Mitglied
- Beitritt
- 10.09.2003
- Beiträge
- 10
1947
Ich war neun als es geschah, aber ich sehe es heute noch genauso vor mir, als wäre es gestern passiert, und das, obwohl das Ganze bereits über 20 Jahre zurück liegt. Ich erinnere mich nicht gerne an die Geschehnisse von damals, das würde niemand gern tun, und ich habe diese Geschichte auch noch niemandem erzählt, aber der Druck ist nun zu groß geworden, ich drohe, an meinem Kummer zu zerbrechen, deshalb greife ich zu Block und Bleistift, und beginne, meine Erlebnisse aus dem Sommer 1947 niederzuschreiben.
Es war der 21.8.1947. Der Sommer war astrologisch gesehen schon fast vorbei, aber dennoch waren es in jener speziellen Nacht 33 Grad. Das alles weiß ich noch aus dem Gedächtnis, ich bräuchte nicht nachzugucken, selbst wenn ich wüsste, wo das möglich wäre.
Zwei Tage vorher war das legendäre angebliche U.F.O. in Roswell abgestürzt. Die Zeitungen waren voll mit Berichten von dem untertassenförmigen Flugobjekt, das in der Wüste von Nevada heruntergekommen war. Ich war damals neun und wusste nicht, was ich von den Artikeln halten sollte, die sich zugegebenermaßen sehr wiedersprachen, aber dafür hatten meine Eltern beide ihre Meinungen, die jedoch, wie zu der Zeit fast alle Meinungen der zwei, verschieden waren.
„Wenn tatsächlich nur ein Wetterballon abgestürzt ist, wie die Army behauptet ...“, pflegte mein Vater damals zu sagen, „ ... wieso waren dann 19, neunzehn, große Transportflugzeuge nötig, um die Wrackteile abzutransportieren?“
„Weil der Ballon mit streng geheimem Spionagematerial ausgerüstet war“, konterte meine Mommy dann für gewöhnlich.
„Pah“, antwortete Dad darauf immer und ein neuer Streit war zwischen meinen Eltern entbrannt.
Wie ich bereits erwähnte, waren es damals 33 Grad, deshalb konnte ich nicht gut einschlafen. Die Geschehnisse von damals machten mir auch ganz schön zu schaffen, stellte ich im Endeffekt fest. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu der unheimlichen Sache in Roswell. War das Wrack wirklich ein Raumschiff aus einer anderen Galaxis gewesen? Wenn ja, was war dann aus den Piloten geworden? Waren sie mit einer Art Fallschirm abgesprungen, bevor ihr Schiff in die Erdatmosphäre eintrat? Oder war die Air Force jetzt im Besitz von einem oder zwei grünen Aliens? Waren die Außerirdischen in friedlicher Absicht gekommen oder wollten sie für irgendeinen fetten, glibberigen Alien-König die Erde erobern, wie in den Science-Fiction-Filmen, die ich mit meinem Dad jeden Freitag Nachmittag für 15 Cent pro Nase im Jugend-Kino von Rocktown, der Gemeinde in der wir damals lebten, ansahen?
Während ich mir diese und ähnliche Fragen stellte, verrann Sekunde um Sekunde, Minute um Minute. Ich verfluchte diese Minuten, denn ich wollte nichts anderes, als einfach nur schlafen. Doch hätte ich gewusst, dass diese Minuten, die ich so hasste, die letzten waren, in denen ich jemals ein normales Leben führen würde, hätte ich sie genossen. Ich hätte es genossen, wie sie so langsam und schwerfällig vergingen und ich hätte es auch genossen, wach im Bett zu liegen und noch keine Ahnung von der grausamen Wahrheit zu haben, welche mich doch schon so bald so schnell einholen würde.
Ich lag um 0 Uhr wach im Bett und machte mir Sorgen um die Piloten des Roswell-U.F.O.s. Hätte ich gewusst, dass eben diese Wesen um 0 Uhr 23 mein ganzes bisheriges Leben vollkommen auf den Kopf stellen würden, hätte ich gehofft, dass der Schleudersitz in dem verdammten Ding versagt hatte, und dass die Kerle beim Aufprall auf die Erdoberfläche in 1000 kleine Fetzen gerissen worden waren.
Ich lag noch einige Minuten wach, bis ich endlich einschlief. Doch schon nach kurzer Zeit wurde ich wieder aufgeweckt. Ich schaute auf die Uhr. Es war genau 0 Uhr, 23 Minuten und 16 Sekunden. Das weiß noch ganz genau, obwohl ich inzwischen fast 30 Jahre alt bin, denn das waren die letzten Sekunden, in denen ich mein Leben als „normales Leben“ bezeichnen konnte.
Ich wurde wach, weil ich ein seltsames Geräusch vernahm. Es war ein dumpfes Schlagen und nach ein paar Sekunden konnte ich es auch identifizieren: es war das Schlagen unserer Haustür. Entweder war jemand in unser Haus gekommen, oder jemand hatte es verlassen ... jemand oder etwas.
