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1666
Manchmal schwitze ich, die einzelnen Seiten reiben aneinander, verkleben. Besonders wenn Feuchtigkeit eindringt, wenn die letzte der Lykows nicht aufpasst, ihre Finger Spuren auf dem Papier hinterlassen.
Wer wird mich in einigen Jahren berühren, den warmen Wind des Umblätterns erzeugen, wer das Leder, die darin verborgenen Seiten, mit Gesang streicheln, bis ich erschaudere?
Ich denke jetzt weit zurück in die Zeit, als ich jung war, die Buchstaben vor Kraft leuchteten, das Leder noch nach der Farbe roch, mit der man den Umschlag gegerbt hatte. Agafja weiß das nicht, es gibt keine Bilder von Sinaida, ihrer Urahnin, die mich einst in den Händen hielt: eine schöne Frau mit langen, braunen Locken, die darauf achtete, gepflegt zu wirken, frisch gewaschenes Leinen zu tragen, sich heimlich nach Reichtum sehnte, einem großen Haus, einer vielköpfigen Familie, einem Umfeld, in dem sie erstrahlen konnte, das ihr Herz erfreute. Sie netzte mich mit ihren Tränen und betete vergeblich, weil es ihr bestimmt war, dass nur zwei Kinder überlebten und ihr Mann früh starb, von einer Kutsche überfahren.
Manchmal denke ich auch an das Zimmer im Hinterhof. Der Lärm Sankt Petersburgs, die Rufe der Markthändler, Handwerker, scheppernde Fuhrwerke, das Glucksen der Newa, dröhnt durch die Straßen, über die Brücken, prallt gegen die Fassaden. Überall wird gebaut, prächtige Häuser, Paläste. Die Stadt ist jung und fröhlich. Es herrscht Aufbruch, seit der Wille des großen Zaren dafür gesorgt hat, dass die Zivilisation, oder das, was er dafür hielt, nach Russland gekommen ist. Die Jahre der Not waren vorübergezogen, ein goldenes Zeitalter unter Peter angebrochen, als die Maschine angeworfen, ritsch ratsch die Seiten gedruckt wurden, die der Meister in Leder einband und mich zum Leben erweckte.
Der Meister hieß Vitali, trug zimtfarbene Umhänge, Gamaschen, schweres Schuhwerk, Hemden, bei denen Knöpfe fehlten, auf dem hohlwangigen Gesicht befand sich ein Furnkel, aus dem Haare sprossen. Er war ein sparsamer Mann, schließlich hatte er eine große Familie und musste die Leute bezahlen, die für ihn arbeiteten. Deshalb verwendete er auch die Einbände zerschlissener Bücher, die er mit Schwamm und Essig aufpolierte, bis das Leder wieder frisch roch. Vitali hatte eine Partie der nach einem Feuer heil gebliebenen Bücher und Buchreste der Privatbibliothek des Patriarchen Nikon erworben, sie nach und nach ausgeschlachtet und hergerichtet. Einen solchen Einband nahm er, presste frischbedrucktes Papier dazwischen, verklebte sorgfältig, was eine neue Bibel werden sollte, wunderte sich für einen Moment über die Unebenheit im Einband und legte mich auf den Stapel der fertigen Bücher, die im Laden verkauft wurden. Meister Vitali ahnte nicht, dass der Patriarch im Futter des Ledereinbands ein Schriftstück verborgen hatte, gefaltet, ein weißes Quadrat, eigenhändig vom Patriarchen Nikon verfasst, worauf er niedergeschrieben hatte, was er mit der Überschrift: „Mein Vermächtnis“ benannte. Niemand hat es bisher gefunden. So wie der Patriarch es sich erhofft hatte.
Eben dieser Patriarch Nikon war nie in Vergessenheit geraten. Jeder in Petersburg, in ganz Russland, auch Meister Vitali kannte seinen Namen. Die Familie, in deren Besitz ich von Anbeginn an bin, hat oft über ihn gesprochen, von seinen Taten erzählt, ihn innig gehasst, soweit das für einen Christenmenschen möglich war.
Besonders in den Wintermonaten trug Agafjas Vater die Geschichte des Patriarchen Nikon vor. Karp blätterte dann ein paar Seiten um und betrachtete seine Kinder, die zwei Töchter, die beiden Söhne. Brennendes Holz knisterte leise. Natalja und Agafja flüsterten miteinander, kicherten, lachten Dmitri und Savin aus, die Fäden in den Händen hielten und sich mit einem Spiel beschäftigten, dessen Regeln sie sich selbst ausgedacht hatten. Das Feuer im Kamin beleuchtete die Gesichter, flackerte. In den kalten Nächten standen die Sterne klarer am Himmel, zeigten sich zahlreicher. Karp trank einen Schluck Tee, fing an zu reden.
Ich will euch erzählen, was ich selbst von meinen Eltern hörte, diese von ihren Eltern und so fort, bis zu denen, die das Jahr erlebt haben, das alles veränderte.
Wer sich an die Zeiten der Not und der Verfolgung erinnert, der ermisst erst, wie hell die Jahre des Friedens strahlen, wie glücklich wir uns schätzen können, am Abend bei fröhlichem Gespräch zusammenzusitzen.
Denn der Schrecken kommt auf leisen Pfoten und trifft uns von einem auf den anderen Moment mit Eisenhand. Das Böse schläft niemals und wir müssen gewappnet sein, um uns dagegen zu wehren. Wir reichen das, was damals geschah, von Generation zu Generation weiter, damit es sich in das Gedächtnis einbrennt, unvergessen bleibt. Das ist das Vermächtnis der Ahnen. Sie flüstern im Wind. Wenn ihr die Ohren aufsperrt und die Herzen öffnet, dann sprechen sie mit euch, erzählen von dem, was war und dem, was ist und dem, was sein wird.
Die Pest war gerade vorübergezogen, als das Jahr 1666 nach Jesu Geburt begann, das allein wegen der furchtbaren Zahl die Welt in Schrecken versetzte. Besonders unter denen, die den Ritus bewahrten, wie er von Engeln und Heiligen im Auftrag des Herrn auf die Erde gebracht worden war.
Bevor das verfluchte Jahr anbrach, griff der Teufel nach der Macht und schickte seine Diener aus. Der Verführer, König der Dunkelheit, redegewandt, geschmeidig, in einem Moment hart wie Stahl, im nächsten biegsam wie eine Weidenrute, übernahm die Herrschaft über den Geist des Patriarchen Nikon.
Der oberste Hüter des orthodoxen Glaubens stieg zur Hölle hinab, um sich mit dem Fürsten der Finsternis zu beraten.
Als er zurückkam, hatte er einen Plan. Anfangs veränderte er die Schriften und Regeln: Aus dem Gruß mit zwei nach oben gerichteten Fingern und dem Daumen, der sie festhält, womit die zweifache Gestalt Jesu symbolisiert wird, wurde ein Dreifingergruß. Wer drei Finger benutzt, der zeigt die drei Schreckensgestalten, von deenen Johannes in der Apokalypse gesprochen hat: die Schlange, den falschen Prophet und das Tier, die sich verbünden und dadurch die Endzeit einleiten. Im Jahr 1666 waren die Zeichen gesetzt. Der falsche Prophet war Nikon. Der irrgläubige Patriarch hatte die Macht ergriffen, während das Tier in Person des Zaren zusah, die Teufelsgestalt der Schlange danebenstand.
Schon der Winter war wärmer als jemals sonst, ohne Eis, ohne Schneemassen. Im Sommer des Jahres 1666 blühten die Blumen freudiger, in Farben, die man niemals zuvor gesehen hatte, die Bäume schlugen früher aus, die Ernte versprach außergewöhnlich reich zu werden, obwohl gewaltige Stürme und Gewitter niedergingen. Am Himmel tauchten die Polarlichter weiter südlich auf als je zuvor. Die Menschen fürchteten und freuten sich im Wechsel, weil sie die Jahreszahl kannten.
Die Gemeinden berieten sich, Frauen und Männer, in Kirchen, unter freiem Himmel. Sie beteten, flehten die Heiligen an, befragten auf den Friedhöfen die Geister der Ahnen. Die einen sagten, man müsste weit weg fliehen, bis ans Ende der Welt, in Länder, die das Böse bisher verschont hatte. Die anderen glaubten, man müsste das Schicksal, den unergründlichen Beschluss Gottes ertragen, standhalten, wie Hiob, der von Gott geprüft wurde und die Festigkeit seines Glaubens bewiesen hat. Überall im Land kamen die Rechtgläubigen zusammen und jede Gemeinde fasste eigene Beschlüsse. Die meisten entschieden sich dafür, auszuharren, Gott um Beistand anzurufen und an den Riten festzuhalten. Aber einige wollten, dass ihre Seele rein blieb, dachten, dass das Jenseits besser wäre als der Schrecken der Welt, als Hunger und Not. Sie glaubten, dass die Endzeit nahe war. Deshalb entschieden sie sich für das Jenseits. Mit der Feuertaufe streben sie ins Paradies. Für ihr Vorhaben setzten sie einen Termin fest.
