Was ist neu

1993, in einer Nacht im April

Mitglied
Beitritt
08.07.2015
Beiträge
4
Zuletzt bearbeitet:

1993, in einer Nacht im April

23.55 Uhr: Nach längerem Halt in Köln ist der Zug endlich wieder losgefahren. Das sanfte Ruckeln des Wagens und das gleichmäßige, langsam schneller werdende, Klopfen der Schwellen lassen meine Lider schwer werden und meinen müden Körper tief in das rote Polster des Sitzes sinken. Mein Kopf kippt auf die Scheibe des Gangfensters zu, wo er sanft auf dem rauen Stoff des Vorhangs zu liegen kommt. Aus den Kopfhörern meines Walkmans jault melancholisch Bob Dylans Mundharmonika. „Blood on the tracks“, der Soundtrack zu meiner vierwöchigen Rucksackreise durch Südeuropa - der ersten Reise, zu der ich ganz alleine aufgebrochen bin. Und deren letzte Tage ich nur mühsam mit Hilfe eines in einer portugiesischen Apotheke rezeptfrei erworbenen Antibiotikums durchgestanden habe. Nach einer Zugfahrt quer durch die iberische Halbinsel und einem verspäteten Flug von Barcelona nach Düsseldorf werde ich in wenigen Stunden endlich erschöpft in mein Bett in Heidelberg sinken. Ein wenig schlafen kann ich zum Glück schon hier im Zug.

0.05 Uhr: Gerade weben sich die ersten Traumfäden in mein Bewusstsein ein, als sich die Tür zu meinem Abteil öffnet.

„Hier noch jemand zugestiegen?“

Meine beiden Mitreisenden fühlen sich nicht angesprochen. Die Frau undefinierbaren Alters, die sie sich auf ihrem Fensterplatz eingekauert hat, setzt unbeirrt ihr leises Schnarchen fort. Mir schräg gegenüber öffnet ein schlaksiger junger Mann mit kurzen schwarzen Haaren seine Augen nur zu zwei Dritteln. Schaut den Schaffner einige Sekunden lang mit leerem Blick an und döst weiter. Anscheinend bin ich die einzige, die sich noch ausweisen muss. Einige hektisch aufgerissene Reißverschlüsse und durchwühlte Rucksacktaschen später kann ich meinen zerknitterten Fahrschein präsentieren. Der Schaffner will gerade sein Knipsgerät zum Einsatz bringen, da stutzt er:

„Sie wollen nach Heidelberg?“

„Ja, wieso?“

„Weil Sie dann falsch sind in diesem Zug - der fährt nämlich nach Wien“.

„Was? Aber auf der Anzeige im Bahnhof stand doch, dass er über Heidelberg fährt! Nach Wien, über Heidelberg und München!“

„So ganz stimmt das leider nicht. Der Zug ist in Köln geteilt worden und ein Teil des Zuges ist Richtung Heidelberg und München gefahren. Sie sitzen aber im Kurswagen nach Wien, und der hält ganz sicher nicht in Heidelberg. Das stand aber bestimmt auf der Anzeigetafel. Und an jedem einzelnen Wagen hängt auch noch mal ein Schild.

Ich seufze: „Ja, das kann schon sein. Es war ziemlich hektisch vorhin, ich war spät dran und hab den Zug in Düsseldorf grad noch so erwischt.“

Anstatt der Hysterie, die mich sonst in solchen Situationen erfasst, macht sich ein angenehm träger Fatalismus breit, vermutlich eine Folge des Schlafentzug oder des zu hoch dosierten Antibiotikums. „ Dann steige ich eben an der nächsten Station aus und sehe zu, dass ich einen Zug in die richtige Richtung erwische. Notfalls fahre ich zurück nach Köln und schaue von dort aus weiter“.

