2020
Martha schloss die zweitürige Eingangstür hinter sich und verließ das Bürogebäude in dem sie seit zwei Monaten beschäftigt war. Sie schlug den Kragen ihrer gefütterten Lederjacke hoch und machte sich auf den Weg. Da seit einigen Tagen endlich mal wieder die Sonne schien, nahm sie den Weg durch den Park. Kurz geriet sie in Versuchung ihr Kaugummi auf den akkurat angelegten Keisweg zu spucken. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie einen uniformierten Sauberkeitsbeamten am Wegesrand stehen. Glück gehabt, dass wäre teuer geworden. Martha suchte in ihrer Aktentasche nach einem geeigneten Stück Papier und wickelte den klebrigen, grauen Klumpen darin ein. Dann warf sie ihn in einen der Mülleimer, die alle zehn Meter zu finden waren. In hübschem Signalrot, riefen sie die Bürger der Stadt zur Sauberkeit auf.
Martha verließ den Park und bog in die Straße ein, in der sie wohnte. Fast wurde sie beim um die Ecke gehen von einem Jogger umgerannt.
"Hey kannst du nicht aufpassen" rief sie dem Mann hinterher. Er blieb stehen, hüpfte kurz auf der Stelle und drehte sich dann zu ihr um.
"Martha, so ein Zufall. Bist ein wenig gereizt heute, schlechten Tag gehabt?"
"Stefan", Martha unterdrückte einen Seufzer,"ich hatte keinen schlechten Tag, ich werde nur nicht gerne umgerannt".
"Ich sag dir was dir fehlt. Fitness. Glaub mir,wenn du dem "Gesund durchs Leben" Verein beitreten würdest, ginge es dir besser," er hob den Daumen und verfiel wieder in einen Laufschritt. Hinter seinem Rücken schnitt Martha eine Grimasse. Blödmann. Nie im Leben würde sie einem dieser Vereine, die in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, beitreten. "Joggen für mehr Selbstbewusstsein", "Erfolgreich durch einen gesunden Körper", "Lauf dich glücklich"... alleine die Namen schreckten sie schon ab.
Martha schüttelte sich unmerklich und schloss die Haustür auf. Mit dem Fahrstuhl fuhr sie in den fünften Stock und ging in ihre Wohnung. Sie zog ihre hochhackigen Schuhe aus und stellte sie in das dafür vorgesehene Regal. Barfuss ging sie über den flauschigen Teppich ins Wohnzimmer. Sie klatschte zweimal in die Hände und die Stereonalage schaltete sich ein. in der Küche machte sie sich einen Kaffee. Bedauernd stellt sie fest, dass der Vorrat an Kaffee mit Koffein, den sie sich angelegt hatte, fast aufgebraucht war. Es gab nur noch wenige Läden in dem man ihn kaufen konnte. Sie goss sich eine Tasse des wohlriechenden Getränks ein. Da Mark nicht da war genehmige sie sich einen Löffel Zucker aus ihrem Geheimversteck. Mark nahm selbstverständlich nur Süßstoff. Sie kräuselte die Nase und kehrte zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Glastisch in der Mitte des geräumigen Zimmers lag ein Zettel.
Hallo Schatz,
das Meeting ist auf heute abend verschoben, daher bin ich erst gegen zehn oder elf wieder zu Hause. Mark.
Ärgerlich nahm Martha den Zettel und riss ihn in Stücke. Wahrscheinlich hatte er sich gar nichts dabei gedacht. Aber es wurmte sie trotzdem. Als ob sie ein kleines Kind wäre. Mach keine Dummheiten. Sie holte eine Flasche Wein aus dem Schrank und öffnete sie. Eigentlich trank sie kaum Alkohol. Nur zu bestimmten Angelegenheiten und nie alleine. Nach dem zweiten Glas fühlte sie sich bereits ein wenig benebelt.
Sie könnte... Nein, schnell verwarf sie den Gedanken wieder. Sie war schließlich keine 16 mehr. Sie goss sich ein weiteres Glas ein und ließ die dunkelrote Flüssigkeit in ihrem Glas kreisen. Sie dachte an früher. An ihre Jugend. Wie anders das Leben war, Zugegeben das Leben war komfortabler geworden. Sie verdiente ungefähr dreimal so viel wie ihre Eltern, hatte eine eigene Wohnung... Trotzdem, manchmal vermisste sie die guten alten Zeiten. Kaum noch vorstellbar, dass man in ihrer Jugend einfach losgehen konnte und in aller Öffentlichkeit etwas trinken durfte. Entschlossen stand Martha auf und ging in ihr Schlafzimmer. Sie kniete sich vor ihren Schreibtisch, zog die untere Schublade heraus und hielt sie über ihren Kopf. Tatsächlich, es war noch da. Sie löste den Tesafilm und nahm das silberne Etui in die Hand. Sie öffnete es. Alle noch da. Sie ließ die Dose in ihre Tasche gleiten und schwankte ein wenig als sie aufstand. Den Mantel eng um sich geschnallt trat sie auf den Balkon. Zu riskant. In der Nebenwohnung brannte noch Licht und leise Musik drang an ihr Ohr. Wenn sie erwischt werden würde, konne sie fristlos gekündigt werden. Es war zwar nicht illegal, aber in ihrem Mietvertrag stand eine entsprechende Klausel. Wo sollte sie nur hin? Auf der Straße ging nicht. Wenn sie von einem Ordnugsbeamten erwischt werden würde, hätte das eine Strafe von etwa einem Monatsgehalt zur Folge. Zumal es noch nicht acht Uhr war und noch Kinder auf der Straße waren. Ab 21 uhr war das Strafgeld nicht mehr so hoch, aber immer noch saftig. Ausserdem konnte sie zufällig von einem Bekannten gesehen werden.Und was das zur Folge hätte mochte sie sich gar nicht vorstellen. Die einzige Möglichkeit bestand darin, einen der Bunker aufzusuchen. Es gab fünf davon in der Stadt. Sie war noch nie da gewesen. Martha wischte sich ihre feuchten Hände an ihrer eng anliegenden Hose ab. Ach zum Teufel nochmal, warum eigentlich nicht? Sie hatte schon lange nichts Aufregendes mehr gemacht.
Sie zog sich wärmere Sachen an und machte sich auf den Weg. Mit der Straßenbahn fuhr sie in die Petersenstraße und musste dann noch ein kleines Stück zu Fuß gehen. Ein Blick auf ihre goldenen Armbanduhr verriet ihr, dass es halb neun war. Zumindestens würden um diese Zeit keine Schulklassen oder Kindergärten vor dem Gebäude demonstrieren.
Mit mehr Erleichterung als sie sich eingestehen mochte, registrierte sie, dass ihre Vermutung richtig war. Es war wirklich nicht mehr viel los. Lediglich eine handvoll Menschen stand vor dem Gebäude. Sie verteilten Handzettel und hielten Transparente hoch. Martha erblickte ein Plakat mit einer hustenden Erde darauf. "Ihr nehmt den Kindern ihr Zuhause" stand darauf. Lächerlich. Aus dem Augenwinkel registrierte Martha eine Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm.
"Da guck, da ist so eine", machte die Mutter ihre Tochter auf Martha aufmerksam.
"Die sieht ja ganz normal aus"
"Ja leider, man sieht es ihnen nicht an."
Martha schluckte ihren Ärger hinunter und verkniff sich eine Bemerkung, warum die Frau um diese Zeit noch mit ihrem Kind unterwegs war.
Erleichtert die vorwurfsvollen Blicke nicht mehr im Rücken zu haben, schloss sie die Tür hinter sich. Sie fand sich in einer Art Empfangsraum wieder. Hinter einer Glasscheibe saß ein älterer Herr und sah sie an. Untentschlossen, wie das ganze hier eigentlich ablaufen sollte, ging sie auf ihn zu.
"Guten Abend."
"Guten Abend, ihren Ausweis bitte."
Martha holte den Ausweis aus ihrer Handtasche und schob ihn unter der Glasscheibe durch. Der Mann zog ihn durch einen Scanner und las die Daten vom Bildschirm ab. Dann legte er ihn vor sich auf den Tisch und tippte ihre Registrierung in seinen Computer.
"Ihnen ist klar, dass sie nach dem fünfzigsten Besuch einen entsprechenden Eintrag in ihren Personalausweis bekommen?"
"Ja"
Martha schluckte. Das hatte sie völlig vergessen. Aber schließlich hatte sie nicht vor öfter hier her zu kommen. Ein Eintrag konnte eine Kündigung zur Folge haben. Genau wie in ihrem Mietvertrag verfügte auch ihr Arbeitvertrag über eine bestimmte Klausel. Der Mann hinter der Scheibe räusperte sich und gab ihr ihren Ausweis zurück.
"Jetzt nehmen sie bitte noch einen Augenblick im Warteraum Platz und nehmen sie sich die Zeit, die Informationsbroschüre zu lesen. Und bitte", eindringlich sah er ihr in die Augen "sie können jederzeit wieder umkehren."
Martha wandte ihm den Rücken zu und ging in den Warteraum. Sie setzte sich auf die Holzbank und nahm eines der zahlreichen Heftchen, die auf dem Tisch verteilt lagen zur Hand. Ein Artikel zu Gesundheitsrisiken, mit zahlreichen ekelerregenden Bildern untermalt, überzeugten sie fast wieder nach Hause zu gehen. Aber jetzt war sie schon so weit gekommen... Sie schloss das Heft. Auf der Rückseite standen Adressen von verschiedenen Einrichtungen nd Selbsthilfegruppen. "Zurück zum Leben", "Sag ja zu gesunder Luft", "Mach dich nicht kaputt"... Martha schmiss die Broschüre zurück auf den Tisch. Ein schriller Glockenton ertönte und eine kühle Frauenstimme erklang aus einem Lautsprecher. "Sie können jetzt reingehen."
Martha erhob sich und betrat einen angrenzenden hallenartigen Raum. Sie war die einzige. Irgendwann hatte sie mal eine Reportage gesehen, durch die sie erfuhr, dass sie immer nur höchstens zwei rein ließen. Man sollte denken, man sei der einzige. Martha würde sich von solch billigen Tricks nicht reinlegen lassen. Sie sah sich um. Keine Fenster, keine Farben, alles war grau in grau. Das einzige Geräusch, das sie vernahm war das der Lüftung. Sitzgelegenheiten gab es ebenfalls nicht. Sie ging in die Mitte des Raumes zum dort aufgestellten Aschenbecher und zog das Etui aus ihrer Tasche. Sie achtete darauf mir dem Rücken zu dem großen Plakat zu stehen, das an einer Wand angebracht war. Sie wollte nicht das Bild einer überdimensionalen Raucherlunge sehen, während sie ihre erste Zigarette nach 13 Jahren rauchte.