Mitglied
- Beitritt
- 13.06.2003
- Beiträge
- 226
2050
2050
Schnellen Schrittes zog der weißhaarige Mann durch die zerfallenen Straßen, die von einem eiskalten Wind heimgesucht wurden. Seine Kleidung wirkte auf den ersten Blick vornehm, sah man jedoch genauer hin, so erkannte man, dass sie heruntergekommen, fast schon lumpengleich war.
Mit jedem der Schritte war zugleich ein hölzernes "Klack" vernehmbar, welches vom Spazierstock des Mannes herrührte, den dieser zum gehen benötigte.
Der Mann bog um eine Ecke und blickte auf ein Straßenschild: "Schildergasse"
Die einstige, prächtige Einkaufsmeile glich einem jener Bilder aus seiner Kindheit. Einem jener Bilder, die er damals nur im Fernsehen zu Gesicht bekam, Städte im Krieg, krisengebeutelte Nationen. All jenes, bei dem es damals hieß, in Deutschland könne es das nicht geben.
Jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später, war es Wirklichkeit geworden, trostlos, mit der gesamten Härte der Armut. Die ehemaligen Leuchtreklamen an den Fassaden der großen Einkaufspaläste waren zerbrochen oder ganz verschwunden, Glas gab es keines mehr, ruinengleich thronten die alten Giganten über dem Mann.
Er hatte sich schon daran gewöhnt, sah es nicht mehr.
Da vorne konnte man noch das "K" des Kaufhofes erkennen, seinem momentanen Zuhause, 3. Stock.
Damals, in seiner Kindheit und Jugend, da hatte es noch Geld gegeben. Oft waren seine Freunde und er als Jugendliche in der Sportabteilung zum Einkaufen gewesen, heute gab es keine Jugendlichen mehr. Alle, denen sich die Möglichkeit geboten hatte, die hatten das Land rechtzeitig verlassen.
Nur noch die Alten, die schon ihr ganzes Leben hier gelebt hatten, waren noch da gewesen, als der Staat seine Insolvenz erklärte.
Die Wirtschaft war schon ausgewandert, viel früher, der Steuern wegen, und die Arbeitenden waren ihr gefolgt. Das Land wurde noch älter, die Steuern jedoch blieben aus, Rente gab es folglich keine mehr, die Alten wurden zu Selbstversorgern.
Der Mann wohnte nicht allein im Kaufhof, es waren noch um die einhundert andere alte Menschen über sechzig da, mit denen er Heim und Essen teilte. In der momentanen Jahreszeit, im eiskalten Winter, im unbeheizten Kaufhaus, ernährten sie sich von der Ernte des Sommers. Dennoch wurden es wöchentlich weniger, ohne dass auch nur einer nachrückte.
Jedoch beschwerte sich der Mann nicht, kämpfte sich die antriebslose Rolltreppe hinauf und würde auch morgen wieder seinen Spaziergang schnellen Schrittes hinter sich bringen, so wie jeden Tag, bis... ja bis.
Das Land wird bald sterben.