Heißer Wind blies über die Taiga, als die Männer ihre Äxte nahmen und einen Platz suchten, um ein großes Haus zu bauen. Auf einer Lichtung mit Blick zu den Bergen fanden sie eine geeignete Stelle. In den Wäldera fällten sie Bäume, stapelten die Äste, das Laub. Buchen, Birken, Eiben, was der Wald zu bieten hatte. Die Stämme schafften sie zu der Lichtung und begannen.
Die Rechtgläubigen marschierten in einer langen Prozession zum heiligen Ort. Wie Gott es wollte, zogen sie dem Sonnenlauf entgegen, wenngleich Nikon befohlen hatte, in die entgegengesetzte Richtung zu prozessieren. Auch das zeugte von der Häresie, der Teufelsanbetung Nikons. Wer den Verfügungen Nikons gehorchte, verfiel der Dunkelheit. Unsere Vorfahren setzten Zeichen. Manche krochen den Prozessionsweg auf den Knien, manche geißelten sich, während sie den Ikonen folgten, die von den Ältesten getragen wurden.
An vielen Orten im Land zogen die Gläubigen los, die sich entschlossen hatten, dutzende, hunderte, tausende, je nach der Größe der Gemeinde. Auch diejenigen, die sich für einen anderen Weg entschieden hatten, begleiteten sie. Die Täuflinge hatten zuvor ihr Hab und Gut verschenkt, trugen ihre besten Kleider, rochen nach Weihrauch, gingen aufrecht mit festem Gang. Mütter hielten ihre Kinder an der Hand, beteten mit lauter Stimme, damit jeder hörte, wie sehr sie sich nach dem Paradies sehnten. Nach Tagen und Nächten des Gebets waren sie losgezogen, überzeugt, dass sie dem Schicksal folgten, ihre Seelen unbefleckt emporsteigen würden. Hinter ihnen her marschierten Polizisten, Anhänger des nikonschen Irrglaubens, staunend, still, obwohl man in ihren Blicken las, dass sie dachten, es wäre ein Verbrechen, sich aus dem Staub zu machen. Die Steuern müssten so oder so bezahlt werden, man würde konfiszieren, was übrigblieb, man schulde dem Zaren Gehorsam und Arbeitskraft, es wäre irrig zu glauben, diejenigen, die Frevel begingen, kämen jemals in den Himmel, unmöglich. Ketzern wäre das Paradies für immer und ewig verschlossen. Ihr Geschrei ging unter im Gesang der Prozessierenden, die längst alles hinter sich gelassen hatten.
Am Rande des Waldes befand sich das Ziel des Zuges, auf einer freien Fläche, sorgsam gemäht, nachdem Bäume geschlagen, entlaubt, die Stämme bearbeitet, Pflöcke in den Boden eingerammt worden waren. Ein Haus war errichtet worden, eine Kirche, worin die Gläubigen ihre Taufe empfangen konnten.
Wer dabei war, hatte gesehen, dass die Täuflinge, jung wie alt, je freudiger ausschritten, desto mehr sie sich dem Ziel näherten. Der Gesang wurde lauter, die Menge flutete auseinander, ließ diejenigen, die zu Gott strebten, geradewegs vor das Haus gehen, während die Zuschauer, Zeugen dessen, was geschehen musste, einen Kreis um sie bildeten.
Sie standen da, stolz, frei. Manche sanken zu Boden, hoben die Arme zum Himmel, während die Sonne auf sie herabbrannte. Es roch nach Stroh, dem würzigen Duft des Nadellaubs, Holz. Weihrauch wehte zu den Täuflingen, Priester schwenkten die Fässer. Die Menschen formten das Zeichen mit zwei Fingern, während sie das Haus betraten, von Freunden und Verwandten zum Eingang begleitet. Die Umstehenden klatschten, die Täuflinge verstummten. Alle sangen nun laut Psalmen. Die Türen wurden verschlossen, mit Balken gesichert.
Im Hintergrund warteten Männer, die keiner kannte, breitbeinig, bewaffnet, als Bauern verkleidet, Geheimpolizei, Ochrana. Sie kratzten sich im Gesicht, suchten in den Bärten nach Läusen, strichen sich über die lockigen Haare, rochen nach Seife und traten von einem Bein auf das andere.
Als hätte jemand die Szene gemalt, festgefroren, als wollte die Zeit innehalten, erstarb jeder Windzug. Irgendwann, keiner konnte sagen, wie lange es dauerte, ertönten die Psalmen aus dem Haus. Die Zeugen nahmen sich an den Händen, antworteten, hohe Stimmen, tiefe. Einige knieten, einige streckten die Arme zum Himmel.
Auf allen Seiten des scheunenartigen Baus ohne Dach, der aus groben Stämmen gezimmert war, befanden sich Auslassungen, Öffnungen, die mit Stroh gefüllt waren. Draußen beteten die Menschen, um die Täuflinge zu stärken, ihnen Mut zu schenken. Ein Priester zündete Fackeln an. Männer trugen das Feuer zum Haus, jeder an einer anderen Öffnung. Es knisterte. Die Flammen leckten am Stroh, am Holz, breiteten sich zaghaft aus. Drinnen schwoll der Gesang an. Der Teufel musste von diesem Ort weichen, der Unhold wurde ausgerechnet durch Hitze vertrieben. Während lange nur das Lodern des Feuers zu hören war, stimmte die Menge ihre Gebete mutiger an. Stämme verkohlten, schwarzer Rauch stieg auf, es roch nach verbranntem Holz, Harz. Nach und nach mischte sich etwas Süßliches darunter. Das Feuer prasselte lauter, Wind kam auf, übertönte die Worte der Menschen. Flammen zogen die Wände empor, Feuer öffnet den Körper, Haut zerplatzt, Fleisch trennt sich von Knochen, die Seele befreit sich, schwebt und tanzt zum Himmel. Ein Wunder geschah. Die Anwesenden wurden Zeugen eines Mysteriums. Von nun an wussten sie, welcher Weg ihnen offenstand, wie eine Rettung möglich war, wogegen die dunklen Mächte nichts ausrichten konnten.
Die Gläubigen wachten vor dem Haus, achteten darauf, dass das Feuer nicht auf den Wald übersprang, schauten zum Himmel, hielten Eimer mit Wasser bereit und Äste, um zu löschen, wenn Funken flogen. Wochenlang stieg Rauch aus dem Feuernest auf. Weithin wurde es gesehen. Die Menschen zeigten zum Himmel, flüsterten, sprachen hinter vorgehaltener Hand. Ein Zeichen war gesetzt.
Nikons Priester wurden zu den Gemeinden geschickt, um die Rechtgläubigen zu beschwören, sich dem Patriarchen zu unterwerfen. Sie wurden ausgelacht und bespuckt. Nur wenige gaben nach, versteckten ihre Ikonen, hielten heimlich Gottesdienst, wehrten sich gegen den Teufel, indem sie ihm vorgaukelten, er hätte den Sieg errungen, lebten heimlich zwischen denen, die das Paradies nie sehen würden, weil sie vom Glauben abgefallen waren, den Feinden Gottes dienten, ihre Seelen mit den Götzen der Gier und Wollust verklebten, vergaßen, was Nächstenliebe bedeutet, an sich selbst dachten, an sonst niemanden. Einige Rechtgläubige wurden verhaftet. Die Männer wurden von den Abgesandten Nikons abgeholt, zum Verhör gebracht, befragt, mit Stock und Eisen gekitzelt und geschlagen. Damit keiner auf den Gedanken käme, Dummheiten zu planen, hieß es. Sie kehrten nach einer Weile zurück, hungrig, aufrecht. Man würde die Altgläubigen und ihre Familien ohnehin bald weit in den Osten schicken, mit Fußfesseln versehen, von zaristischer Gewalt getrieben, dorthin, wo die Winter am kältesten waren, ihnen den Stolz austreiben, sagten die Schergen.
Dennoch fanden überall in Russland von da an Feuertaufen statt. Die letzte, von der ich erfahren habe, in Sibirien, vor kaum hundert Jahren.
Karp verstummte, faltete die Hände und schaute seine Kinder an, die zwei Töchter, die beiden Söhne: „Trotz allem haben wir ein Paradies gefunden“, sagte er.