21 Watt
Vor sich sah er nur die Landstraße. Es war Mitternacht durch und der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer leisteten ganze Arbeit, was aber nicht viel half. Die paar Meter der Straße, die er mit seinen Scheinwerfern beleuchtete, und der Anblick des verschwommenen Dunkels der Nacht, kamen ihm vor wie ein Mosaik.
Er riskierte einen flüchtigen Blick nach rechts auf den Beifahrersitz. Sie schlief. Sie sah so glücklich aus, wie sie so dasaß, den Kopf auf die rechte Schulter gelegt. Was sie wohl gerade dachte...? Er mußte wieder nach vorne sehen. Sie hatten bestimmt noch über eine Stunde Fahrt vor sich. Ob er müde war, vermochte er in diesem Augenblick nicht zu sagen. Selbst wenn er es gewesen wäre – an Schlaf konnte er in diesem Moment sowieso nicht denken. Sie hatte Ja gesagt, das war es, worauf es ankam. Das war das Einzige, was jetzt noch zählte, und der Gedanke daran würde beide schon heil nach Hause bringen.
In weiter Ferne sah er ein Licht. Das konnte unmöglich schon die Stadt sein, oder ist die Zeit so sehr verflogen? Möglich wäre es, denn in diesem Zustand des Glücks hatte es die Zeit schon so an sich, viel schneller als für gewöhnlich zu vergehen. Das Licht verschwand wieder. Er lehnte sich zurück in den Fahrersitz und blickte gelassen auf die vor ihm liegende Straße. Er hörte den Motor seines Wagens, das Prasseln des Regens auf dem Autodach und der Windschutzscheibe. Er hörte das gleichmäßige Quietschen der Scheibenwischer. Doch er hörte noch etwas. Ein Geräusch, das ihm die Kraft gab, wach zu bleiben – ihren Atem. Langsam und friedlich.
Vor ihm war wieder das unbekannte Licht zu sehen, jetzt etwas größer. Es verschwand erneut. Er ging etwas vom Gas, da er jetzt nichts mehr riskieren wollte, so kurz vor dem gemeinsamen Ziel. Er blickte wieder zu ihr hinüber, besah sich ihre linke Hand. Er lächelte zufrieden. Natürlich hatte er Angst gehabt, sie könnte Nein sagen, aber sie hatte doch Ja gesagt. Er war mit ihr an die See gefahren. Dort hatten sie sich eine kleine Blockhütte gemietet. In dieser romantischen Umgebung konnte sie eigentlich nur Ja sagen. Er sah sich zwar schon vor ihr, das kleine blaue Gehäuse aus Plastik mit dem Zick-Zack-Riffelmuster in der zitternden linken Hand. Und sie... sie hätte ihn ernst angesehen, ohne die Miene zu verziehen, ohne das Funkeln des Glücks in ihren Augen. Doch es kam anders. Und dafür war er dankbar.
Sie lächelte ihn an, wie ein Engel, eine Prinzessin nicht aufrichtiger hätte lächeln können. Und er genoß diesen Augenblick, er umarmte sie, er sah ihr in die Augen, sah, wie sie leuchteten, so wie nur selten etwas in seinem Leben leuchtete... Und dann wurde alles dunkel. Er konnte diese plötzliche Dunkelheit förmlich hören, spüren, wie eine riesige Druckwelle, die drohte, die ganze Welt zu verschlingen. Er sah nichts, soweit er die Augen auch aufriß. Doch da, ein Blinken, doch es blieb zu kurz, um es zu orten. Er hörte die Druckwelle, sehnte sich nach Ruhe... Er wollte schlafen. Und dann schlief er. Sehr lange...
Als er aufwachte, wußte er nicht, ob er lebte oder tot war. Er bekam die Augen immer noch nicht auf, aber vielleicht wollte er es auch gar nicht („sie hätte auch Nein sagen können...“). Ein starkes Leuchten zwang ihn dazu, die Augen noch mehr zusammenzukneifen. Er hörte noch immer die Dunkelheit, wie ein Surren, ohne jede Frequenz, die er jemals in seinem Leben vernommen hatte. Er versuchte, die Geräusche zu sortieren, aber es kamen keine verwertbaren Signale in sein Gehirn (besaß er es überhaupt noch?). Seine Verfassung sorgte für einen weiteren tiefen Schlaf.