„Also der nächste Halt dieses Zuges ist Würzburg, da sind wir um 3.30 Uhr.“

„Was? Wenn man schnell ankommen will, halten die Züge an jedem Kuhdorf, und jetzt kommt die nächste Station erst in mehr als drei Stunden?“

„Ist halt ein Nachtexpress“. Für einen kurzen Moment zucken die Mundwinkel des rundlichen Schaffners nach oben, dann wird er sich wieder des Ernstes der Lage bewusst. Als er sich mir gegenüber hingesetzt hat und in seinem dicken Kursbuch blättert, bemerke ich, dass der junge Mann mit den schwarzen Haaren aus seiner Lethargie erwacht ist und unsere Diskussion mit abenteuerlustig blitzenden Augen verfolgt. Kurze Zeit später ist er schon in die Rolle des engagierten Umsteigeberaters geschlüpft. Wie ein eingespieltes Team beugen wir uns zu dritt über das Kursbuch und diskutieren über Wartezeiten in Würzburg, Anschlusszüge in Aschaffenburg und Nahverkehrszüge nach Neckarsulm. Wir einigen uns schließlich auf einen Umweg über Frankfurt und der nette Schaffner kritzelt noch etwas auf mein Ticket, das mir zusätzliche Kosten auf meiner bevorstehenden Odyssee ersparen soll.

0.30 Uhr: Nachdem sich der Schaffner verabschiedet hat, muss ich daran denken, wie ich als alleinreisendes Kind die roten Sitze in eine große Liegefläche für meine 20 Stofftiere verwandelt habe. So zaubere ich auch jetzt für meinem Mitreisenden und mich ein rot gepolstertes Doppelbett. Die Frau am Fenster befindet sich noch immer im Tiefschlaf und muss daher sitzen bleiben.

0.40 Uhr: Das Licht ist gelöscht, geschlafen wird nicht. Der Mann auf der Nachbarliege zeigt sich beeindruckt von meinen Reisen mit den Stofftieren, ich mich fasziniert von seiner Kindheit, die er pendelnd zwischen dem Vater in Marokko und der Mutter in Frankreich verbracht hat. Auch ich bin ja eine Zeit lang zwischen zwei Haushalten gependelt - die allerdings nur 500 Meter voneinander entfernt waren. Er lacht. Liegt lässig da, seinen Kopf auf die linke Hand gestützt, die rechte spielt entspannt mit den Gurten seines Rucksacks. Weitere Parallelen werden entdeckt, Erfahrungen geteilt, Erkenntnisse bestaunt. Themen schwirren zwischen uns her wie Glühwürmchen am Ende eines heißen Sommertages: die Zerrissenheit zwischen den Kulturen, die Abenteuerlust und die Einsamkeit auf Reisen. Enttäuschungen der Vergangenheit und Hoffnungen für die Zukunft.

2.10 Uhr: Die Vernunft sagt mir, dass ich vor dem Halt in Würzburg noch mal schlafen muss. „Gute Nacht“, wünsche ich dem Mann, den ich vor zwei Stunden noch nicht kannte und der jetzt schon so viel über mir weiß. „Weck mich, bevor Du aussteigst“, sagt er und schaut mich an.

2.15 Uhr: Im Zug ist es ruhig, aber ich bin es nicht. Plötzlich ist er da: der Drang, die Hand mit den schmalen Fingern zu berühren, die zehn Zentimeter von meiner entfernt auf dem Polster liegt. Aber das geht natürlich nicht. Männern gegenüber bin ich vorsichtig und zurückhaltend. Das ist gut so und soll auch so bleiben. Diesen Menschen neben mir kenne ich erst seit zwei Stunden und er ist auch gar nicht mein Typ. Das hätte ich bestimmt bemerkt, als das Licht noch an war, doch da ist mir nur sein seltsam gemustertes Hemd aufgefallen. In der Dunkelheit kann ich erkennen, dass er wenig gemeinsam hat mit den blonden Hünen, die mir sonst so gut gefallen. Aber das ist ohnehin egal, denn er hat inzwischen die Augen geschlossen und ist bestimmt schon eingeschlafen.

2.18 Uhr: Genau gleichzeitig legen unsere Hände die entscheidenden Zentimeter zurück. Wenig später tun es ihnen unsere Münder gleich. Die Gedanken, die sonst so unermüdlich kreisen, sind irgendwo in Hessen aus dem Fenster geflogen und haben es sich auf einer Oberleitung bequem gemacht. Leises Flüstern, verwundertes Kichern. Zarte Berührungen an meinen Fingern, warmer Atem an meinem Hals, eine Hand auf meiner Schulter. Überrascht stelle ich fest, dass man entspannt und aufgeregt zu gleichen Zeit sein kann.

