23.2.1995 - 20.4.1995
23.2.1995 - 20.4.1995
23.2.1995 - Donnerstag
Ich bin gerade von der Arbeit zurück, und liege in meinem Zimmer auf dem Boden. Das Fenster ist offen, und draußen regnet es mal wieder, aber es ist noch hell. Eigentlich mag ich den Regen. Das Geräusch des Regens finde ich irgendwie beruhigend, und die Luft riecht auch immer so gut, weshalb ich das Fenster geöffnet habe. Viel fällt mir jetzt nicht ein. Normalerweise würde ich jetzt Gitarre spielen. Musik höre ich nur noch selten. Wenn ich auf der Gitarre improvisiere kann ich gleich die Musik machen, die ich auch hören möchte. Im Moment gefällt mir aber der Regen am besten. Viele Leute denken, Musik besteht aus Melodie und Rhythmus, und wird bewusst von Menschen gemacht, dabei ist doch eigentlich alles was man hören kann Musik. Die Musik, die die meisten Leute meinen, wenn sie von Musik sprechen, ist doch auch nur eine Aneinanderreihung verschiedener Töne, die im einzelnen nur Geräusche sind. Wenn Musik das Leben wiederspiegeln soll, dann muss es doch auch unangenehme Töne geben. Deshalb denke ich, alle Geräusche der Welt sind eigentlich Musik. Der Regen, das summen des Kühlschranks, der Presslufthammer der Baustelle, die vorbeifahrenden Autos. Alles dies gehört dazu.
27.2.1995 - Montag
Wieder einmal Montag. Das ganze Wochenende war ich zu Hause und hab geschlafen, und Gitarre gespielt. Am Samstag war ich einmal kurz in einem Musikgeschäft, um mir ein paar neue Effektgeräte anzusehen, aber etwas richtig interessantes war nicht dabei.
In der Arbeit war es selbstverständlich langweilig. Immer wieder die gleichen Klimaanlagenfiltersysteme liefern und einbauen. Mein Chef macht mich irgendwie ganz deprimiert. Er macht das ganze schon seit einundzwanzig Jahren.
28.2.1995 - Dienstag
Heute baute ich ein Klimaanlagenfiltersystem in einer Versicherungsfirma ein, und traf dort ganz überraschend Tom, einen Freund aus meiner Schulzeit, der jetzt dort arbeitet. Tom ist sogar Leiter der ganzen Abteilung Automobilschäden. Früher spielten wir zusammen Basketball und waren immer im gleichen Plattenladen zu finden, aber nach der Schulzeit trennten sich unsere Wege. Jetzt sind wir beide sechsundzwanzig. Er verdient im Monat zwölftausend Mark und ich zweitausend. Er trägt Schuhe von Armani und ich von Puma. Er fährt einen Land Rover Geländewagen und ich habe gar keinen Führerschein. Er war auch ziemlich überrascht mich wieder zu treffen, aber hatte wenig Zeit zu reden, also lud er mich für Morgen zum Essen ein.
1.3.1995 - Mittwoch
Nach der Arbeit ging ich zurück zum Versicherungsgebäude, wo Tom gerade fertig wurde. Wie er mir erzählte, macht er jeden Tag Überstunden. Seine Sekretärin Maria, die etwas jünger als wir ist, kam auch mit. Das Lokal war ziemlich vornehm, und ich passte, glaube ich, nicht wirklich zum üblichen Klientele. Womöglich war es den beiden unangenehm, aber sie ließen sich nichts anmerken. Tom und ich redeten ein wenig über die alten Zeiten, doch dann schlug er vor, wir sollten Maria nicht aus dem Gespräch lassen. Er wollte mit mir einen Autoversicherungsplan für mich besprechen. Als ich ihm sagte, dass ich gar keinen Führerschein habe, konnte er es gar nicht glauben.
Nach dem Essen fuhr er Maria und mich mit seinem Land Rover nach Hause. Wie sich herausstellte wohnt Maria ganz bei mir in der Nähe.
2.3.1995 - Donnerstag
Eine Woche ist vergangen, und es regnet wieder. Das Fenster ist heute geschlossen und vieles geht mir durch den Kopf. Ich habe absolut keine Lust Morgen schon wieder Klimaanlagenfiltersysteme zu installieren. Was habe ich nur die ganzen Jahre nach der Schulzeit getan? Ich gehe schon auf die dreißig zu, und sitze immer noch in meiner Ein-Zimmer Wohnung und spiele für mich selbst Gitarre. Es gibt Freunde von mir die in Bands spielen, aber keiner kann damit Geld verdienen. Mit meiner letzten Freundin habe ich vor einem Jahr Schluss gemacht - vielmehr, sie mit mir. Sie sah keine Zukunft mit mir, was ich im Nachhinein auch verstehe. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Wie eine Straßenkreuzung auf der sich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sich darauf. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereignet sich anderswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls.
