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20 Minuten
Er saß allein in seinem Arbeitszimmer vor dem PC und gab seine Besuchsberichte und Reisekostenabrechnungen ein. Es war still im Haus. Er tippte, der Sohn sah in seinem Zimmer fern, die Frau bereitete in der Küche das Abendbrot. Das sollte es in 20 Minuten geben, bis dahin wollte er fertig sein. Freitagabend, seine letzten Tätigkeiten vor dem Start ins Wochenende. Schlimm genug, dass er durch seine Arbeit in der Woche so gut wie nie zu hause war. Das Wochenende war ihm heilig, das gehörte seiner Frau und seinem Kind, der kleinen Welt, die er liebte. Es startete Freitagabend mit dem gemeinsamen Abendessen und so beeilte er sich.
Was war das? So ein Mist! Die Datei war weg. Was hatte er getan? Beendet, nicht gespeichert? Aber dann kommt doch eine Warnung. Er suchte im Verzeichnis, im Papierkorb... Nichts da.
Wiederherstellen.
Das Worddokument, das mit dem Wiederherstellen aufpoppte, war nicht sein Bericht. Er starrte ein paar Sekunden auf die Zeilen, bevor er begriff, was er da per Zufall gefunden hatte. Es war ein Brief.
es war schön, dass wir zwei wieder Zeit füreinander hatten. Ich habe die Stunden genossen. Es ist so schön mit Dir. Aber Du kennst auch meine Gedanken, meine Sorgen. Ich wollte nicht Deine und meine Ehe aufs Spiel setzen, das war nicht meine Absicht. Das musst Du mir glauben, das wollte ich wirklich nicht, so tief meine Gefühle für Dich auch sind.
Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Wie war das möglich? Das konnte doch nicht sein! Er liebte doch seine Frau und sie ihn. 18 Jahre waren sie nun schon zusammen. Vor 15 Jahren, als der Kleine kam, haben sie geheiratet. Sie haben doch immer über alles gesprochen. Nein, das kann nicht sein!
Ja, Sex und der Austausch Zärtlichkeiten hatten nachgelassen im Laufe der Jahre. Er hatte dies zur Sprache gebracht. Ja und er hatte sich gefreut, als es in den letzten Wochen wieder intensiver wurde, einfach wieder mehr Intimitäten stattfanden. 'Ich möchte nicht, dass er mich anfasst und ich es nur ertrage, indem ich an Dich denke.' Auf die Idee, dass seine Frau dabei an einen anderen denkt und es nur so geht, wäre er nicht gekommen. Er schluckte bitter.
Er wandte den Kopf von dem Brief. Die Starre, die ihn beim Lesen überfallen hatte, wich einer tiefen Verzweiflung, einem namenlosen Entsetzen. Er sah seine Welt einstürzen wie ein Kartenhaus. Nichts war so, wie es schien. Er war sich doch immer so sicher gewesen. Sie waren doch so vertraut! Er hatte nichts gemerkt. Und trotz seiner Verzweiflung nahm er die ihre, die aus ihren Worten sprach, sehr wohl wahr. Wie auch immer das hatte passieren können, auch sie wollte und konnte ihn, die Familie, nicht einfach aufgeben. 'Und andererseits möchte ich meine zwei Männer doch nicht verlieren.' Er hatte sie vor Augen, wie sie lächelnd ‚Meine zwei Männer’ sagte, wenn sie von ihm und dem Sohn sprach. Sie mussten jetzt reden, reden... Alles klären. Schlimm genug, dass sie es vorher nicht getan hatten, die Entfremdung mit diesen Konsequenzen möglich geworden war; er nichts bemerkt und sie nichts gesagt hatte. Ja, er würde kämpfen um das was er liebte... seine Frau, seine Familie. Das würde er tun.
Zuversicht und Kampfgeist verließen ihn genauso plötzlich, wie sie gekommen waren und wichen wieder quälenden Gedanken. Wie hatte dies nur passieren können? Warum hatte er nichts gemerkt? Wie lange ging das ganze schon? Warum hatte sie das getan? Warum nur? Was war falsch gelaufen? Was nur? Er starrte auf den Brief und sah nur noch Scherben. Seine Welt, ein einziger Scherbenhaufen, alles kaputt. Unfassbar. Die Stille im Haus erschien ihm dröhnend laut, die Gedanken drehten sich im Kreis, sein Kopf schien zu zerplatzen. Eine Welle heftiger Verzweiflung überspülte ihn erneut und ließ ihn schluchzend die Hände vor das Gesicht schlagen, genau in dem Moment, in dem der freundliche Ruf 'Abendbrot!!' das Haus erschütterte.