3.20 Uhr: Sein Kopf liegt auf meiner Burst, Harre kitzeln mein Kinn. Sein gleichmäßiger Atem erinnert mich an das Rauschen des Meeres in Lagos.

3.25 Uhr: Energische Schritte nähern sich unserem Abteil. Ich kann gerade noch rechtzeitig ein Stück zur Seite rutschen, als sich die Tür mit einem Ruck öffnet.

„Ich wollte nur Bescheid sagen – in 10 Minuten sind wir in Würzburg.“

„Okay, danke für die Info.“

„Gern geschehen, gute Reise noch.“

Hektisch fange ich an, meine Sachen zu packen. Es gibt nicht viel zu tun, eigentlich muss nur ein Pulli in den Rucksack gestopft werden, doch ich tue so, als ob wichtige Dinge gesucht und sortiert werden müssten. Will am liebsten wortlos aus dem Abteil verschwinden, Peinlichkeit vermeiden. Eine Hand zieht mich hinunter, ein letzter Blick.

„Gut dass Du aussteigst, sonst würde ich mich noch in dich verlieben.“

„Also dann Tschüss“, ist alles, was mir dazu einfällt. Ich öffne die Abteiltür, draußen bin ich.

3.35 Uhr: Der Bahnsteig ist menschenleer. An meinen Rucksack gelehnt atme ich die kühle Nachtluft ein. Bob Dylan singt “Try imagining a place where it’s always safe and warm - ‚come in‘, she said, ‚I’ll give you shelter from the storm‘“.
Mir fällt auf, dass wir einander noch nicht einmal unsere Namen genannt haben.

3.50 Uhr: Mit einem Druck auf die Stop-Taste wird Bob Dylan zum Schweigen gebracht. Ich stehe auf und mache mich auf den Weg zu Gleis 4. Ich muss heute Nacht noch zwei Züge erwischen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Luzia,

und herzlich Willkommen hier bei den Wortkriegern :).

Dafür, dass du eine Schreibanfängerin bist, ist das hier ein passabler Einstand. Erfreulich auch die gute Rechtschreibung - was leider nicht mehr alltäglich ist.

Erst störten mich die Zeitangaben, dann aber mit weiterem Lesen bekamen sie eine nachvollziehbare Funktion.
Was ich vermisse, sind ein-zwei Absätze zwischen 2:18 und 3:20 Uhr :D

Deine Erzählsprache war mir in einigen Abschnitten zu berichtend, besonders, wenn es um den jungen Mann ging. Da picke ich dir u.a. dazu was raus.


Die Frau undefinierbaren Alters, die sie sich auf ihrem Fensterplatz in embryonaler Haltung eingerollt und ihr Gesicht unter einer Kapuze verborgen hat, setzt unbeirrt ihr leises Schnarchen fort.
Den Satz finde ich von der Länge her grenzwertig. Auch passt mir die embryonale Haltung von der Wortwahl nicht so recht. Das wirkt so wissenschaftlich, so trocken. Zusammengerollt, zusammengekauert würde mir besser gefallen. Dann würde ich unter einer Kapuze verborgen rausschmeißen, dann fließt er Satz viel besser. Die Kapuze ist doch nicht wichtig.

Die Frau undefinierbaren Alters, die sie sich auf ihrem Fensterplatz zusammengekauert hat, setzt unbeirrt ihr leises Schnarchen fort.

Lies mal beide Sätze (dein Original und mein Gekürzter) laut vor. Und?

„Sie wollen nach Heidelberg?“

„Ja klar, steht doch so auf meiner Fahrtkarte, oder?“


Ich finde die Antwort etwas zu "frech". Wenn mir das passieren würde, wäre wohl meine Reaktion eher aufhorchend, schon etwas Ungutes ahnend:
Ja, wieso?

„Hmm, Ihr Ticket fährt vielleicht nach Heidelberg, dieser Zug aber nicht. Der fährt nach Wien“.
ich kenne kein Ticket , das fahren kann :lol:


Nachdem sich der Schaffner verabschiedet hat, muss ich daran denken, wie ich als alleinreisendes Kind die roten Sitze in eine große Liegefläche für meine 20 Stofftiere verwandelt habe. So zaubere ich auch jetzt für meinem Mitreisenden und mich ein rot gepolstertes Doppelbett.
Mir wurde nicht klar, ob die Protagonistin aktuell auch die Stofftiere dabei hat. Das so lässt die Vermutung aufkommen. / meinen Mitreisenden

Die Frau am Fenster befindet sich noch immer im Tiefschlaf und muss daher sitzen bleiben.
Die sitzt doch nicht, die kauert doch.