9.3.1995 - Donnerstag
Seit Donnerstag letzter Woche bin ich nicht mehr in die Arbeit gegangen, sondern war nur daheim und habe an die Decke gestarrt. Meine Gitarre habe ich kein einziges mal angefasst. Gestern hat dann der Chef angerufen. Ich habe nur den Anrufbeantworter laufen lassen. Jedenfalls bin ich seit gestern auch arbeitslos. Ich sehe mir gerade den Stellenmarkt in der Zeitung an, aber mit meinen Voraussetzungen kann ich wohl nicht bei einer Versicherung arbeiten.
10.3.1995 - Freitag
Heute traf ich zufälliger Weise Maria an der Bushaltestelle. Sie erzählte mir, dass sie sich frei genommen hatte um ihre Mutter zu besuchen. Außerdem entschuldigte sie sich, dass Tom im Restaurant letztendlich nur über Versicherungspläne gesprochen hatte. Ich fragte sie ob sie am Wochenende etwas unternehmen wolle, aber sie sagte sie müsse mit Tom zu einem speziellen Betriebsseminar.
Auf dem Weg nach Hause kaufte ich mir noch ein paar Zeitungen mit Stellenanzeigen, und zwei Bücher über Firmengründung im IT Business.
12.3.1995 - Sonntag
Die Bücher über das IT Business haben mir überhaupt nicht geholfen, sondern nur meinen Geldbeutel um achtzig Mark erleichtert. Ich habe versucht ein wenig Gitarre zu spielen, aber jetzt liege ich doch nur seit zwei Stunden auf dem Boden und höre mir die Rückkopplungsgeräusche an.
14.3.1995 - Dienstag
Heute las ich in der Zeitung Toms Todesanzeige. Ich war mir zunächst nicht sicher, also rief ich in seinem Büro an. Maria war an der Leitung, und erzählte mir, dass Tom am Sonntag Abend in einem Autounfall ums Leben gekommen war. Er war von der Fahrbahn abgekommen, sein wagen überschlug sich mehrmals, und er war sofort tot. Sie sagte mir wo am Donnerstag die Beerdigung ist.
Nach diesem Telefonat musste ich an Tom denken, wie er Maria und mich in seinem Land Rover nach Hause fuhr. In dem gleichen Wagen starb er wahrscheinlich.
16.3.1995 - Donnerstag
Heute war ich auf Toms Beerdigung, wo ich Maria wieder traf. Die Beerdigung schien wohl eher im Kreise der Familie stattzufinden, denn es waren nur zwischen dreißig und vierzig Leute anwesend. Maria und ich standen ganz hinten, aber sie bemerkte mich zuerst gar nicht. Sie war ganz schwarz angezogen, aber hatte einen knallgelben Regenschirm bei sich. Als ich sie auf den Schirm ansprach, war sie ganz überrascht mich zu treffen, und erklärte mir es wäre der einzige Schirm gewesen, den sie heute in ihrer Eile gefunden hatte. Nach der Beerdigung hatten wir beide einen riesigen Hunger, also beschlossen wir in das nächstbeste Lokal zu gehen. Wir redeten ziemlich lange miteinander, und erzählten uns unsere halben Lebensgeschichten. Sie wuchs in einer Kleinstadt etwas außerhalb auf, und ist vor drei Jahren in die Stadt gezogen. Seit ihrer frühesten Kindheit sind ihre Eltern geschieden, und sie hat ihren Vater seitdem auch nicht mehr gesehen. Mit ihrer Mutter versteht sie sich allerdings blendend, und sie besucht sie so oft wie möglich.
Nach dem Essen lud Maria mich noch zu sich ein, wo wir miteinander schliefen. Ich hätte es nicht tun sollen, aber ich fragte sie ob sie mit Tom geschlafen hatte. Sie sagte, sie wäre nur seine Sekretärin gewesen, und fragte mich warum ich es wissen wollte, worauf mir nichts einfiel. Als wir fertig waren, schlief sie ein. Ich zog mich an, und schaute mich in ihrer Wohnung um. Sie hatte eine Menge Stofftiere. In ihrem Bücherregal standen ein paar Krimis, Kochbücher, und einige Bücher über Malaysien. Dann ging ich nach Hause.
