglichkeiten: Erstens. Ich bin zweiunddreißig, arbeite viel und sah mit achtzehn bestimmt besser aus. Zweitens. Man sieht mir schon von weitem an, dass ich normalerweise Geld dafür bekomme, wenn ich mit anderen Menschen rede, mir ihre Sorgen anhöre und sie anschließend darum bitte, ihre Hose auszuziehen. Das erinnert mich an ein anderes Gewerbe. Nur, dass ich ungeschminkt und in Sportschuhen zur Arbeit gehen kann und es bei uns Mehrbettzimmer gibt. Ja, vielleicht wirke ich abweisend. Gut möglich. Während ich diesen Gedanken nachgehe, stehe ich auch schon vor meiner Wohnungstür.
Zu Hause wartet: Nichts. Nichts ist schon so präsent und wohnt schon so lange bei mir, dass es sich schon beinahe verdichtet und Gestalt annimmt. Wenn ich mir einen zweiten Küchenstuhl kaufen würde, dann könnten wir uns morgens gegenübersitzen und zusammen frühstücken. Nichts ist bestimmt geschlechtslos, aber mit einer Tendenz zur Weiblichkeit, denn meine Gesichtscreme ist immer viel zu schnell leer.
Ich sollte wieder in eine WG ziehen. Dann könnte ich wieder das beruhigende Schnarchen des Freundes meiner Mitbewohnerin durch die schönen dünnen Wände hören und mein Mitbewohner würde mit dem Abendessen auf mich warten. Auch um 23.32 Uhr. Und dann könnten wir Alkohol konsumieren und Filme anschauen; die ganze Nacht. Wir wurden immer um die zentrale Lage unserer Wohnung beneidet, die Nähe zu den vielen Kneipen, schon wieder Kneipen. Trotzdem war es auf dem Sofa am schönsten. Auf eine neue Wohngemeinschaft hatte ich keine Lust, als ich anfing hier zu arbeiten. Zu eigenbrödlerisch. Die letzte WG war ein glücklicher Zufall und wir eine Ansammlung verschrobener, schüchterner Menschen, denen Smalltalk den Schweiß auf die Stirn trieb. Zusammen haben wir gut funktioniert.
23.36 Uhr. Nichts empfängt mich nur mit ungespültem Geschirr und spielt mit den Krümeln auf dem Teller.
Was ist nur schief gegangen? Oder ist es das überhaupt? Festzuhalten ist: Ich mag meinen Beruf, bin gerne Ärztin. Die Rolle ist gut vorgegeben, man weiß, was man zu tun hat. Gelegentlich tut man etwas nützliches, manchmal hilft man sogar. Man lernt viele Leute kennen, muss sich aber nicht wirklich auf sie einlassen. (Der psychologisch vorgebildete Leser erkennt hier natürlich das psycho-sozio- pathologische Leitsymptom der Autorin.) Das Gehalt ist für einen alleinstehenden Menschen nicht zu verachten und auf Festen oder sonstigen Zusammenkünften gehört man zu denen, die ihren Beruf nicht umständlich erklären müssen. Auch meine Großmutter muss ihren Freundinnen nicht verständlich machen, womit ich als „content mananger“ oder was auch immer mein Geld verdiene.
Zusätzlich ist der Arztberuf wunderbar für all jene geeignet, die ihre Selbstbestätigung eben daraus schöpfen. Man lernt viel dazu. Auch- vorsicht nun wird es pathetisch- über das Leben. Insbesondere das Leben, das andere führen. Es sind andere, die von ihrem Partner in die Notaufnahme begleitet werden. Es sind andere, die Kinder bekommen, Unfälle beim Sport oder bei der Arbeit haben. Es sind andere, die eine tolle Reise planen und sich Sorgen machen, dass die Gesundheit nicht mitspielt. Es sind andere, denen eine Krebserkrankung diagnostiziert wird und deren Leben nun anders schmeckt und riecht und die Angst und andere echte Gefühle haben. Es sind andere, die sich beim Nüsse Hacken in den Finger geschnitten haben. Wann habe ich eigentlich zuletzt einen Kuchen gebacken? Die ganzen Menschen, sie ziehen alle vorbei. Meine Arbeit ist wie ein Fotoalbum in dem ich immer vorwärts blättere. Zuweilen wäre ich auch gerne mal wieder selbst auf einem dieser Fotos zu sehen.