Das Licht ist gelöscht, geschlafen wird nicht. Der Mann auf der Nachbarliege zeigt sich beeindruckt von meinen Reisen mit den Stofftieren, ich mich fasziniert von seiner Kindheit, die er pendelnd zwischen dem Vater in Marokko und der Mutter in Frankreich verbracht hat. Auch ich bin ja eine Zeit lang zwischen zwei Haushalten gependelt - die allerdings nur 500 Meter voneinander entfernt waren.
Das ist ein schwacher Absatz, viel zu erzählend, viel zu wenig Emotionen. Da muss wörtliche Rede rein, irgendwelche kleinen Andeutungen, dass die Chemie gut passt. Es muss ja kein Riesendialog sein, aber wenigstens ein Detail sollte mehr ausgebreitet werden, damit man das Knistern spürt.

Er lacht. Liegt lässig da, seinen Kopf auf die linke Hand gestützt, die rechte spielt entspannt mit den Gurten seines Rucksacks.
Hier ist mal ein Satz, der in die von mir gewünschte Richtung geht.

Doch dann geht es wieder so distanziert weiter:

Weitere Parallelen werden entdeckt, Erfahrungen geteilt, Erkenntnisse bestaunt. Themen schwirren zwischen uns her wie Glühwürmchen am Ende eines heißen Sommertages: die Zerrissenheit zwischen den Kulturen, die Abenteuerlust und die Einsamkeit auf Reisen. Enttäuschungen der Vergangenheit und Hoffnungen für die Zukunft.

Die Vernunft sagt mir, dass ich vor dem Halt in Würzburg noch mal schlafen muss. „Gute Nacht“, wünsche ich dem Mann, den ich vor zwei Stunden noch nicht kannte und der jetzt schon so viel über mir weiß. „Weck mich, bevor Du aussteigst“, sagt er und schaut mich an.
Mann ist mir hier auch zu pauschal. Sympathischer Kerl oder dergleichen würde ich besser finden.


Plötzlich ist er da: der Drang, die Hand mit den schmalen Fingern zu berühren, die zehn Zentimeter von meiner entfernt auf dem Polster liegt.
Das gefällt mir.


2.18 Uhr: Genau gleichzeitig legen unsere Hände die entscheidenden Zentimeter zurück. Wenig später tun es ihnen unsere Münder gleich. Die Gedanken, die sonst so unermüdlich kreisen, sind irgendwo in Hessen aus dem Fenster geflogen und haben es sich auf einer Oberleitung bequem gemacht. Leises Flüstern, verwundertes Kichern. Zarte Berührungen an meinen Fingern, warmer Atem an meinem Hals, eine Hand auf meiner Schulter. Überrascht stelle ich fest, dass man entspannt und aufgeregt zu gleichen Zeit sein kann.

3.20 Uhr: Sein Kopf liegt auf meiner Burst, Harre kitzeln mein Kinn. Sein gleichmäßiger Atem erinnert mich an das Rauschen des Meeres in Lagos.


Eigentlich finde ich das schön beschrieben, aber doch fehlt mir die Nähe zu den zweien. So ein paar Dialoge würde das ganze viel interessanter, emotionaler machen. Komm, du kannst das. Leg mal nach.

Mir fällt auf, dass wir einander noch nicht einmal unsere Namen genannt haben.

Diesen Satz, Luzia, den würde ich unbedingt als letzten nehmen.


Ich habe die Geschichte sehr gerne gelesen und fand einige Formulierungen sehr passend und, ja, auch schön.

So Ein-Nacht-Geschichten sind bittersüß - tröstlich, dass es nicht ihr Traumboy war, sonst hätte sie vielleicht noch zwanzig Jahre danach darüber sinniert, wieso sie seine Telefonnummer Adresse (ist ja 22 Jahre her) nicht wollte.

Aber generell: Wieso ist das Jahr wichtig? Wegen Bob Dylan, damit der Bezug stimmt?

Ich freue mich auf mehr von dir.

