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2084
Lucius Annaeus Seneca
„Warum suchst du dir nicht einen richtigen Job?“ hatte Jamal gefragt und dabei ratlos die Hände gerungen, „Diese Drecksarbeit als Sortierer ist unter deinem Niveau.“
Walter Schmitt hatte unglücklich in seinem Cappuccino gerührt und geantwortet, wie er auf diese Frage immer antwortete: „Ich bin eben nicht für den Kapitalismus geschaffen.“
Jamal hatte breit gegrinst und dabei eine Reihe perlenweißer Zähne entblößt. Wahrscheinlich wirkten sie aber nur im Kontrast zu seiner tiefschwarzen Haut so strahlend. Das redete Schmitt sich jedenfalls ein, dem es mal wieder vor seiner nächsten Zahnarztrechnung grauste, die er fast komplett selbst berappen musste, da durch seine genetische Vorbelastung die Versicherungsraten so astronomisch hoch waren, dass er gleich ganz auf eine Versicherung verzichtet hatte.
Jamal hatte den Kopf geschüttelt, wobei seine schulterlangen Rastalocken wippten, und den Kopf in eine Handfläche gestützt. „Du warst mal Idealist“, hatte er ihm vorgehalten, „du wolltest etwas verändern.“
Aber diesmal zuckte Schmitt nicht die Achseln, wie sonst immer. „Du doch auch!“ konterte er und das Kind somalischer Eltern, die während der islamischen Wanderung in das Gebiet des Eurasischen Trust immigriert waren, hob überrascht die Augenbrauen. „Aber ich bewirke etwas, ich habe Einfluss, ich bin…“
Schmitt ließ ihn nicht ausreden: „Du sitzt im Vorstand des Belgien-Konzerns, ich weiß. Und zu was macht dich das? Zu einem Kapitalisten. Ich kann mich noch gut erinnern an die glühenden Reden eines jungen Schwarzen aus den Frankfurter Ghettos. Du konntest `Das Kommunistische Manifest´ und `Der neue Sozialismus` auswendig. Du hast am Todestag von Rosa Luxemburg Kerzen angezündet und faules Gemüse auf schwarze Limousinen geworfen, solche, in denen du jetzt selbst fährst.“
„Ach komm` schon, der Kommunismus starb vor fast hundert Jahren.“ Jamal hatte gelacht und die Arme weit ausgebreitet, wie um den Redefluss seines ehemaligen Studienkameraden zu ersticken. „Das haben wir auch damals schon gewusst, wir hingen einem Traum hinterher.“
„Natürlich“, hatte Schmitt ihm zugestimmt, „aber darum geht es nicht, es ist unwichtig, dass es ein Traum war. Es war etwas anderes. Wir wollten die Gesellschaft verändern, ob wir Kommunisten, Anarchisten, Demokraten oder Ökotopier waren ist völlig egal. Wir wollten etwas verändern und das zählte.“
„Und was veränderst du?“
„Ich kann nichts verändern, aber ich habe meine Prinzipien behalten. Ich helfe nicht mit, das bestehende System zu stützen.“
„So wie ich?“ hatte Jamal leise gefragt. Dass Schmitt nichts entgegnete, sondern sich lieber die Zunge an seinem Cappuccino verbrannte, war ihm Antwort genug gewesen. Sie hatten sich im Streit getrennt.
Er hatte sich eigentlich nicht mit Jamal streiten wollen, aber es war einfach über ihn gekommen. Heute hatte er ihr ritualisiertes Gespräch schließlich nicht mehr ertragen können, an dessen Ende er, Schmitt, für gewöhnlich den Kürzeren zog und Jamal Matouf, der erfolgreiche Manager und Ehrendoktor der Finanzwissenschaften, immer jovial lächelnd den Kopf schüttelte und sagte: „Walter, du bist eben ein Träumer.“
Er war auf dem Weg zu seiner kleinen Firmenwohnung in einem der Wohnhochhäuser des Deutschland-Konzerns, als die Gruppe aus einer kleinen Seitengasse kam und ihn aus seinen Gedanken riss. Sie lächelten ihn freundlich an und verstellten ihm mit beunruhigender Gelassenheit den Weg. Sie waren zu fünft und ihr Anführer schien eine junge, türkischstämmige Frau zu sein, eigentlich noch eher ein Mädchen. Sie trug ihr Haar lang und offen, hatte eine scharf geschnittene schwarze Hose an, ein weißes Hemd und eine locker gebundene Krawatte. Ihre rechte Hand steckte in der Hosentasche und Schmitt wusste, dass sie ein Messer hielt, oder einen Teleskopschlagstock. Die fünf anderen umringten ihn langsam, alle trugen sie Krawatten, aber ihre Hemden waren rot oder blau und erst jetzt fiel Walter auf, dass aus allen Kleidern das Label säuberlich entfernt worden war.
„Klingende Münze oder geistige Erbauung, mein Freund?“ fragte die Anführerin höflich aber bestimmt. Sie trug keinen Schmuck, keine Ringe, keine Ketten, absolut gar nichts und strahlte dennoch, oder gerade deswegen, gelassene Selbstsicherheit aus. Es schien Schmitt nicht ratsam, es sich mit ihr zu verscherzen, weswegen es ihn ziemlich beunruhigte, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was sie mit ihrer Frage meinte. Zumal es Münzen schon seit geraumer Zeit gar nicht mehr gab.
Der Kreis hatte sich um ihn geschlossen und wurde nun plötzlich enger, als sie alle einen Schritt auf ihn zu taten.
„Was ist deine Berufung, Bürger?“ fragte sie.
„Ich bin bei der Entsorgungsstelle“ stammelte Walter und sah sich gehetzt nach Hilfe um, aber die Straße war menschenleer und außerdem war Zivilcourage schon lange ausgestorben und es hätte ihm auch nichts genützt, auf einer überfüllten Einkaufsmeile zu stehen, statt in dieser Straßenschlucht.
