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150! Feier schön!
Rennen. Hastiger Blick zurück. Die Gang ist noch hinter mir her, schwenkt Fäuste und Banner, johlt.
Rennen. Kein Blick zurück. Nur nach vorn.
Rennen. Konzentrierte Amphetamine dröhnen durch meine Adern, treiben mich vorwärts.
Die Gang will diese kleine Pappschachtel. Ihren Inhalt. Sie haben mich beim Kaufen beobachtet, drüben, hinterm Bahnhof.
»Pille«, sagt der Volksmund. Und meint unterschiedliche Dinge, wenn Mann oder Frau sie nimmt. Diese ist für Männer. Und bewirkt quasi das Gegenteil der anderen.
Rennen. Eine Kurve, dann noch eine. Endlich an der Bonzen-Kreuzung. Ich bremse, gehe normal. Wer hier rennt, fällt auf. Den automatischen Augen der Kreuzung. Sie beobachten uns. Uns alle. Ich sehe mich um. Die Gang steht an der Ecke und tut so, als warte sie auf den Bus.
Ich grinse, atme durch. Hier wird keiner beraubt. Die stämmigen Uniformierten sind gut bezahlt. Halten den Bonzen die Aussicht sauber, die Aussicht aus ihren Glasbunkern, wo sie hinter blitzsauberen Scheiben die Zukunft der Menschheit planen. Jedenfalls soweit die ihren eigenen Kontostand betrifft.
Die Schachtel in meiner Jackentasche fühlt sich unschuldig an, erinnert mich an mein erstes Mal. Aber ich kann mich täuschen. Ist ne ganze Weile her.
Fast hätte die dumme Schachtel vorhin mein Ende bedeutet. Dabei ist sie nicht mal für mich selbst. Sondern für meinen Opi, der wird heute 150, und zum runden Geburtstag kriegt er von der Familie eine Hure. Und zum Kuchen eine Überdosis Pillen, damit es sich auch lohnt.
Wir feiern in der »Tankstelle«, die früher »Posthorn« hieß und davor »Bei Egon«, aber Egon ist vor der Erfindung der Tanks Teufelchen Krebs erlegen.
Als ich das resevierte Hinterzimmer betrete, schlägt mir der Muff der versammelten Jahrhunderte entgegen. Nur wenige Organismen vertreten das andere Ende der Alterspyramide. Die Anwesenheit rund einer Person erfreut mein Herz; der Rest ist die Schicht Schimmel auf dem Käse, die man dringend hinfort kratzen möchte.
Ich drücke Tante Marie-Claire die Schachtel in die Hand: »Nächstes Mal besorgst du das Geschenk.«
Mehr als ein eiliges Abwinken gönnt sie mir nicht, denn sie muss noch ihre Verpackungsmagie wirken und rauscht in ihrem schneeweißen Kleid nach nebenan.
Ich gratuliere Opi, der mich anscheinend tatsächlich erkennt, jedenfalls guckt er ziemlich böse. Er trägt einen geliehenen Zweireiher mit Krawatte. Statt Signale von Seriösität zu senden, offenbart der Anzug nur die hohe Leihgebühr.
Von der lästigen Pflicht befreit fange ich an, die dargebotenen Getränke auszuprobieren. Für den Anfang wähle ich ein Alt Plus Plus, suche mir einen Stehplatz mit unverbaubarer Aussicht und überprüfe mit meinem Handy meine Lebensfunktionen.
Der strenge Zeitplan der Location fordert umgehend Hochlebenlassen und Bescherung.
Opi löst die Schleife, Tante Marie-Claire hilft ihm beim Packpapier. Mit 150 zittern einem die Finger, stelle ich fest. Ich starre auf meine eigene Hand.
Leider hat Opi die Brille vergessen, und im Tank verkümmert die Hornhaut ein wenig. Er kann nicht lesen, was auf der Schachtel steht. Tantchen erklärt es ihm. Und dann nochmal, diesmal lauter, weil er nicht reagiert.
Endlich nickt Opi. »Ah. Ah so«, macht er. Er grinst, aber es wirkt gezwungen, die Familie zieht eine Fleppe.
Hat Opi noch nicht kapiert? Natürlich ist die Schachtel nur das Augenzwinkern, darauf folgt das richtige Geschenk.
»Oooohooo!«, macht Onkel Ortmar demonstrativ. Klatschen setzt ein, als hätte jemand ein »Applaus«-Leuchtschild angeknipst, dabei stakst bloß Nanina herein, auf hohen Schuhen, mit Lebkuchenherz um den Hals, auf dem ihr Name steht. Die ein Blümchenkleid tragende Großtante Neumann kreischt vor gespielter Begeisterung, hüpft aufs Buffet. Dann sieht sie nochmal genauer hin und fällt beinahe in die Torte. Die Hure trägt eine Schuluniform, die ihr ein paar Nummern zu klein ist, vor allem oben rum. Ein Teil der Onkels wird rot, unsere fundamentalistische Nichte Lea-Marie betet ein Frühergabesdasnicht. Irrt gewaltig und weiß es genau.