Liebe Grüße
bernadette

 

Liebe Bernadette,

vielen Dank für Dein ausführliches Feedback. Ich habe jetzt erst mal nur zwei Kleinigkeiten geändert: bei der Frau mit der embryonalen Haltung habe ich Deinen Satz 1:1 übernommen, da er mir tatsächlich besser gefallen hat. Meine Antwort an den Schaffner habe ich auch weniger patzig (genau wie von Dir vorgeschlagen) gestaltet. Für mehr Änderungen fehlen mit heute Nacht Zeit und Energie, aber ich werde darauf zurückkommen!


ich kenne kein Ticket , das fahren kann :lol:

Ja, das war mit auch beim Schreiben schon klar ;-) Sollte ein Wortspiel des Schaffners sein, aber vielleicht ist es nicht ganz so gelungen.

Das ist ein schwacher Absatz, viel zu erzählend, viel zu wenig Emotionen. Da muss wörtliche Rede rein, irgendwelche kleinen Andeutungen, dass die Chemie gut passt. Es muss ja kein Riesendialog sein, aber wenigstens ein Detail sollte mehr ausgebreitet werden, damit man das Knistern spürt.

Werde bei Gelegenheit versuchen, das ausführlicher zu gestalten und wörtliche Rede mit reinzunehmen. Mit den stärkeren Emotionen (also dem weniger "erzählenden") tue ich mich ein bisschen schwer. Ich habe immer große Angst davor, dass es dann zu kitschig wird. Mein Ziel ist es eigentlich, dass der Leser die Emotionen "zwischen den Zeilen" lesen kann und dass dafür nicht so viele Worte nötig sind. Anscheinend ist mir das noch nicht so ganz gelungen ;-) Ich denk mal drüber nach...

Eigentlich finde ich das schön beschrieben, aber doch fehlt mir die Nähe zu den zweien. So ein paar Dialoge würde das ganze viel interessanter, emotionaler machen. Komm, du kannst das. Leg mal nach.

Wie gesagt, ich werd' s versuchen. Ganz ablegen werde ich meinen eher nüchternen Stil aber wohl nicht (will ich vielleicht auch gar nicht...)

Diesen Satz, Luzia, den würde ich unbedingt als letzten nehmen.

Hmm darüber muss ich auch noch nachdenken. Mit meinem letzten Absatz (als die Proatagonisten energisch den Walkman mit dem sehnsüchtigen Lied ausschaltet) wollte ich ja ausdrücken, dass sie sehr wohl Bedauern darüber empfindet, dass sie keine Telefonnummer von dem Mann hat.

Ich habe die Geschichte sehr gerne gelesen und fand einige Formulierungen sehr passend und, ja, auch schön.

So Ein-Nacht-Geschichten sind bittersüß - tröstlich, dass es nicht ihr Traumboy war, sonst hätte sie vielleicht noch zwanzig Jahre danach darüber sinniert, wieso sie seine Telefonnummer Adresse (ist ja 22 Jahre her) nicht wollte.

Wenn das so rübergekommen ist, müssen wohl doch noch ein paar mehr Emotionen rein... Denn ich wollte eigentlich sehr wohl rüberbringen, dass sie ihren überstürzten Abschied schon kurze Zeit später bedauert. Ich wollte andeuten, dass einen auch jemand, der zunächst gar nicht nach Traumtyp aussieht, sehr berühren kann. Und vielleicht sogar besser zu einem passen kann als jemand, der zu 100% dem Beuteschema entspricht. Und was das "20 Jahre später darüber sinnieren" betrifft: die Geschichte ist ja schon ein wenig autobiografisch angehaucht (auch wenn es sich natürlich nicht 1:1 so abgespielt hat) - warum, denkst Du, nutze ich ein solches Erlebnis nach so langer Zeit als Inspiration für eine Geschichte?

Aber generell: Wieso ist das Jahr wichtig? Wegen Bob Dylan, damit der Bezug stimmt?

Mit der Zeitangabe im Titel bin ich auch nicht so zufrieden. Hat wenig mit Bob Dylan zu tun (das Album war 1993 schon fast 20 Jahre alt). Aber ich dachte, es würde sonst komisch wirken, wenn in meiner Geschichte ein Walkman, die roten ausziehbaren Ledersitze und das dicke Kursbuch vorkommen. Das gibt es ja heute so nicht mehr.