Ich versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, und es gelang mir auch, glaube ich. Ich weiß es zwar nicht mehr genau, aber es muss so gewesen sein, denn ich erinnere mich, wie ich damals darüber nachdachte, was ich tun sollte, wenn ein Einbrecher in mein Zimmer kommen würde.
Ich muss sofort nachgucken, wer da ist!, dachte ich. Ich stieg aus meinem Bett und schlich, so leise es ging, zur Tür. Doch hier zögerte ich einen Moment. Was war, wenn da draußen die Außerirdischen lauerten? Ich wusste damals, das jeder Erwachsene über diese Frage gelacht hätte, hätte er sie gehört, aber es war ja keiner da und außerdem stellte ich mir die Frage nur im Kopf. Heute denke ich, dass die Frage berechtigt war. Schließlich liegt Roswell nur ca. 2 Autostunden von Rockwell entfernt. Praktisch nur ein Katzensprung.
Aber irgendwie verdrängte ich meine Zweifel dann doch – weiß Gott wie. Ich öffnete meine Zimmertür und trat einen Schritt vor. Ich lauschte. Nachdem ich einige Sekunden verharrt und gehorcht hatte, aber keine Geräusche zu vernehmen waren, schlich ich mich weiter. Heute frage ich mich oft, warum ich damals weiterging, obwohl nichts mehr zu hören war. Für gewöhnlich beantworte ich mir die Frage so: Ich muss damals tief in meinem Unterbewusstsein gewusst haben, dass es kein Einbrecher war, der die Haustür zugeschlagen hatte, sondern dass etwas Schlimmeres als Diebstahl bevorstand.
Ich ging also weiter, einen Schritt nach dem anderen, ganz leise. Auf diese Weise schlich ich den Flur entlang, am Zimmer meiner Eltern vorbei und an dem meiner elfjährigen Schwester Chris, bis ich zur Treppe gelangte.
An der Treppe blieb ich wieder ein, zwei Augenblicke stehen, um zu lauschen. Im Haus war immer noch nichts zu hören, aber draußen gab es jetzt einige Geräusche, die ich nicht einordnen konnte. Sie klangen irgendwie ... kreischend.
Ich ging die Treppe herunter. Dabei achtete ich darauf, möglichst nahe an der Wand zu gehen. Ich war damals Fan von Detektiv-Büchern und in einem dieser Bücher hatte ich gelesen, dass Treppen in ihrer Mitte am meisten knarrten.
Als ich unten stand, begann ich erneut zu horchen. Wenn tatsächlich ein Einbrecher im Haus war, dann musste er doch irgendwelche Geräusche machen. Ich horchte so angestrengt, wie ich nur konnte, aber dennoch machte ich kein einziges Geräusch aus, bis auf dieses schrille Pfeifen von draußen.
Es war wie verhext. Moment mal!, kam es mir da plötzlich in den Sinn. Was ist, wenn niemand rein, sondern raus gegangen ist?
Das war ein interessanter Gedanke. Ich hatte bis jetzt ins Wohnzimmer gestarrt, welches mir genau gegenüber lag, doch nun drehte ich meinen Kopf nach rechts, in Richtung Haustür. Diese war vollkommen ganz aus Holz gebaut, ohne Fenster, deshalb konnte ich nicht sehen, was draußen los war.
Ich bewegte mich einen Schritt in Richtung Haustür, aber dann fing ich wieder an zu zögern. Was ist, wenn die Außerirdischen da draußen sind?, fragte ich mich ein zweites Mal, und diesmal war die Frage definitiv berechtigt!
Ich weiß heute nicht mehr, warum ich doch rausging, denn tief in meinem Innern wusste ich, dass die Aliens da waren, ich glaubte es nicht, ich wusste es. Naja, auf jeden Fall kann ich mich erinnern, wie ich die Haustür öffnete und nach draußen sah.
Was ich sah war nicht viel und ich habe in Erinnerung, dass ich dachte: Ist das alles? Ich sah Chris, meine Schwester, auf der Wiese gegenüber unserem Grundstück stehen. Etwa 100 Meter weiter schwebte ein U.F.O. in etwa 10 Meter Höhe und genau das war der Punkt, in dem ich enttäuscht war. Das U.F.O. sah genauso aus wie die, die man in billigen Science-Fiction-Filmen zu sehen bekommt. Es war eine stinknormale fliegende Untertasse. So was hatte ich schon Tausende Male zuvor im Kino gesehen. Kurzum: das U.F.O. war langweilig. Ich weiß nicht, was ich damals erwartet hatte, aber das war es garantiert nicht.
Doch dann schweiften sowohl meine Gedanken als auch meine Blicke zu meiner Schwester. Sie stand bewegungslos da und beobachtete das Raumschiff. Ich fragte mich, was sie so daran interessierte. Gut, sie mochte keine Science-Fiction-Filme, folglich kam sie auch nicht mit, wenn welche im Kino liefen, aber so was musste selbst sie schon gesehen haben.
Ich ging in den Vorgarten. „Chris“, rief ich sie. Sie reagierte nicht. Ich rief sie noch einmal und jetzt drehte sie sich um.