Dem Beruf kann ich keine Schuld anlasten. Ich habe genug glücklich verheiratete oder in einer anderen Form verpaarte Kollegen. Kollegen mit Kindern, Kollegen, die in den Urlaub fahren und Kollegen, die Kuchen mit gehackten Nüssen backen. Was habe ich in letzter Zeit gemacht?
Immer, wenn die anfangs erwähnte Selbstachtung nicht so genau hinsieht, dann schlafe ich mit einem Arbeitskollegen, den ich nicht einmal attraktiv finde und dem es umgekehrt bestimmt genauso geht. Ich mache Sport, helfe Freunden beim Umzug, besuche meine Eltern, besuche Fortbildungen, besuche Museen, besuche Konzerte, besuche alte Mitbewohner, spiele Akkordeon, spiele Karten und lese Zeitung. Und wie jedem allein lebenden Menschen wird mir dies zuweilen bewusst. Vorzugsweise abends, wenn Nichts mir wie eine hungrige Katze um die Beine streicht oder an schlechteren Tagen den ganzen Raum ausfüllt und mit den trockenen Blättern der ungegossenen Topfpflanze nach mir wirft.
An solchen Abenden wäre es schön, wenn er wieder da wäre. Meinetwegen könnte er auch schon schlafen, denn ich komme oft sehr spät nach Hause. Schlaf ist wichtig. Es würde mich nicht stören, sollte er schnarchen, solange es nicht zu laut ist. Nichts läge in der Ecke und wäre kaum materialisiert. Es wäre schön, sich wie früher zu zweit in das viel zu schmale Bett aus Studentenzeiten zu quetschen und den anderen jedes Mal zu wecken und sich anraunzen und dann umarmen zu lassen, wenn man sich umdreht. Jetzt stehe ich vor dem leeren Bett. 23.41 Uhr. Die Bettwäsche ist neu. Das Bett natürlich auch. Der Zwang, ständig auf die Uhr zu blicken ist alt oder bloß ein Stilmittel. 23.42 Uhr.
Vielleicht bringe ich ja irgendwann wieder genug Narzissmus auf, um eine Beziehung zu führen. Ist es nicht genau das? Nämlich Narzissmus. Wir wollen nicht allein sein, genügen uns selbst nicht und dann missbrauchen wir andere Menschen, um diese Leere zu füllen? Damit wir nicht allein wohnen müssen, allein einkaufen, allein frühstücken. Nur damit wir nicht das Klischee des vereinsamten jungen Menschen in der Großstadt erfüllen und bestätigen müssen. Das sollen lieber andere tun. Die Leute aus den Statistiken und die Patienten in der Notaufnahme zum Beispiel, die Leute, denen ich beim Leben zuschaue. Es ist schön, geliebt zu werden, keine Frage. Wenn es das irgendwo umsonst gibt, dann werde ich mich auch in die Schlange stellen, um etwas abzubekommen.
Und jetzt schäme ich mich bei diesen ganzen deprimierten Gedanken, denn ich bin sicher nicht die erste, die diese gedacht und aufgeschrieben hat. Wahrscheinlich denke ich sie nur, weil ich das Alles irgendwo im Feuilleton oder in ‚Psychologie Heute‘ gelesen habe.