Ich freue mich auf mehr von dir.

Wird kommen!

Liebe Grüße zurück,

Luzia

 

Hallo Luzia,

"kitschig" und "weniger erzählend" sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Beim einen geht es um den Schreibstil, beim anderen darum, Handlungen und Dialoge zu verwenden, anstatt nur aus dem Blickwinkel des Erzählers zu beschreiben, was geschieht.

Du benötigst keine blumige Sprache, um mehr Emotionen in deinen Text zu bekommen. Im Gegenteil, würde ich sogar mittlerweile sagen. Das Lesen und die Beschäftigungen mit den Geschichten von jimmysalaryman hier im Forum haben mir diesbezüglich die Augen geöffnet. Jimmy verwendet einen wahnsinnig "verknappten" Stil, wie ich es ausdrücke. Da ist kein Wort zu viel, du findest kaum ein Adjektiv oder Füllwort, seine Sätze sind meist kurz und prägnant, manchmal geradezu stakkatoartig. Das ist die reine Essenz der Geschichte. Dabei entsteht eine sehr dichte Atmosphäre, ich werde regelrecht in die Story hineingesaugt. Mich hat das fasziniert, deswegen habe ich mich eingehender mit diesem Phänomen befasst, mir Literaturtipps von Jimmy geben lassen und viele andere Geschichte unter diesem Aspekt betrachtet.

Jimmy schreibt sehr szenisch und arbeitet viel mit Dialogen. Dadurch entsteht eine große Nähe zu den Figuren, man erlebt und fühlt mit ihnen. Der knappe Stil kommt dazu und verdichtet alles sehr stark.

Natürlich kann man auch mit anderen Stilen Atmosphäre schaffen, mir selbst liegt dieses "nackige" Schreiben zum Beispiel nicht. Aber wenn ich Texte lese, die sehr blumig geschrieben sind, mit vielen Adjektiven und Füllwörtern, verschwurbelten Formulierungen, langen Schachtelsätzen, mal so als Extrembeispiel, dann merke ich jetzt, wie alles, ja, verwässert wird. Mit wenigen bewusst eingesetzten Adjektiven erreicht man z. B. wesentlich mehr, als wenn man diese großzügig über den Text verteilt.
Nun achte ich sehr darauf, alles Unnötige bei mir zu streichen, auch wenn ich damit längst nicht so weit gehe wie Jimmy, und meine Texte gewinnen dadurch enorm, wie ich finde.

Aus diesem Grund finde ich deinen eher nüchternen Stil sehr angenehm und finde nicht, dass du den ändern solltest. Stattdessen könntest du dir mal das Prinzip "Show, don't tell" ansehen. Du findest dazu reichlich Material im Internet. Reines Beschreiben ist durchaus legitim, aber man sollte schauen, wo es sinnvoll eingesetzt ist, und wo man besser szenisch schreibt und mit Dialogen arbeitet. Gerade wenn Emotionen entstehen sollen, ist das gut mit Dialogen und szenischem Beschreiben zu erreichen. Der Stil kann dabei durchaus sachlich bleiben.

Ich hoffe, du kannst hiermit etwas anfangen, jetzt bin ich endlich müde und gehe erst mal schlafen.

Gute Nacht! :)
raven

 

Liebe Raven,

danke, das hilft mir in Kombination mit Bernadettes Kommentar sehr weiter. "Mehr Handlungen und Dialoge anstatt nur aus dem Blickwinkel des Erzählers zu schreiben" bringt es für mich auf den Punkt.

Werde mich unter diesem Vorzeichen am Wochenende noch mal an die Geschichte setzen und auch die Beiträge des von Dir empfohlenen Jimmy unter die Lupe nehmen.

Liebe Grüße
Luzia

 

Hola Luzia,

nach zwei sehr qualifizierten Kommentaren zu Deinem Text möchte ich Dir nur sagen, dass noch mehr Leute auf Deine nächste Geschichte warten - ich, zum Beispiel. Dein Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Der hat etwas - mit feinem Humor und guter Beobachtung - was das Lesen sehr angenehm macht.
Und wenn Du sagst,

... , dass ich eine blutige Schreibanfängerin bin.
dann gratuliere ich Dir zu Deinem Talent.

José

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom