- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
16 Jahre Leben
Oft traten Menschen in ihr Leben und ehe sie sich versah waren sie wieder fort. Daran hatte sie sich schon gewöhnt. Sie durfte die Menschen bloß nicht anfangen gern zu haben. Dann tat es auch nicht weh, wenn sie wieder gingen. Sie hatte früh damit angefangen keinen so nah an sich heran zu lassen, sodass sie sie hätten verletzen können, wenn sie wieder gingen. Doch jeder braucht Menschen von Dauer.
Marie Ellen war keine junge Frau die schüchtern, zurückhaltend oder leicht einzuschüchtern war. Sie lebte bloß in ihrer kleinen heilen Welt mit einer hohen Schutzmauer. Manchmal gelang es Menschen hinein zu gelangen, aber ihr Bleiben war nie erwähnenswert geworden. Dann tat es Marie Ellen umso mehr weh. Zu sehen wir sie sie anschauten, wenn sie merkten, dass sie ein wenig sonderbar war. Oder wie sie sich immer mehr von ihr zurückzogen. Marie Ellen war nicht irgendwie behindert, gestört oder sonst verrückt. Sie hatte viele Freunde, eine liebevolle vielleicht ein wenig chaotische Familie und war recht gut in der Schule. Im laufe des Erwachsenwerdens hatte sie eine gute Erziehung genossen. Ihr äußeres war gepflegt. Sie hatte ein hübsches Gesicht. Wenn sie vor sich hinträumte, war sie schön anzusehen. Sie hatte hier und da ein Kilogramm zu viel. Durch den Schwimmverein, den sie in ihrer Freizeit besuchte, hatte sie an den entsprechenden Körperstellen, starke Muskeln. Sie war stolz darauf und wenn sie gut gelaunt war, fühlte sie sich auch hübsch und mochte ihren Körper. Natürlich gab es auch Tage an denen sie sich wünschte, sie hätte ein anderes Äußeres. Aber so ging es ja jedem.
Mit ihren 16 Jahren hatte sie noch keine sexuellen Erfahrungen. Ebenso hatte sie auch noch keine Erfahrungen was eine Beziehung mit einem männlichen Wesen anging. Lange Zeit zeigte sie auch kein Interesse solche zu machen. In dieser Hinsicht war sie vielleicht ein wenig zurückgeblieben. Doch je mehr Erfahrungen ihre Freundinnen sammelten, desto mehr wünschte sie sich auch endlich mal jemanden der an ihr ein wenig Interesse zeigte.
In ihren Träumen hatte dieser blonde, längere Haare, einen sportlichen Körper, gebräunte Haut, ein süßes Lächeln, ein hübsches Gesicht und pflegte denselben Klamottengeschmack wie sie. Durch die vielen Teenifilme, die sie früher gerne sah, prägte sich dieses Bild noch stärker ein.
Doch irgendwann hatte sie ihre Träume und schließlich auch ihre Hoffnung aufgegeben so einen zu finden. Manchmal begegnete sie einen der für sie der Richtige zu sein schien. Doch die Enttäuschungen, die sie dann machen musste, als er keinerlei Interesse an ihr zeigte, ließen sie ihren Glauben vergessen.
Immermehr zog sie sich dann in ihre Welt zurück, um bloß nicht die Realität zu sehen. Hart und unsanft wurde sie dann immer wieder daraus gerissen, aber das war es ihr wert. Die paar glücklichen Momente die sie in ihrer Traumwelt verbrachte, hielten sie am Leben. Doch das war ihr nicht bewusst. Ohne diese Tagträume, würde sie an der harten Welt zerbrechen. Nur sehr wenigen Menschen in ihrem Umfeld wussten dies. Nur ein paar ihrer Freundinnen ahnten so etwas und nur ihre eigene Familie war sich dessen sicher.
Der Kaffee der für sie Lebenswichtig war, lief gerade durch die Kaffeemaschine. Es war endlich mal wieder ein Morgen, wo sie auch ohne Kaffee hätte wach bleiben können. Als sie ihr morgendliches Ritual vollzogen hatte, setze sie sich wie jeden Morgen an den Esstisch, um ihr Müsli zu essen und ihren Kaffee zu trinken. Das Ritual bestand darin ihr Brot für die Schule vorzubereiten und das Müsli anzurichten, das sie danach zu sich nehmen würde. Es war noch still im Haus. Der Rest der Familie würde erst später aufstehen. Sie war immer die Erste. Heute war ihr nicht nach Frühsport und sie hatte eigentlich keine Lust mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren. Sie fuhr gerne Rad, aber zur Schule fuhr sie bei dem Wetter nicht gerne. Es war Mitte November. Es war kalt. Gestern hatte es ein paar Flocken geschneit. Sie liebte den Winter. Sie liebte den Schnee. Sie liebte die Kälte.
Doch mit einem schweren Rucksack, frierend auf einem alten Rad, bei Regen, sich den Berg hoch zu strampeln, danach war ihr nicht zu mute. In letzter Zeit hatte sie auch ein bisschen Angst, weil sie durch den Wald fahren musste und sie kein Licht am Fahrrad hatte. Sie hatte schon immer Angst vor der Dunkelheit.
Aber sie wollte nicht schon wieder ihre Eltern fragen, damit sie sie mit dem Auto fuhren. Sie liebte sie. Sie wusste, dass es ihren Eltern lieber wäre, wenn sie mit dem Fahrrad fuhr. Sie wollte nicht mit dem Bus fahren. Es wären zu viele Umstände, es kostete auf Dauer zu viel Geld. Aber Geld war in ihrer Familie nie ein Problem gewesen. Früher und heute auch noch manchmal hatte sie Angst, dass sie irgendwann kein Geld mehr hätten und sie dann auf Sachen verzichten müssten, auf die sie nicht verzichten konnten und wollten.
Sie hatte sich nie als verwöhnt angesehen und doch wusste sie, dass es einige von ihr dachten. Sie wusste, dass es viele Menschen gab, denen es nicht so gut ging. Vielleicht hatte sie deshalb oft und mit vielem Mitleid.
Sie merkte gar nicht wie die Zeit verging, während sie darüber nachdachte, wie sie heute zur Schule kommen würde.
Freitags fuhr sie mit ihrer älteren Schwester mit. Die musste freitags auch früh in die Schule. Freitag war ihr Lieblingstag. Freitag fing das Wochenende an, dass ihrer Meinung nach viel zu kurz war. Wie sollte sie an den zwei freien Tagen bloß so viel Schlaf nachholen? Manchmal dachte sie, sie könnte ihr Leben verschlafen, weil sie sich immer so müde fühlte.
Marie Ellen saß oft morgens unten am Esstisch und grübelte darüber nach, wie sie wohl heute wieder zur Schule kommen sollte. Sie hörte nicht wie ihr Vater nach unten kam. Er trug noch seine Schlafsachen. Er war stolz auf sie. Sie war selbstständig. Sie war verantwortungsvoll. Doch in letzter Zeit war sie oft traurig gewesen, hatte er bemerkt. Er war nicht oft zu Hause. Ging morgens um halb acht aus dem Haus und kam abends frühestens um sieben. Er bekam nicht viel mit. Seine Frau erzählte ihm zwar immer das wichtigste, doch die Kleinigkeiten von seinen Kindern bekam er selten mit. Er war ein Mann der wusste, dass es im Leben auf Kleinigkeiten ankam. Die Tatsache, dass es ihm auffiel das Marie Ellen so aussah als sei alle Freude aus ihrem Leben geflossen, überraschte ihn sehr. Er selbst wusste, dass jeder seiner Kinder nicht immer die Aufmerksam bekam, die ihm zustand. Doch bei fünf Mädchen ist es nicht leicht. Seine jüngste Tochter machte ihm im Moment am meisten zu schaffen. Sie ließ in der Schule nach und brachte ihre Mutter um den Wahnsinn.
Als Marie Ellen aufsah und ihren Vater erblickte, huschte ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht. War sie laut gewesen? Sie hoffte nicht. Doch sie war mal wieder so versunken gewesen, dachte sie.
"Soll ich dich fahren?"
"Ja, bitte"
"Okay ich mache mich fertig", mit diesen Worten verschwand er.
Es passierte nicht oft, aber hin und wieder lösten sich Probleme einfach von alleine. Noch etwas Erfreuliches an diesem Morgen, dachte Marie Ellen. Vielleicht würde der Tag heute ganz gut werden.
Der erste Fehler. Sie erhoffte sich etwas vom Tag.