23.54 Uhr. Jetzt liege ich im Bett. Heute ist wieder so eine Nacht, in der ich nicht gern allein bin. Wenn er jetzt noch da wäre, könnte ich ihn wecken. Ein bisschen reden. Wie war dein Tag? Du, ich habe heute einen krassen Fall im Krankenhaus gesehen. Gehen wir morgen in den Wald? Schlafen wir aus? Natürlich, morgen ist ja Samstag. Ein wenig verschlafener Geschlechtsverkehr. Dann doch ein bisschen Politik und Tagesgeschehen, ihm zuliebe. Er würde sich Sorgen machen, Sorgen um die Welt, Sorgen um mich und nach gutem Zureden wieder einschlafen. Weil ich immer noch nicht schlafen kann, würde ich mir Gedanken machen, ob ich am Sonntag etwas Besonderes kochen kann. Vielleicht einen Kuchen backen? Was können wir am Wochenende unternehmen? Ganz sorglos, wie die Made im Speck und dann endlich schlafen, wohlverdient.
Aber wenn er noch bei mir wäre, wachte er dann auch wieder mehrmals in der Nacht auf? Das
T-Shirt durchgeschwitzt? Wirres Zeug redend? Weckte er mich wieder in den frühen Morgenstunden, während ich noch so gerne weiterschliefe? Liefe er wieder in der Wohnung umher und Nichts würde ihm hinterhertappen, wie ein kleiner Welpe? Wäre ich wieder genervt? Ich erinnere mich, dass ich anfangs noch besorgt war, Angst hatte, ihn drängte, zum Arzt zu gehen. Zum Arzt, so ein Blödsinn, er war ja selbst einer. Ich wollte alles richtig machen, ein Fels sein, da sein. Aber die Zeit ist tückisch und aus Fürsorge wird mit den Jahren ein ätzendes Sich-kümmern-müssen. Reiß dich zusammen, andere haben das auch schon durchgemacht. Lass mich schlafen. Ich schlafe lieber gleich auf dem Sofa, du schnarchst und ich muss früh raus.
Er hat natürlich Cello gespielt. Menschen wie er spielen doch immer Cello. Sie spielen Cello und während des Lernens auf das Staatsexamen bereiten sie sich auf ihren dritten Marathon vor. Und sie erklären mir beim Abendessen nebenbei noch all die Dinge, die ich beim Lernen heute nicht ganz verstanden habe, wischen sie schnell beiseite und möchten dann über südamerikanische Wirtschaftspolitik diskutieren. Auf meiner mentalen Landkarte fand ich die meisten Länder nicht, über die er redete. Ich war froh, dass ich mir zwei Tage vor der großen Prüfung selbstständig ein Butterbrot schmieren konnte. Darin war ich schon immer gut.
Vor einem Jahr habe ich das Bett endlich entsorgt. 90 auf 200cm; 1,8 m2 sind zu wenig Platz für so viele intensive Erinnerungen. Erinnerungen, die ich hätte haben können, wenn ich mich nicht abgewendet hätte. Das robuste Kind vom Land, das seine Seelenqualen von sich gewiesen hat. Warum waren wir damals eigentlich immer allein? Wo waren seine Freunde, seine Geschwister, seine Eltern? Wahrscheinlich war ihnen Süddeutschland zu provinziell.
Immer wenn ich nach Hause kam, suchte ich in der Wohnung nach einem Schatten, um ihn dann zum Essen zu überreden, zum Aufstehen, zum Duschen, zum Anziehen.
21.00 Uhr an einem Freitag vor zwei Jahren. Gleich zwei erstaunliche Dinge sind passiert: Nämlich, dass ich wirklich um genau 21.00 Uhr die Haustür aufschloss und dass das Bett leer war und statt dessen dieser Mann mit dem wachen Blick vor mir stand, den ich mal mein Eigen nennen durfte. Er wollte wissen, wie man lebt. Seltsam. Ein bisschen gruselig vielleicht. Wir beantworteten die Frage mit ein paar Flaschen Rotwein und einer durchtanzten Nacht- im eigenen Wohnzimmer und ganz langsam, angepasst an seine körperliche Erschöpfung. Aber immerhin.
Am nächsten Morgen um 6.04 Uhr hat er aufgehört zu atmen. Und ich dachte immer, es sei schwer zu sterben.