„Entsorgungsstelle...“ meinte die Anführerin langsam und mit gefährlich leerer Betonung.
„Aber eigentlich bin ich Lehrer“ setzte er schnell hinzu. Die Reaktion war verblüffend: Die Gruppe wich sofort zurück um ihm Platz zu machen, zwei oder drei warfen ihm bewundernde Blicke zu und alle nahmen die Hände aus den Taschen um zu zeigen, dass sie keine Waffen hielten.
„Und was ist ihr Fach?“ fragte sie. Verwundert stellte Walter fest, dass er nun gesiezt wurde und stotterte: „Deutsch und Geschichte.“
„Dann lassen sie ihre Geldbörse stecken, mein Freund, wir genießen jede geistige Erbauung, die in diesen geistlosen Tagen noch zu finden ist.“
Geldbörsen gab es auch schon seit Jahrzehnten nicht mehr, man trug elektronische Speicher in den Handflächen, die ID, Versicherungsnummer, Genetik-Akte, Konto, Personalausweis und Sicherheitsakte auf einmal waren.
Was wollten die von ihm? Walter Schmitt, studierter Germanist in einer Zeit, da keine Germanisten mehr gebraucht wurden sondern nur noch Betriebswirtschaftler, Wirtschaftsmathematiker und Bevölkerungsökonomen, der zur Zeit Sortierer bei der Entsorgungsbehörde war (einer der wenigen deutschstämmigen, die meisten waren sich dafür zu schade) und in dem lebte, was aus den Ruinen Frankfurts nach dem Bombenangriff des „Tausendjährigen Djihad“ von 2019 wieder aufgebaut worden war, bekam es mit der Angst zu tun.
Einer der Gefolgsleute flüsterte seiner Chefin etwas ins Ohr, die daraufhin meinte: „Jean-Pierre hat zugegebenermaßen eine Schwäche dafür, aber er hat recht damit, dass ein Gedicht einen angemessenen Preis für eine Passage und körperliche Unversehrtheit darstellen würde.“
„E-ein Gedicht?“ stammelte Walter ungläubig.
Sie zuckte bedauernd die Achseln. „Das staatliche Bildungssystem ist quasi nicht mehr existent, wir leben in einer Aristokratie und nur wer Geld hat, kann sich Bildung leisten. Wir gehören nicht zu den Begütertern, aber zu den Interessierten. Wenn man uns kein Wissen gibt, müssen wir es uns nehmen.“ Sie überlegte eine Sekunde lang, dann fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu: „Wir sind unsere eigene Bildungseinrichtung.“
„Ein Gedicht!“ forderte ihn einer ihrer Leute laut auf, woraufhin er sich einen strengen Blick von seiner Anführerin einhandelte. Offenbar war diese Subkultur, wenn es denn eine war, eine der wenigen Bereiche, in denen Frauen noch wirklich gleichberechtigt waren und auch Führungspositionen erreichen konnten. Normalerweise waren alle Vorstandsetagen und Managerposten durchweg von Männern besetzt. Eine Ironie, wie Schmitt wusste, gab es doch den alten Grundsatz der Soziologie, dass man den Grad der Entwicklung einer Gesellschaft direkt am Grad der Emanzipation der Frau ablesen konnte.
Er setzte in seinem Kopf die Bruchstücke eines Gedichtes wieder zusammen, die er die ganzen Jahre seit seiner kurzen Zeit als Lehrer des letzten humanistischen Gymnasiums Deutschlands behalten hatte.
„Na gut, “ sagte er zögernd, „ich erinnere mich an eines, das in eurem Alter großen Eindruck auf mich gemacht hat.“ Dann begann er zu rezitieren, erst langsam, dann immer sicherer und leidenschaftlicher:
„Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;
Musst mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn` als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus noch ein,
Kehrt` ich mein verirrtes Aug`
Zur Sonn`, als wenn drüber wär`
Ein Ohr, zu hören meine Klage
Ein Herz, wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend` Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat mich nicht zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blütenträume reiften?
Hier sitz` ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen
Zu genießen und zu freuen sich;
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!“
Als er geendet hatte und sich tief Luft holend umsah, glaubte er doch tatsächlich, Tränen in einigen Augen zu sehen und einer der Gruppe zitterte leicht.
Sekunden vergingen in Stille, bis die Anführerin leise und mit rauer Stimme sagte: „Das war wirklich beeindruckend, mein Freund.“ Sie überlegte einen Moment, ob sie es noch weitertreiben durfte, aber sie konnte der Versuchung nicht widerstehen: „Könnten sie noch etwas Hintergrund dazu liefern?“
Walter traute seinen Ohren kaum, diese Gang war offensichtlich interessierter an Literatur als jeder, den er in seinem Leben getroffen hatte. Selbst seine Gymnasiasten hätten an dieser Stelle gegähnt und sich gefragt, wie man mit Gedichten Geld verdienen kann.
„Das Gedicht heißt `Prometheus` und stammt von Johann Wolfgang von Goethe, aus einer Epoche, die man `Sturm und Drang` nennt“ begann er zu erklären, und während er diese Zeit rekapitulierte, sah er die großen Augen seiner Zuhörer. Er erzählte vom Ideal des Genies, von der Überbetonung der Natur als Gegenbewegung zur Aufklärung, den politischen Gegebenheiten, von Herder und Rousseau und vom Leitsatz des Sturm und Drang: „Retour á la nature.“
Als er nach einem gut viertelstündigen Vortrag zum Ende kam, sahen die fünf ihn stumm an. Dann schienen sie nacheinander aus einer Art Trance aufzuwachen und richteten bewundernde Blicke auf ihn, dann verbeugte sich die Anführerin plötzlich, schwenkte einen imaginäre Hut und wies die Straße hinunter: „Die Passage ist frei.“
Schmitt erreichte von den Ereignissen des Tages verwirrt und aufgewühlt seine Betriebswohnung. Ein Computer summte zufrieden, als er die Hand auf das Kontaktfeld legte und die Tür glitt zischend auf. Er betrat seine kleine Vierzimmer-Unterkunft und ließ sich seufzend auf seine Couch fallen. Erst als er merkte, dass ihm noch immer kalter Schweiß auf der Stirn stand, wurde ihm bewusst, wie sehr ihn die Begegnung mit der Gruppe Bildungshungriger wirklich mitgenommen hatte. Er lebte tatsächlich in einem Elfenbeinturm. Um ihn herum stapelten sich Bücher auf Regalen und auf dem Boden, die er bei der Auflösung des Indira-Ramachandran-Gymnasiums einfach mitgenommen hatte und er verließ die Wohnung eigentlich nur um seinen spärlichen Lebensunterhalt als Sortierer der Entsorgungsstelle zu verdienen. Sogar die gelegentlichen Treffen mit Jamal würden jetzt wohl aufhören.
Er lebte in der Welt seiner Bücher, einer Welt die fein säuberlich geordnet und alphabetisch sortiert seine Wände zierte, und die er historisch erklären und verstehen konnte. Er kannte die vielschichtigen Veränderungen Europas, seit Konzerne die überschuldeten Nationalstaaten durch Privatisierungen praktisch aufgekauft hatten, kannte die kulturellen Konflikte zwischen alteingesessenen, christlichen Europäern und den moslemischen Immigranten, die seit der islamischen Wanderung 1/3 der Bevölkerung des Eurasischen Trust ausmachten. Er wusste um den Niedergang des öffentlichen Schulsystems, war er doch selbst ein Opfer der Privatisierung geworden, er konnte Vorträge halten über das Einsickern wahabbistischen Gedankenguts in die Vorstandsetagen der Landeskonzerne. Aber er hatte dies alles nur verstanden, richtig begreifen konnte er es nie, weil er mit dem Chaos, der Unordnung und der Resignation der wirklichen Welt nie in Kontakt gekommen war.
Wieder seufzte er auf und schlurfte müde in die Küche um die übriggebliebene Gemüselasagne von der letzten Betriebszuteilung aufzuwärmen. Während er darauf wartete, dass die Mikrowelle ihre Arbeit mit einem Pfeifton beendete, konnte er durch das trübe Küchenfenster sehen, wie sich draußen die große Leinwand einschaltete und ihr Pornoprogramm über drei Straßenzügen auszustrahlen begann, nur unterbrochen von lauten und quietschbunten Werbeblöcken alle zehn Minuten, die mindestens so pornografisch waren wie der „Hauptfilm“ selbst.
Er nahm die Lasagne aus dem Automaten und schlang sie lustlos hinunter. Nicht, dass sie nicht geschmeckt hätte, heutzutage schmeckte so ziemlich alles hervorragend, aber er wusste, dass in dieser Gemüselasagne weder Gemüse noch Lasagne wirklich drin waren. Manchmal war Belesenheit ein Fluch. Er hätte lieber nicht gewusst, dass diese Mahlzeit als halblebendige Biomasse in einem Tank gezüchtet worden war.
Er verzichtete darauf, heute noch etwas zu lesen, da er sich ohnehin nicht darauf hätte konzentrieren können, sondern ging gleich ins Bett. Fern hatte er schon lange nicht mehr gesehen, seine Schmerzgrenze war einfach zu schnell erreicht. Er sank tief in sein speziell auf seine Maße ergonomisch geformtes Bett, dass von der Entsorgungsstelle, einer Tochterfirma des Deutschland-Konzerns, zur Verfügung gestellt worden war. „Denn nur ausgeruhte Arbeiter sind gute Arbeiter“, stand in dicken Lettern auf einer Plakette am Fußende des Bettes.
Aber der Schlaf überkam ihn nicht so schnell wie sonst, er wälzte sich noch lange wach umher, den Kopf voller Statistiken und historischer Daten und dem neuen Bewusstsein, wie unzulänglich das alles in Wirklichkeit war.
Die nächsten Wochen vergingen in gewohnter Routine, er arbeitete sechs Stunden am Tag bis zu den Knien im Abfall stehend und studierte abends die gestohlene Schulbibliothek. Er hatte sich wieder in seinen Elfenbeinturm zurückgezogen, weil er die ungeordnete und nicht zu katalogisierende Wirklichkeit nicht ertragen konnte. Er ging nicht mehr zu Fuß nach Hause, sondern fuhr mit dem Beförderungsdienst um schmerzhafte Zusammenstöße mit ihr zu vermeiden. Aber die Wirklichkeit schien es darauf abgesehen zu haben, ihn zu treffen.
Drei Wochen nach seinem endgültigen Bruch mit Jamal und der, beinahe mit Erfolg verdrängten, Begegnung mit wissensdurstigen Gewaltverbrechern, saß er auf seiner Couch und las eine Abhandlung über die Anfänge der plutokratischen Weltherrschaft in den USA des zwanzigsten Jahrhunderts, als es hektisch klopfte. Ärgerlich (oder ängstlich?) legte er das Buch auf den niedrigen Beistelltisch und öffnete die Tür. Ehe er reagieren konnte, stürzte jemand in den Raum, drückte sich an die Wand neben der Tür und wartete nervös die paar Sekunden, bis die Tür sich wieder geschlossen hatte. Erst dann atmete die junge Frau scharf aus und versuchte erfolglos ein Zittern zu unterdrücken.
Schmitt musste mehrmals hinsehen, bevor er die Anführerin der Gang erkannte, die vor beinahe einem Monat ein Gedicht von ihm erpresst hatte. Sie hatte ihre Gelassenheit verloren, ihr Haar war wirr und ungepflegt, ihr Hemd schmutzig und zerrissen, die Krawatte fehlte völlig und die Hose war von noch nassem Schlamm und Matsch komplett ruiniert.
Sie starrte um sich wie ein gehetztes Tier und schien sich erst zu beruhigen, als sie erkannte, dass sie mit Schmitt allein war.
„Keine Angst“, zischte sie, „es hat mich niemand gesehen.“
„Was?“ fragte er verwirrt, „Wieso, was wollen sie hier?“
Sie musterte ihn ungläubig. „Die waren nicht bei ihnen?“
„Wer soll bei mir gewesen sein?“
„Der Sicherheitsdienst natürlich.“
„Bei mir war niemand.“
Sie schluckte mit vom Laufen trockener Kehle und nickte dann langsam. „Kann ich mich vielleicht frisch machen, bevor wir reden?“ fragte sie dann.
Verdutzt nickte Schmitt und zeigte ihr das Bad. Während sie duschte, kochte er Tee auf und stellte die dampfende Kanne und zwei Tassen (die zwei einzigen, die er hatte) mit fahrigen Bewegungen auf den Couchtisch. Was wollte sie nur bei ihm? Hastig räumte er einen Stapel Bücher vom Sessel auf einen anderen Stapel Bücher auf dem Boden. Gerade als er sich gesetzt hatte und Tee in die zwei alten, an den Rändern schon gesprungenen Porzellantassen eingoss, kam sie aus dem Bad.
Unter all dem Schmutz und Dreck war wieder eine junge Frau erschienen, sie ging vielleicht gerade auf die zwanzig zu und hätte fast schon seine Enkelin sein können. Sie hatte ein Handtuch um ihren Kopf gewickelt und trug seinen alten Bademantel. Mit ihrer Sauberkeit schien wieder ein Stück ihrer Gelassenheit zurückgekommen zu sein, denn sie setzte sich mit fast beleidigender Selbstverständlichkeit in den Sessel und nahm die zweite Tasse Tee. Schmitt wartete mit wachsender Gereiztheit bis sie den ersten Schluck genommen hatte und fragte dann, gröber als beabsichtigt: „Was wollen sie hier?“
Sie ging gar nicht darauf ein. „Ich wundere mich, dass sie Sie nicht gefunden haben.“ Als sie seinen verständnislosen Blick bemerkte, setzte sie hinzu: „Der Sicherheitsdienst.“
„Warum sollte er mich suchen?“ fragte er verwirrt.
Sie lächelte ironisch. „Sie erinnern sich doch noch an ihr Gedicht, Prometheus?“
„Natürlich.“ Er winkte ungeduldig ab und sie fuhr fort:
„Nun, es hat tatsächlich großen Eindruck auf uns gemacht, besonders auf Jean-Pierre, er mochte Gedichte schon immer.“ Sie nahm einen Schluck Tee und sprach weiter: „Er sagte es jedem auf, der es hören wollte. Und das wollten viele.“
„Er hat es auswendig gelernt?“ unterbrach Schmitt sie verblüfft.
Sie nickte lächelnd. „Ich sagte doch, wir nehmen uns Wissen, wenn man es uns nicht geben will. Und wir lernen schnell. Jedenfalls, Jean-Pierre hat wochenlang Prometheus rezitiert, bald kannte es jeder auf der Straße.“ Ihr Blick glitt ins Leere und sie schwieg einige Sekunden, bevor sie leise weitersprach: „Dann kam der Sicherheitsdienst. Er hat V-Männer auf der Straße, wir hätten nie gedacht, dass der Konzern so beunruhigt über uns war.“
„Moment mal, was hat der Konzern damit zu tun?“
„Na, der Sicherheitsdienst wird vom Konzern kontrolliert. Er ist das, was nach der Privatisierung der Polizei entstand.“
„Aber die Polizei existiert noch“, widersprach er.
„Schon mal einen jungen Polizisten gesehen? Oder einen der kein Asthma hat oder sonst eine chronische Krankheit? Wer für den Sicherheitsdienst untauglich wird, kommt zur Polizei. Es ist Augenwischerei, damit man den Rechtsstaat in Sicherheit wähnt. Tatsächlich existiert er schon lange nicht mehr.“
Sie lachte leise, als sie seinen ungläubigen Blick sah. „Sie denken, wenn das so wäre, müsste das in diesen Büchern stehen, nicht wahr?“ sie wies auf die Regale und Stapel um sich herum. „Aber wer hat die denn drucken lassen?“
„Aber die Gerichte?“ wandte er ein, „Die wurden nicht privatisiert!“
„Schon, aber wer macht die Gesetze?“
„Die juristische Kommission.“
„Und wer sitzt da drin?“
Er antwortete ihr nicht, sondern starrte wie betäubt vor sich hin. In der juristischen Kommission saßen Aufsichtsräte des Eurasischen Trusts.
„Aber die Belegschaft wählt die Aufsichtsräte“ war sein letzter Strohhalm vor der endgültigen Kapitulation.
„Aber wie viel Prozent der Bevölkerung arbeiten wirklich? Und wenn, wie viele Stimmen haben sie?“
Walter Schmitt resignierte. Die Stimmenzahl bei Aufsichtsratswahlen war von der Gehaltsstufe abhängig. Die europäischen Demokratien waren auf das Niveau des preußischen Dreiklassenwahlrechts zurückgefallen.
„Es gab eine Razzia in einem Club, der Besitzer hatte Jean-Pierre reden gehört und ihn sofort zu einem Auftritt überredet. Der Sicherheitsdienst wartete nicht mal das Ende der Vorstellung ab, sondern verhaftete ihn von der Bühne weg.“
„Mit welcher Begründung?“
„Volksverhetzung.“
Es war einfach unglaublich.