19.3.1995 - Sonntag
Schon am Freitag rief ich wieder bei Maria an, doch ich konnte sie nie erreichen. Am Samstag war ich dann in ziemlich schlechter Stimmung. Immer wieder dachte ich an Tom. Er hatte alles was ich mir wünschte, aber scheinbar hielt ihn doch nichts im Leben. Am Abend hielt ich es dann nicht mehr aus - ich musste sie wiedersehen, und so gegen elf ging ich ging einfach zu ihrem Gebäude. Ich blickte die gewundene Außentreppe nach oben, und wusste auf einmal nicht mehr warum ich gekommen war. Wenn ich einfach so bei ihr aufkreuzte, würde sie mich sicherlich für keinen schlechten Freak halten. Trotzdem fühlte es sich gut an näher bei ihr zu sein. Gerade als ich mich auf den Weg nach Hause machte kam sie mir dann entgegen. Sie trug eine Reisetasche bei sich, denn sie war wieder bei ihrer Mutter gewesen. Sie lud mich zu sich ein, und ich trug ihre Tasche nach oben.
Wir schliefen wieder miteinander, und redeten und lachten danach über diverse unwichtigen Sachen. Auf einmal verspürten wir wieder einen riesigen Hunger. In ihrem Kühlschrank war nicht viel, und noch weniger, was uns ansprach. Wir überlegten, wo wir um halb zwei noch etwas Essen könnten, und sie schlug vor, zu einem McDonalds im Flughafen zu fahren, der angeblich die ganze Nacht geöffnet hatte. Wir zogen uns an und nahmen ein Taxi.
Der McDonalds am Flughafen hatte tatsächlich geöffnet. Wir bestellten uns zwei große Royal TS Menüs, und aßen in Stille. Aus den Boxen kam Purple Rain, von Prince. Als wir fertig waren, erzählte sie mir, dass sie öfters einfach so zum Flughafen fährt.
„Wenn du im Flughafen bist, und nirgendwo hinfliegst, fühlst du dich wie im Mittelpunkt der Erde. Alle kommen zu dir, und gehen von dir. Alles dreht sich um dich“, sagte sie.
„Würdest du gerne irgendwo hinfliegen?“, fragte ich sie.
„Am liebsten nach Malaysien“, sagte sie. „Da wollte ich schon immer einmal hin. Und du?“
„Eigentlich nicht“, sagte ich. „Im Grunde ist es doch überall gleich. Und wenn hier eh schon alle zu dir kommen und von dir gehen, dann musst du doch selbst gar nicht mehr verreisen. Jeden Tag gehen und fahren tausende von Menschen über eine Straßenkreuzung, aber die Straßenkreuzung bleibt immer am gleichen Ort.“
„Ich glaube ich verstehe nicht ganz, was du meinst“, sagte sie.
„Ich auch nicht“, sagte ich.
Als wir mit unseren Royal TS Menüs fertig waren, kauften wir vorsichtshalber noch ein paar Cheeseburger, und gingen in die Ankunftshalle. Es war zehn nach drei, aber die ersten, wenigen, eintreffenden Flüge des Morgens wurden schon angezeigt.
ML8080 4:20 - Kuala Lumpur
LH420 4:35 - New York, JFK
LH256 4:40 - London, Heathrow
BA505 4:55 - London, Heathrow
Wir setzten uns auf eine Bank, und warteten auf die Flüge. Langsam trafen auch andere Leute ein, um Freunde, Verwandte, Geschäftspartner, oder den zu Chauffierenden abzuholen. Ungefähr um 4:35 Uhr kamen dann die Leute von dem Flug aus Kuala Lumpur, mit zerknitterten Kleidern, verschlafenen Gesichtsausdrücken, und Koffern hinter sich herziehend aus der Zollbarriere. Es waren die unterschiedensten Leute - Inder, Europäer, Chinesen und Malayen, Australier und Japaner, Familien, Urlauber, und einzelne Geschäftsreisende, aber alle hatten etwas gemeinsam. Alle wussten wohin sie gehen sollten. Einige wurden in der Ankunftshalle in Empfang genommen, andere gingen geradewegs zu den Taxiständen oder der S-Bahn. Alle gingen an uns vorbei. Wir warteten noch auf die Leute aus New York, und aßen jeweils einen Cheeseburger, dann gingen wir auch zu den Zügen.
