2038 - Allein in Deutschland
Sie hat richtig lange Beine und ist mit ihren 38 Jahren noch sehr attraktiv. Das ist auch kein Wunder, denn wir hatten sie in einer wunderbaren Liebesnacht voller Hingabe gezeugt. Meine Tochter hat sich in den alten Ikea-Sessel hineingedreht und die Beine angezogen. In dem Holzofen brennt ein ruhiges Feuer, das als einzige Beleuchtung im Raum dient. Es ist ein gutes Gefühl, nicht ganz allein auf der Welt zu sein und das wenigstens ein kleines Stück – in ihrem Fall etwa ein Meter achtzig – bleibt, wenn man geht.
„Paps, du sollst nicht so harte Sachen trinken.“ Ihr Blick ist etwas vorwurfsvoll.
„Das ist ein ganz weicher Cognac, den kann mir kein Arzt verbieten.“ Ich senke ebenso wie sie den Blick und ahme ihre Redeweise nach. Sie grinst.
„Bis hierher haben wir einen gemütlichen Abend verbracht“, grinse ich zurück, “und nun erzähl mir mal, was dich nach zwei Monaten persönlich zu mir führt, wo du doch deine Videokonferenzen so liebst.“ Sie kann mir viel erzählen, irgendetwas hat sie auf dem Herzen, und ich muss bei ihr genauso bohren wie bei ihrer seligen Mutter.
Sie kann auch genauso säuerlich gucken, wenn sie ertappt wird. „Paul und ich wollen ein Kind.“ Sagt sie einfach so dahin.
„Das ist wunderbar, mein Schatz, wann ist es denn so weit?“ Ich freue mich wie ein Schneekönig. Vielleicht sehe ich endlich ein Enkelkind, fast hatte ich die Hoffnung aufgegeben.
„Wir denken an den Mai des übernächsten Jahres, wenn Paul auf seinem neuen Job gut angekommen ist“, sagt sie und lächelt dünn. Mir ist ganz klar, dass jetzt die schlechte Nachricht kommt.
„Nach meinen Erfahrungen klappt das mit den Entbindungsterminen nicht so genau, vor allem dann nicht, wen man sie plant“. Ich schaue etwas säuerlich aus der Wäsche.
„Paps“, sagt sie, beugt sich vor und legt mir die Hand auf das Bein. Nun kommt es bestimmt richtig dick!
„Paps“, holt sie erneut aus, „das ist heutzutage kein Problem mehr. Ich bin für eine Erstgebärende ziemlich alt, da ziehe ich die Befruchtung im Reagenzglas vor. Dann weiß ich wenigstens, dass wir ein gesundes Kind bekommen.“
Da kommt bestimmt etwas hinterher. „Was für einen neuen Job hat Paul denn?“ Dafür hat sie seit ihrem dritten Lebensjahr Englisch gelernt und ist auf die Uni gegangen, damit sie einen amerikanischen Workaholic heiratet und mit ihm durch die Weltgeschichte gondelt. Wäre sie Zahnarzthelferin geworden, dann hätte ich bestimmt schon drei Enkelkinder.
„Er kann auf die nächste Managementebene vorrücken und wird Senior-Produkt-Manager. Allerdings müssen wir dafür nach Kalifornien umziehen.“
Es ist raus. Sie wirkt erleichtert, und ich habe den Schwarzen Peter. „Dann können wir uns ja wohl nur noch über das Netz sehen?“
„Ich komme ein- oder zweimal im Jahr nach Deutschland, und dann besuche ich dich ganz bestimmt. Freust du dich denn nicht über ein Enkelkind?“ Sie lächelt.
Seitdem sie zwei Jahre alt ist, versucht sie mich einzuwickeln – ab und zu klappt es.
„Sehr, mein Schatz“, ich muss lächeln, und lege ihr ebenfalls die Hand auf das Bein. „Noch schöner wäre es allerdings, wenn ich mein Enkelkind häufiger sehen könnte.“
Sie grinst, denn damit hat sie gerechnet. „Paul und ich haben beschlossen, dass wir dir eine Videowand schenken. Du weißt schon, so eine wie bei Bradbury und Asimov, bei der man praktisch zusammen an einen Tisch sitzt und sich unterhalten kann, egal, wo man ist. Als Mitarbeiter bekommt er sie ganz günstig.“
Damit hat sie auch schon meinen nächsten Einwand vorweg genommen. Soll ich ihr sagen: „Es fehlt nur noch, dass ihr Bücher verbrennt?“ Dann würde ich sie vermutlich die nächsten drei Monate nicht sehen.
Also beiße ich in den sauren Apfel und lächele. „Das ist schön, dann sehen wir uns ja richtig.“
Sie ist glücklich, jedenfalls schaut sie so.
„In den USA haben wir auch den Vorteil, das wir die Gene unseres Kindes scannen lassen können. Damit können wir Krankheiten ausschließen – und ihn etwas besser machen.“ Sie wirkt unsicher.
„Du weißt, dass das in Deutschland verboten ist?“ Ich sitze aufrecht in meinem alten Ikea-Sessel. „Das du dafür ins Gefängnis kommst?“ Ich winke meinem Haushaltsroboter. “Du kannst dich zurück ziehen, und mach bitte auch deinen großen Service-Check, an den du mich heute morgen erinnert hast.“ Er nickt und geht die Treppe hinunter. Wir warten mit dem Gespräch, bis die Kellertür hinter ihm zufällt.