Als er erneut erwachte, bildete er sich ein, Stimmen wahrzunehmen. Rufende, redende, seufzende Stimmen. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er auf dem Rücken lag und sich nicht bewegen konnte. Er machte die Augen auf, was mit erstaunlicher Leichtigkeit funktionierte, etwa so, als wenn man versuchte, Eiscreme aus einem Gefäß zu kratzen, man es aber zuvor noch eine Weile in der Wärme ruhen lassen mußte, damit es besser ging. Und er sah über sich ein Gesicht, das ihn ernst anblickte. Es war das Gesicht eines Mannes, soviel er erkennen konnte, und er trug eine weiße Kappe und eine rote Jacke.
Er wollte nicht liegen, er riß den Oberkörper hoch, unter rasenden Schmerzen im Hinterkopf, im Nacken, im Kreuz, einfach überall. Der Mann mit der Kappe hielt ihn fest.
Er blickte sich panisch um, sah ein Auto. Es war seines. Mit eingedrückten Scheinwerfern, deren kleine Lämpchen erloschen waren, wie ihre Augen... Ein schreckliches Überbleibsel dessen, worauf er für sie und sich so eisern... Sie! Wo war sie, und wie ging es ihr? Er versuchte seinen in arge Mitleidenschaft gezogenen Schädel in alle nur erdenklichen Richtungen zu bewegen, immer gerade so, daß die Schmerzen, die er dabei fühlte, ihn nicht wieder zurück in die Ohnmacht befördern konnten. Denn das wollte er auf keinen Fall. Er mußte sie finden, bei ihr sein, bei ihr bleiben, für immer...
Und dann sah er sie, auf einer Trage liegend, die Augen geschlossen. Was sie wohl dachte? Konnte sie auch die Stimmen hören, die selben wie er? Sie mußte auch jeden Moment aufwachen, schließlich waren beide zuvor in der gleichen Situation gewesen. Aber es wurde eine Decke über ihr Gesicht gelegt. Unmöglich! Sie konnte doch nicht allen Ernstes so lange schlafen wollen! War sie denn so müde? Zugegeben, er war es auch, aber so lange? Er war drauf und dran, sich seiner Verzweiflung hinzugeben. Der Schmerz war mittlerweile so groß, daß er ihr ohne große Mühe hätte folgen können. Er versuchte zu weinen, aber seine Augen brannten, sein ganzer Kopf brannte, und er wäre sicher froh gewesen, wenn er sich nie mehr hätte im Spiegel ansehen müssen. Wer weiß, ob er so lange durchhalten würde, bis er den nächsten Spiegel zu Gesicht bekommt. Er entschied sich doch, weiterzuschlafen, und das Schicksal würde über ihn entscheiden.
„Schatz?!“, hörte er eine Stimme, die zwar auch weit weg, aber sehr vertraut klang. „Was ist denn nur los mit Dir? Also wenn wir heute noch das Meer sehen wollen, sollten wir langsam weiterfahren. Möchtest Du, daß ich fahre? Du siehst unheimlich müde aus.“
Er erhob sich langsam von der Rückbank seines Kleinwagens, und bedeckte seinen Oberkörper mit einer Jacke, die neben ihm lag. Er stand auf, zog sich die Jacke an und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Sie fuhren eine Weile, und als ob er es als eine Bestätigung für seinen Wachzustand gebraucht hätte, fing sie wieder an zu sprechen. „Hast Du irgend etwas? Du wirkst so schweigsam...“ --- „Nein“, sagte er, während er in seiner linken Jackentasche zu wühlen anfing, und ein eckiges kleines Etwas aus Plastik fühlen konnte. Es hatte ein Zick-Zack-Riffelmuster. Zufrieden zog er die Hand wieder aus der Tasche und mußte ein wenig schmunzeln. „Es ist alles in bester Ordnung.“
ENDE