Als wir wieder in der Innenstadt ankamen war es wieder hell. Irgendwie wollten wir uns noch nicht von einander verabschieden, also beschlossen wir im Park spazieren zu gehen.
Außer ein paar Joggern waren wir fast die einzigen weit und breit. An einem Kinderspielplatz setzten wir uns auf die Schaukeln, und sie schaukelte ein wenig. Ich bemerkte, dass ich noch einen Cheeseburger in der Jackentasche hatte.
„Frühstück?“, sagte ich, und bot ihn ihr an.
„Nein Danke. Bin voll.“
Ich blickte zum Himmel. Es war keine einzige Wolke zu sehen. Ich erzählte ihr, dass ich mir Sorgen machte, weil ich gefeuert worden war, und keinen Job finden konnte, in dem ich mir irgendwelche Chancen für die Zukunft ausrechnete, und, dass ich mir mehr Halt in meinem Leben wünschte.
„Ich weis genau was wir tun müssen“, sagte sie. „Gib mir den Cheeseburger.“
Ich reichte ihn ihr.
„Vor jedem Neuanfang steht ein Ende. Du musst einen Schlussstrich ziehen. Dieses Junk-Food“ - sie hielt den Cheeseburger hoch - „ist dein bisheriges Leben. Wir müssen es beerdigen.“
Sie grub mit ihrer Ferse ein recht tiefes Loch in den Sandkasten, und legte den Cheeseburger hinein. Danach nahm sie etwas Sand in die Hand, und sprach: „Es tut uns leid, dass dieser Cheeseburger von uns geht, obwohl er eigentlich noch völlig in Ordnung ist. Ohne weiteres könnte man diesen Cheeseburger noch essen, denn er ist sicher noch lecker. Wir haben aber keinen Hunger. Lebe wohl, Cheeseburger!“
Sie warf den Sand auf den Cheeseburger.
„Jetzt bist du dran“, sagte sie zu mir.
Ich nahm auch ein wenig Sand in meine Hand, und überlegte, was ich sagen sollte. Mir viel einfach nichts ein.
„Es tut mir leid“, sagte ich, und lies den Sand auf den Cheeseburger fallen. „Gerade eben weil wir dich hier beerdigen, wirst du mir immer in Erinnerung bleiben.“
Danach gingen wir nach Hause.
20.4.1995 - Donnerstag
Es regnet einmal wieder.
Maria und ich sind soeben in unsere gemeinsame Wohnung eingezogen. Einen neuen Job habe ich mittlerweile auch schon gefunden. Er ist nichts besonderes, aber es lohnt sich jedes mal in die Arbeit zu gehen, nur um wieder zu ihr nach Hause zu kommen.
Alle unsere Sachen sind noch eingepackt. Nur meine Gitarre und meinen Verstärker habe ich schon herausgeholt. Wir sitzen gerade zwischen den Umzugskartons, trinken Pepsi, und ich spiele ihr etwas vor. Nach einer Weile lege ich aber die Gitarre weg, und schlage vor, dass wir dem Regen lauschen.
***
Die Straßenkreuzung
Es war einmal in einer Stadt eine Straßenkreuzung. Sie war nicht besonders breit, aber dennoch hatten die Straßen zwei Spuren. Die Gebäude an der Kreuzung waren alle um die fünf Stockwerke hoch, und beinhalteten Wohnungen, Büros und Arztpraxen. Auf der Straßenebene gab es einige Geschäfte, so wie etwa einen Gitarrenladen, die Filiale einer Süd-Ost Asiatischer Fluggesellschaft und ein Hamburger-Restaurant. Auf einer Seite der Straßenkreuzung gab es einen kleinen Park mit einem Kinderspielplatz. Es war eben eine ganz gewöhnliche Straßenkreuzung, über die jeden Tag tausende von Menschen gingen und fuhren, an der Häuser betreten und verlassen wurden, an der sich Leute verabredeten, und an der manchmal auch Unfälle passierten.
Eines Tages kam ein Mädchen an diese Straßenkreuzung. Sie blickte sich einmal kurz um, und sah den kleinen Park. Sie ging zu dem Kinderspielplatz, und setzte sich dort auf eine Bank. Obwohl die Straßenkreuzung nichts außergewöhnliches war, fühlte sie sich irgendwie davon angezogen. Sie lehnte sich zurück, und atmete einmal tief durch. Dann streckte sie die Arme nach oben, und sagte: „Hier gefällt es mir. Hier bleibe ich.“