„Noch am selben Abend haben ganze Hundertschaften SD`ler die Ghettos durchkämmt und jeden verhaftet, der Hemd und Krawatte trug.“
„Die Ghettos?“
Sie lachte laut auf. „Wie kann man nur so naiv sein?“ rief sie und zitierte den Wahlspruch der Integrationsbehörde: ´Segregation senkt die Produktivität`. „Glauben sie wirklich, dass sich Ghettoisierung vermeiden lässt, wenn es keine Arbeitslosenunterstützung gibt? Keine staatlichen Krankenkassen? Kein Arbeitsamt? Der Eurasische Trust beschäftigt einhundertfünfzig Millionen Menschen, für sie ist ein Arbeitsvertrag das, was früher die Staatsangehörigkeit war: erst damit hat man Anspruch auf Sozialleistungen. Wer keinen Arbeitsvertrag hat, hat keinerlei soziale Absicherung, nichts. Und 310 Millionen Europäer sind arbeitslos. Asyl? Vergessen sie`s! Essenszuteilung? Um die Armen ruhig zu halten. Und sie mischen Verhütungsmittel hinein, damit wir uns nicht vermehren. Wer arbeitet ist privilegiert, Arbeitslose sind Abschaum, der in den Augen der Konzern-Bosse nicht einmal das Recht hat sich fortzupflanzen.“
Walter Schmitt hatte ihren Vortrag mit offenem Mund über sich ergehen lassen. Sie hatte Recht. Es war eigentlich alles so offensichtlich, wenn man wusste, worauf man achten musste. Als die überschuldeten Regierungen dazu übergegangen waren ihre Sozialdienste zu privatisieren, hatte es angefangen: Soziale Sicherung wurde wegrationalisiert. Unter dem Ansturm von Millionen von Immigranten während der islamischen Wanderung war es der politischen Rechten nicht schwer gefallen, Asyl, auch politisches, komplett abzuschaffen. Die Schaffung des Sicherheitsdienstes wurde durch den Terror von islamistischen und später auch christlichen Fanatikern vorangetrieben und die juristische Kommission wurde mit dem Argument geschaffen, dass die Wirtschaft ja ohnehin über Umwege die Gesetzeslage bestimmte und eine direktere Verzahnung nur das Wirtschaftswachstum fördern konnte. Die Wirtschaft hatte die politische Macht übernommen.
„Wie konnte ich das übersehen?“ stammelte er fassungslos.
„Was glauben sie denn, was eine staatliche Zensurbehörde so alles tut, wenn sie schon nicht verhindert, dass Pornos auf riesigen Leinwänden von ganzen Häuserblocks aus zu sehen sind?“
Er schüttelte den Kopf und nahm mit zitternden Händen einen Schluck Tee.
„Deswegen müssen sie hier weg“ sagte sie. „Irgendwie werden sie früher oder später rauskriegen, wer Prometheus in Umlauf gebracht hat. Sie sind nicht sicher.“
„Nicht sicher?“
„Sie werden auch sie verhaften.“
„Was können sie schon tun...“ entgegnete er lahm, aber in seinem Geist sah er sich selbst an einen Felsen gekettet und einen Adler, der auf ihn herabstieß.
Sie verließen die Wohnung noch in derselben Nacht. Schweren Herzens ließ Schmitt seine Bibliothek hinter sich und nahm lediglich einen Beutel Kleidung mit. Seine Führerin durch die Neu-Frankfurter Ghettos, die sich als Cemile vorgestellt hatte, trug ein paar Hosen von ihm die ihr viel zu lang waren und ein altes, ausgefranstes Sweatshirt. Alles außer Hemd und Krawatte war in Ordnung gewesen, denn in einem solchen Aufzug wurde man von den V-Männern des SD sofort gemeldet und verhaftet. Deswegen war sie auch so abgerissen bei ihm angekommen: sie hatten sie stundenlang verfolgt, durch Wassergräben und Baugruben, bis sie sie endlich abhängen und über Umwege zu seiner Wohnung kommen konnte.
Cemile führte ihn durch dunkle Gassen, die er sonst nicht einmal bei Tageslicht betreten hätte und wechselte jedes Mal die Richtung, wenn sie nur von weitem jemanden kommen sah. So brauchten sie drei Stunden um eine Strecke von vielleicht zwei Kilometern zurückzulegen, dafür wurden sie aber mit Sicherheit nicht verfolgt. Schmitt erkannte bald, dass sie die geborene Anführerin war, ihre Anweisungen kamen kurz und präzise und mit absolutem Selbstvertrauen und sie zeigte keinen Moment Unentschlossenheit oder Unsicherheit. Er fühlte sich sicher unter ihrer Führung und schließlich erreichten sie eine massive Metalltür auf der Rückseite einer alten, verfallenen Mietskaserne. Sie klopfte kurz einige Male und eine Klappe öffnete sich und eine Stimme flüsterte: „Sage mir Muse...“
Ohne zu Zögern vervollständigte Cemile die ersten Verse der Odyssee:
„...die Taten des vielgewanderten Mannes, der so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung.“
Die Klappe schloss sich schnarrend und die Tür schwang leise quietschend auf.
„Das ist er“, erklärte Cemile, als der Türwächter die Hand in seine Tasche schob weil er Schmitt bemerkte.
Augenblicklich hellte seine Mine sich auf und er entspannte sich. „Sie warten schon“ sagte er und trat zur Seite um sie vorbeizulassen, was auch nötig war, bei diesem Schrank von einem Kerl. Einen so gewaltigen Chinesen hatte Schmitt noch nicht gesehen, er war nicht groß, aber seine Schultern füllten fast den Türrahmen aus.
Er folgte Cemile durch einen langen Flur, von dessen Wänden schon der Putz bröckelte. Manchmal meinte er, alte Einschusslöcher zu entdecken, aber er konnte es in dem schummrigen Licht nicht mit Bestimmtheit sagen. Dann ging es einige Treppen hinunter, in den Keller des Gebäudes. Dort traten sie schon nach einigen Metern in einen großen Raum, dessen Tür wieder bewacht wurde, diesmal waren es zwei drahtige kleine Italiener, die Schmitt misstrauisch beäugten und die Cemile beschwichtigen musste. Offensichtlich war sie bei diesen Leuten eine wichtige Persönlichkeit, er beglückwünschte sich selbst zu seiner Menschenkenntnis.
Drinnen standen sechs Männer über einen altmodischen Holztisch gebeugt und studierten offenbar eine Karte oder einen Plan. Einige Flaschen billigen Wodkas verrieten, dass es sich größtenteils um Osteuropäer handelte. Ein kleiner nervöser Kerl, der ständig hastig an einer Zigarette zog, legte allerdings scheinbar großen Wert darauf, Deutscher zu sein, denn er trug ein Hemd in den Farben der alten Bundesrepublik, Schwarz-Rot-Gold. Ein anderer trug ein schwarz-weiß gestreiftes Hemd und eine Baskenmütze. Das und eine nackt von der Decke baumelnde Glühbirne erinnerte Schmitt unwillkürlich an Bilder von Verstecken der Résistance und er musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
„Was soll dass, Cemile?“ fragte einer der Männer in anklagendem Tonfall, „was hat der hier zu suchen?“
„Das ist er!“ sagte sie wieder, aber der Mann ließ sich nicht so leicht beeindrucken wie der Chinese an der Tür.
„Der, der uns diesen ganzen Mist eingebrockt hat?“ fragte er, „Noch ein Grund, ihn nicht hierher zu bringen, soll der SD ihn doch haben!“
„Er ist nur der Auslöser, die Ursache liegt woanders, das weißt du Iwan!“ meldete sich der Deutsche aus einer Wolke von Rauch heraus zu Wort. „Er kann so wenig für diese ganze Scheiße wie wir alle.“
„Und er sitzt genauso tief drin!“ fügte Cemile hinzu.
„Aber wie kommt es dann, dass die ihn noch nicht erwischt haben?“ hakte Iwan nach.
„Ich wusste gar nicht, dass der SD mich sucht, “ ergriff Schmitt zum ersten Mal das Wort, „und nicht mal ihr wisst meinen Namen, woher sollen die ihn kennen?“
„Das stimmt...“ räumte Iwan ein und schien sich zu entspannen. „Also, wie heißen sie?“
„Walter Schmitt.“
„Nun, dann Willkommen im Widerstand, Herr Schmitt“ meinte er mit sarkastischem Unterton und einem Seitenblick auf die anderen.
Nacheinander stellten die sechs sich vor, es waren die Führer verschiedener Ghettogruppen, die sich nach den Repressalien der vergangenen Tage zusammengeschlossen hatten. Insgesamt waren es fast fünfzig Personen die sich in diesem Gebäude vor den Streifen des SD versteckten, die immer noch regelmäßig die Ghettos durchkämmten. Einige von ihnen waren schon aktenkundig wegen Volksverhetzung, Anstiftung zum Aufruhr und Diebstahl geistigen Eigentums, was immer das auch bedeuten mochte. Sollte man sie entdecken, würde man sie sofort verhaften und unter Drogeneinfluss würden sie mit Sicherheit alles ausplaudern, was der SD noch nicht wissen sollte. Darum galt es, unter allen Umständen niemanden zu verlieren, denn dann würde mit Sicherheit die ganze Gruppe auffliegen.
„Aber wie lange wollt ihr hier bleiben?“ fragte Schmitt Iwan, der sich im Lauf der Zeit als oberster Anführer herauskristallisiert hatte.
„So lange es nötig ist“, antwortete stattdessen Steffen, der Raucher. „Wir kennen uns in den Ghettos aus. Es gibt Verbindungen zu anderen Gruppen in anderen Städten. Lose, unregelmäßige Verbindungen, aber genug für die Organisation.“
„Welche Organisation?“
„Den Widerstand. Die Revolution.“
Darum ging es also. Was Schmitt gerade miterlebte waren die Anfänge eines Aufstands. „Ihr wollt gegen den Trust vorgehen?“
„Wir haben keine andere Wahl“, sagte Cemile, „wir müssen kaputt machen, was uns kaputt macht.“
Diesmal fiel es Schmitt leicht, sein Grinsen zu unterdrücken, denn er bekam es mit der Angst zu tun: Wo war er hier nur hineingeraten? Diese Leute waren beinahe erschreckend naiv, aber dennoch, oder gerade deshalb, wild entschlossen ihr wie auch immer geartetes Ziel zu erreichen.
Seine Meinung wurde bestätigt, als Iwan sich in eine pathetische Rede über die Ziele der Revolution hineinsteigerte und dabei mit uralten Schlagworten wie „Klassenkampf“, „Weltrevolution“ oder „Bourgeoisie“ um sich warf.
Die logische Folge einer kapitalistischen Unterdrückung war das Aufblühen eines naiven Kommunismus in den unteren Schichten dachte Schmitt bei sich. Aber er verfiel schon wieder in seine abstrahierende Art zu denken. Er durfte nicht aus den Augen verlieren, dass er selbst bis zum Hals in diesem Schlamassel steckte. Wenn der SD das Haus fand und stürmte, und das würde er irgendwann, würde er mit Sicherheit von irgendjemandem den Namen Walter Schmitt erfahren. Und dann würden sie ihn suchen. So weit durfte es nicht kommen, er musste bei diesen Leuten, diesen „Revolutionären“, bleiben und vielleicht sogar mit ihnen zusammenarbeiten. Wenn nicht aus Überzeugung, dann eben aus purem Eigennutz.
„Was wollt ihr tun?“ fragte er und unterbrach damit grob Iwans Wortschwall. Der Russe blinzelte einen Augenblick verwirrt und sah dann die anderen an.
Die sechs wechselten kurze Blicke, dann nickte einer von ihnen. „Einverstanden, zeigen wir`s ihm!“
Sie traten zur Seite und ließen Schmitt an den Tisch treten. Auf ihm war ein Stadtplan ausgebreitet, auf dem mit blau und rot mehrere Wege eingezeichnet waren. Er betrachtete den Verlauf der Markierungen, und wo sie alle zusammenliefen.
„Was habt ihr vor?“ flüsterte er ungläubig, als er erkannte, welches Gebäude mit knalligem Neongelb umrahmt war.
„Wir werden die städtische Konzernverwaltung in die Luft jagen…“
Walter Schmitt starrte Cemile ungläubig an. „Das kann nicht euer Ernst sein!“
„Warum nicht? Wenn man uns wie Verbrecher behandelt, können wir uns auch so verhalten“ meinte jemand.
„Sie wissen doch nun selbst, wie es um uns steht“ meinte Cemile. „Und jetzt auch um sie.“
Er konnte nur ungläubig den Kopf schütteln, das hatte er nun wirklich nicht erwartet.
„Es wird eine Revolution, allein hier in Neu-Frankfurt gibt es Tausende potentielle Mitkämpfer. Und der Konzern fürchtet uns, denn wir sind zu viele, als dass er uns alle auf einmal unterdrücken könnte.“
„Es wird hier beginnen“, fuhr eine andere leidenschaftlich fort, „hier in Frankfurt. Der Konzern hat uns zu lange unterdrückt und einmal muss jemand den Anfang machen, dann werden in allen großen Städten andere nachfolgen...“
Sie ergingen sich wiederum alle in leidenschaftlichen Reden für Selbstbestimmung, gegen Unterdrückung, gegen die Konzerne und für Demokratie, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit.
Walter Schmitt hörte nur mit halbem Ohr zu, in seinem Kopf rauschte es. Er stützte sich schwer auf den Tisch und fragte sich, wie er in all dies verwickelt werden konnte. Er hatte doch bloß ein Gedicht rezitiert, und jetzt steckte er mitten in einem Aufstand. Es war mitten in der Nacht und er hatte einen anstrengenden Marsch hinter sich, er war müde und bunte Ringe tanzten vor seinen Augen.
„Sie müssen sich keine Gedanken machen“, riss ihn Cemile aus seinem Brüten, und er war ihr dankbar, dass sie ihn vor Selbstmitleid bewahrt hatte. „Ich habe sie hierher gebracht, damit sie in Sicherheit sind, nicht damit sie zum Märtyrer werden. Die Aktion werde ich leiten.“
Er blickte sie an, es war eigentlich nicht weiter verwunderlich, dass sie es sein würde.
„Die Operation Prometheus wird morgen Mittag anlaufen.“
Der Plan war einfach: zwei Autos würden vorfahren, eines würde weiterfahren, das andere explodieren. Ein simpler Plan, aber es war von vornherein klar gewesen, dass sie nicht die ganze Zentrale hoch gehen lassen konnten. Sie kamen einfach nicht rein in den vom SD hermetisch abgeriegelten Bau. Was sie schaffen konnten, war den Konzern-Bonzen einen gehörigen Schrecken einjagen, ein paar Autos zerstören und wenn sie Glück hatten, reichten die Gasflaschen, die zusätzlich zum Sprengstoff in dem Wagen sein würden, aus, um einen Teil der Hauswand einstürzen zu lassen. Für einen einfachen Plan sprach außerdem, dass sie schließlich keine Guerilleros waren, sondern unerfahrene „Erstrevolutionäre“, daher musste der Plan so einfach sein, dass sein reibungsloser Ablauf auch sicher gewährleistet war.
Am Mittag des nächsten Tages verließ Cemile mit zwei anderen das Versteck und schlich sich in ein Lagerhaus, in dem der präparierte Wagen und das Fluchtauto auf sie warteten. Woher sie den Sprengstoff hatten, wollte Schmitt niemand konkret verraten, aber jemand verplapperte sich dahingehend, dass man ihn wohl selbst hergestellt hatte. Nicht weiter überraschend, wenn man bedachte, dass die meisten dieser Leute eine abgeschlossene Berufsausbildung vorzuweisen hatten. Ein paar Chemiker konnten ohne weiteres darunter sein.
Der Anschlag war auf vierzehn Uhr angesetzt, aber schon Stunden vorher saßen Gruppen von aufgeregten Männern und Frauen um Funkempfänger herum und drehten eifrig die Kanäle hinauf und hinunter.
Walter Schmitt befand sich ebenfalls unter den gespannt Wartenden. Er hatte die Nacht auf einer Matratze auf dem nackten Boden verbracht, nachdem er ja nicht wieder nach Hause zurück konnte und es sowieso keine Rolle spielte, ob sie ihn hier erwischten oder in seinen eigenen vier Wänden. Wahrscheinlich war er hier sogar sicherer. Und das alles wegen Goethe!
Er war überraschend ausgeruht aufgewacht, nachdem er schon befürchtet hatte, nach der ersten Nacht ohne ergonomisches Bett würden ihm sämtliche Knochen wehtun. Er hatte sich eine handvoll Wasser ins Gesicht geworfen und ein paar Scheiben Brot gefrühstückt, das streng rationiert war, schließlich musste man hier so lange wie möglich ausharren, wenn der SD nach dem Anschlag die Ghettos auf den Kopf stellen würde.
Nun saß er also mit den sechs Anführern im Kreis um den Tisch, auf dem noch Stunden vorher alle Details der Operation Prometheus besprochen worden waren und fragte sich einmal mehr, wie er in diesen ganzen Albtraum geraten war. Iwan drehte am Frequenzregler und hielt kurz immer dort an, wo etwas zu hören war, aber es war stets nur Polizeifunk, Radio oder Privatfunk.
Die Nervosität nahm immer mehr zu, je näher der Zeitpunkt rückte. Eine alte Zeigeruhr hing an einer Wand und die quälend langsamen Zeiger zerrten an den Nerven der Anwesenden. Schmitt konnte nicht verhindern, dass kalter Schweiß seinen Rücken hinabrann.
„Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat mich nicht zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?“
Die blonden Haare der Frau, die diese Strophe aus Prometheus flüsterte, klebten an ihrer Stirn und Schmitt starrte sie staunend an. Wie mächtig konnten Worte doch werden!
„Das dauert zu lange“, zischte Claas leise. „Es ist schon vierzehn Uhr durch.“
Als Schmitt einen schnellen Blick auf die Uhr warf erkannte er, dass die Zeit tatsächlich schon um war. Er hatte es schlussendlich gar nicht bemerkt.
„Vielleicht funken sie nicht?“
„Der SD funkt wie blöd, wir haben doch die anderen Übertragungen gehört.“
„Da ist was schief gegangen.“
„Wir sollten hier verschwinden.“
„Wohin denn?“
Die sechs sahen sich betreten an, als sie erkannten, dass sie keinen Plan für den Fall hatten, dass der Anschlag fehlschlug.
In Schmitts Kehle steckte ein Kloß. Er wollte wieder in seine Wohnung, zu seinen Büchern. Sogar Abfallsortieren war besser, als dieses zermürbende Warten auf irgendeine Hiobsbotschaft inmitten von unfähigen Spinnern, die Revolution spielen wollten.
Die Nervosität wuchs ins Unerträgliche, als die Uhr zehn Minuten nach zwei anzeigte und immer noch kein Ton aus dem Empfänger kam.
Jemand stieß scharf die Luft aus, als plötzlich ein lautes Krachen durch das Haus dröhnte. Alle sprangen sie auf, nur Schmitt blieb reglos, wie gelähmt, sitzen. Draußen krachten Schüsse und Schreie gellten durch die Flure. Iwan tastete nervös nach seinem Messer und postierte sich neben der Tür. Der Lärm kam näher, verstummte kurz und dann stieß jemand von außen die Tür auf. Mit einem Aufschrei stieß Iwan das Messer nach vorne und ein Mann mit aufgeschlitzter Kehle taumelte an ihm vorbei in den Raum. Er trug die dunkelblaue Uniform des Sicherheitsdienstes, die nun mit Blut besudelt wurde und stürzte gurgelnd zu Boden. Gleichzeitig knallte ein Schuss und Iwan flog mitten in die Brust getroffen durch den Raum, bis er gegen eine Wand krachte und regungslos liegen blieb.
Ein Dutzend Männer in blauen Uniformen stürmten den Raum, trieben die fünf anderen und Schmitt mit Schlagstöcken zusammen, die schmerzhafte Elektroschocks austeilten. Langsam kehrte wieder Ruhe ein, von draußen war ein Röcheln zu hören, dann Stille. Die Glühbirne wackelte und gespenstische Schatten huschten durch den Raum, während draußen Stiefelgetrappel näher kam. Jemand betrat den Raum. Sie trug eine dunkelblaue Uniform, schwere Stiefel, einen Schlagstock im Gürtel und eine Pistole im Holster.
„Warum?“ flüsterte Walter Schmitt tonlos.
Cemile lachte spöttisch. „Ganz einfach, mein Freund, “ sagte sie, „sie gaben mir einen Arbeitsvertrag. Sicherheit ist wichtiger als Moral.“
Die blonde Frau, die neben Schmitt stand zitterte vor Wut und Tränen der Ohnmacht rannen ihre Wangen hinab.
„Ich bin jetzt Offizier des Sicherheitsdienstes.“
„Seit wann?“ fragte er.
„Erst ein paar Tage. Lange genug um diese ganze Sache zu inszenieren. Oder was hast du gedacht, woher ich wusste wo du wohnst?“
Verflucht, daran hätte er eigentlich schon früher denken müssen. Immer dasselbe, immer das Offensichtliche übersehen! Es war alles von Anfang an ein Theaterstück gewesen um die „Revolution“ im Keim zu ersticken. Angefangen mit ihrer Ankunft in seiner Wohnung: Sie konnte doch nicht schon tagelang so unterwegs sein und gleichzeitig eine hohe Stellung im neu entstandenen Untergrund innehaben. Und bei ihrer Rückkehr hatte es keine Fragen gegeben, wo sie denn so lange gewesen sei. Sie war wahrscheinlich gleich zu Anfang der Verfolgungen gefasst worden. Man hatte sie gekauft und mit dem Befehl zurückgeschickt, die Untergrundbewegung auszuheben und sie hatte sich dieses Theater ausgedacht. Aber wer gab ihr die Befehle?
„Mein Vorgesetzter möchte dich gern sehen“, erklärte Cemile und trat zur Seite um einem Mann Platz zu machen, der gerade durch die Tür trat.
„Nein...“ hauchte Schmitt tonlos und seine Beine drohten einzuknicken.
Jamal nickte seinen Männern zu. „Gute Arbeit, Soldaten. Wir haben sie alle erwischt.“
Dann wandte er sich seinem alten Studienkameraden zu. „Schau nicht so entgeistert, Walter. Du hast dir alles selbst zuzuschreiben.“
„Seit wann...?“
„Schon immer.“
Ein hilfloses, zorniges Schluchzen stieg in ihm hoch.
Jamal Matouf lächelte jovial und schüttelte bedauernd den Kopf, dass seine Rastalocken wippten. „Walter, du bist eben ein Träumer“ sagte er.