„In den USA ist es erlaubt, und dort ist es auch schon Standard, die Gesundheit und die Intelligenz der Kinder zu verbessern.“ Sie will mich überzeugen. „Wer es sich drüben leisten kann, der sorgt dafür, dass seine Kinder gesünder und intelligenter werden. Kinder ohne das werden die schlechteren Jobs bekommen, weniger verdienen, keine Aufstiegschancen haben. Und wenn ich schon ein Kind bekomme, dann soll es auch die besten Chancen haben, die es gibt!“ Sie spricht sehr entschlossen und sitzt da wie ein kleines Mädchen, mit den Armen zwischen den Beinen.
„Und du hast keine moralischen Bedenken, am Leben, diesem Geschenk Gottes, herum zu pfuschen?“ Das will ich genau wissen.
„Ich pfusche an nichts herum, wir verbessern es!“ Sie ist sauer. „Wenn alle es tun, dann bleibt einem nichts mehr anderes übrig, als dabei zu sein. Das solltest Du am besten wissen! Schließlich sind deine neuen Medikamente aus der Forschung an Stammzellen entstanden! Oder willst du ein krankes Enkelkind mit einer kurzen Lebenserwartung, dass sich quält und total unglücklich ist?“
Darauf gehe ich bestimmt nicht ein. „ Ich verfolge die aktuelle Diskussion im Fernsehen. Alle reden davon, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland gefestigt werden muss und das wir keine Chancen mehr im internationalen Wettbewerb haben, wenn unsere Arbeiter nicht schlauer werden. Eine ähnliche Diskussion hatten wir vor über dreißig Jahren schon einmal über die Gewinnung von Stammzellen. Hinterher kam wie immer ein fauler Kompromiss dabei heraus – Forschung ja, wirtschaftlich wichtig, aber nicht mit neuen Stammzellen. Wasch mir den Pelz, aber mach mich bitte nicht nass. Und dann passierte die Forschung im Ausland.“
Ich schwenke mein Cognacglas und schaue hinein. „Als ob es heute darum noch geht. Die meiste Arbeit erledigen inzwischen die Roboter, und die meisten Entscheidungen treffen die Großrechner, das meiste Geld verdienen wir mit der Autobahnmaut und der extensiven Viehhaltung in Mecklenburg-Vorpommern. Da könnten wir es uns eigentlich leisten, langsam zu verblöden.“ Ich nehme einen ordentlichen Schluck Cognac.
Wenn sie zornig ist, sieht sie genauso hübsch aus wie ihre Mutter. Was würde ich dafür geben, wenn die hier wäre – vermutlich hätte ich es dann mit zwei Frauen zu tun.
„Paps, gerade darum geht es. Über viele Jahre wurden die technischen Systeme verbessert, aber die biologischen Systeme sind stehen geblieben – wir müssen uns an die technischen Möglichkeiten anpassen, und wir haben immer noch die gleichen Instinkte wir unsere Vorfahren, die Neandertaler. Und darüber hinaus möchtest du bestimmt auch einen gesunden Enkel...“
Ich falle ihr ins Wort. „ Ich bin kein Neandertaler, und werde auch niemals einer sein – und die Neandertaler sind ja wohl auch nicht unsere Vorfahren!“ So barsch hat sie mich selten erlebt, und mir tut es auch einigermaßen leid.
„Mein Schatz,“ ich bemühe mich, versöhnlich zu klingen, “ich kann euch gut verstehen. Ich bin dagegen, denn so weit, wie wir bisher gekommen sind, sind wir gut geworden und haben dafür bitter Lehrgeld bezahlt. Und ihr wisst nicht, welche neue Büchse der Pandora ihr damit aufmacht.“ Jetzt schaut sie wie ein Schaf, und das tut mir weh.
„Ich weiß, dass Eltern immer das Beste für Ihre Kinder wollen. Deiner Mutter und mir ging es genauso. Ich weiß auch, dass ich eure Entscheidung nicht ändern kann. Ich kann sie verstehen, und ich werde sie akzeptieren.“ Ihr kleines Lächeln zeigt mir, dass sie ihrem Paps nicht böse ist..
„Sei vorsichtig, und du solltest auf jeden Fall die Staatsbürgerschaft wechseln und Amerikanerin werden, wie Dein Mann.“ Ich nehme Ihre Hand, und sie drückt meine.
„Das ist schon in Arbeit“, sagt sie und lächelt.
Bald darauf geht sie ins Bett, und alt wie ich bin, bin ich ziemlich munter. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Was passiert, wenn ich langsam in der Demenz versinke? Wer kümmert sich um mich, wenn ich nicht genug trinke? Sie ist dann weit weg, und ich habe keine Lust, als alte Eiche meine Wurzeln in den kalifornischen Boden zu stecken.
Sei es drum, ich werde übernächstes Jahr für den langen Flug nach Kalifornien die Thrombosestrümpfe überziehen und dann mein Enkelkind besuchen. Es kommt, wie es kommt, und es gilt noch ein Stück zu leben, in Deutschland und im Jahr 2038.