Ich erschrak. „Oh mein Gott“, sagte ich leise vor mich hin. Chris hatte die Pupillen so weit nach oben verdreht, dass man nur noch das Weiße sehen konnte. Auch ihr Gesichtsausdruck war komisch ... sie sah aus wie ein Zombie aus einem Grusel-Film.
Chris drehte sich wieder dem U.F.O. entgegen und blickte starr zu diesem hin (glaube ich, obwohl sie ja eigentlich nichts sehen konnte, soweit wie sie ihre Augen verdreht hatte).
Dann begannen die Aliens, auf sie zuzuschweben. Nun waren sie nur noch ca. 40 Meter von ihr entfernt, aber das Raumschiff schwebte trotzdem noch weiter, bis es schließlich direkt über Chris stand. Aus der unten liegenden Seite des Flugobjekts kam ein Lichtstrahl herausgeschossen und mit ihm zwei weißliche Aliens. Sie gingen auf Chris zu und packten sie an der Hand. In genau diesem Moment wurde mir klar, was die Außerirdischen hier wollten: sie wollten Chris.
Nein, lasst sie in Ruhe!, wollte ich schreien, doch es war zu spät. Es gab einen gleißend hellen Blitz und ich wurde zurückgeschmissen. Als das Licht verschwunden war, war ich zunächst geblendet, doch das ließ nach einigen Sekunden nach. Als meine Sehkraft wieder vollkommen hergestellt war, bemerkte ich, dass das U.F.O. weg war ... und mit ihm Chris.
Die Aliens haben sie mitgenommen!, wurde mir klar. Chris ist von Außerirdischen entführt worden!
Ich sah mich um. Im Zimmer meiner Eltern regte sich nichts, also schliefen sie scheinbar immer noch. Ich drehte mich, um zu sehen, ob die Haustür noch offen stand, denn wenn sie durch die Druckwelle ins Schloss gefallen wäre, hätte ich wohl oder übel klingeln müssen, was dazu geführt hätte, dass meine Eltern anfingen, Fragen zu stellen. Dann hätte ich erzählen müssen, was geschehen war und dass wollte ich nicht, da ich es für besser hielt, den Unwissenden zu mimen.
Zum Glück war die Tür noch offen, aber es stand ein Mann in ihrem Rahmen. Er war Groß und dürr., und da er im Schatten stand, konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, aber dann trat er hervor. Normal hätte ich Angst bekommen, doch der Mann hatte ein derart freundliches Gesicht, dass ich noch bevor er anfing zu sprechen wusste: Er will mir nichts böses!
„Kleiner was machst du denn hier draußen?“, fragte er besorgt und kam langsam auf mich zu. „Das was du heute Nacht gesehen hast, hättest du lieber nicht sehen sollen.“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Jetzt hör mir mal zu!“ Er kniete sich hin, sodass wir auf gleicher Augenhöhe waren und begann dann wieder, mit freundlichem Tonfall, zu sprechen. „Das was hier geschehen ist, darfst du niemandem erzählen, versprichst du mir das?“
„Warum?“, warf ich ein.
„Der Mann schien wieder zu überlegen. „Weil es besser für die Welt ist, wenn sie das hier nicht weiß!“
„Okay!“
„Na, dann ist ja gut!“ Er stand auf und ging um die Hausecke. Dann war er weg.
Ich ging an jenem Abend zur Haustür rein und schlich sofort zurück in mein Bett, doch schlafen konnte ich nicht, das konnte ich nach diesem Erlebnis kaum noch einmal richtig. Ich sah danach nie wieder ein U.F.O., aber meine Schwester sah ich auch nie wieder. Mir wäre es lieber gewesen, wenn die Außerirdischen zurückgekommen wären, damit ich ein letztes Mal mit Chris sprechen konnte, aber so was passierte nie; meine Hoffnung jedoch, dass es passiert, habe ich noch nicht aufgegeben.
Wie ich anfangs berichtete, habe ich diese Geschichte noch nie erzählt und ich denke, ich werde sie auch in den nächsten 20 Jahren nicht mehr erzählen. Nach dieser Nacht wurde ich von allen möglichen Polizei- und Kinderpsychologen verhört, aber ich hielt eisern Stand, und ich denke, das werde ich weiterhin. Ich habe nun, nach 20 Jahren, Druck abgelassen. Ich habe bereits einen geliebten Menschen verloren und ich fürchte mich davor, dass es ein zweites Mal geschieht. Aber vielleicht habe ich ja in 20 Jahren eine Frau gefunden, der ich das alles erzählen kann, und wenn nicht, werde ich die Geschichte erneut niederschreiben.
Bleibt nur noch der junge Mann, mit dem ich in jener Nacht sprach, zu erwähnen. Ich fragte mich nachher oft, wer er war. Etwa zwei Wochen nach dem Verschwinden meiner Schwester sah ich ein Bild von ihm in der Zeitung, darunter eine Todesanzeige. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Sein Name war mit „unbekannt“ angeben.
-Ende-
Stephan Möller Schortens, 18.07. – 05.08.2003