Nanina stolziert Richtung Opi, die männlichen Neumanns machen die Welle. Am Ende der Tafel pflanzt sich Nanina auf Opis Schoß, quietscht in die einsetzende Stille hinein: »Sie haben nach mir geschickt, Herr Direktor?«
»Eeeeh«, macht Opi und blinzelt, bestimmt tränen seine Augen.
»Ist das nicht ein schönes Geschenk?«, schreit Tante Marie-Claire in Opis Ohr. Dann, leiser: »Die hatte Ortmar auch bei seinem Vierundachtzigsten.« Als wäre das ein Qualitätsmerkmal. Ortmar »muss dringend aufs Klo.«
Die Neumanns schleichen sich von hinten an und spicken in Naninas Ranzen. Ihr Kichern durchquert den Raum wie eine Gewitterfront.
Ich gehe lieber zur Torte, aber die schmeckt nach Pappe.
»Ich war ja dagegen«, sagt Lea-Marie zu mir.
»Mich hat keiner gefragt«, zucke ich mit den Schultern. »Wie läuft's mit Jesus?«
Lea-Marie verdreht die Augen. »Gut«, schnappt sie nach der Hoffnung, mir würde das reichen. Ich tue ihr den Gefallen, nicke ein Bravenichte, reiße ihr nur in Gedanken das alberne Kopftuch runter, trample drauf rum, rotze ihr ein »Amen« hin. Die Dankbare entlastet ihr Gesichtsfeld von meinem Anblick und gafft Kreuze in die weiße Wand.
In meiner Hosentasche drehe ich nachdenklich die kleine, runde Pille hin und her, die ich mir von Opi geborgt habe. Ich lasse den Blick schweifen, von Lea-Maries Rückseite bis Großtante Neumanns Fülligkeit. Niemand im Raum lässt mich die Pille nehmen wollen. Nicht einmal die neben mir stehende Rosi, die ich mal süß fand mit den bunten Schleifen im Haar. Die sind lange fort, leisten an unerreichbaren Koordinaten der Raumzeit meiner Jugend Gesellschaft.
»So abseits?«, frage ich Rosi, lasse den Blick über das Papp-Buffet schweifen und wähle eine Gelee-Ananas.
»Herrje, das ist so peinlich«, haucht Rosi. Sie rückt drei Millimeter zur Seite, so dass ich an ihr vorbei sehen kann. Hinter ihr versteckt sich ihre Tochter Luzi.
»Warum ...«, beginne ich, stutze, vergewissere mich durch einen Blick auf Nanina.
Leise klagt Rosi: »Die arme Luzi!« ... trägt dieselbe Kleidung, in der Tat.
»Ich war schon immer gegen Schuluniformen«, rutscht es mir raus. »Markenkleidung hat ja auch viel mehr ... Niveau.«
Nanina hat Opi nach nebenan getragen. Peinliche Stille füllt das Loch. Dabei will genaugenommen niemand die Geräusche hören, wenn die Wirkung der Pille eintritt.
Ich klatsche in die Hände. »Zeit für ein Spiel!«
Vereinzeltes Entkrampfen, strichweise Dankbarkeit.
»Was spielen wir?«, fragt Rosis gespielte Begeisterung. Ich bemerke das Löchlein in ihrer Nase, wo sie anno dazumal ein Piercing getragen hat. Luzi steht jetzt neben ihr, trägt aber eine Jacke. Bis jemand »ist dir kalt?« fragen kann, habe ich schätzungsweise eine Sekunde. Also die erste Idee: »Wir spielen ... Wahrheit oder Pflicht.«
»Spinnst du?«
»Aber ohne Ausziehen!«
»Wir haben keine Flasche!«
Ich winke mit meinem Telefon. »Ich habe eine App mit einer drehenden Flasche.«
»Wie altmodisch«, urteilt Luzi.
»Bildet einen Kreis«, bestimme ich bar jeder Duldung von Widerspruch.
»Ist dir kalt?«, fragt Tante Fürsorge-Claire. Ich scheuche sie auf ihre Position, lege das Handy an die Tischkante. So kann jeder sehen, was es auf den Fußboden projiziert.
Die erste Flasche zeigt auf Großtante Neumann. »Wahrheit«, sagt sie selbstzufrieden.
»Wie alt bist du?«, schieße ich zurück.
Die Neumann explodiert. Ihre Flüche donnern mir ins Gesicht, und nur mit Mühe kann die Sippe ihr Einhalt gebieten.
»Die Spielregel kennt weder Ausnahme noch Gnade«, lege ich fest. »Also?«
Mein Opfer schluchzt. Eine hohe, dreistellige Zahl entrinnt dem Haufen Elend. Die Familie verkneift sich unter großer Anstrengung jeden Kommentar, das Leben ist zu wertvoll.
»War doch gar nicht so schwer. Du darfst die Flasche drehen. Dazu musst du nur sagen ... Entschuldigung, jetzt habe ich's versehentlich schon selbst gesagt.« Das ist mir wirklich unangenehm, die Großtante musste so leiden, und durfte nicht einmal die Flasche selbst in Bewegung setzen. Sie rotiert fein animiert, zielt schließlich auf Ortmar. Der entscheidet sich für »Pflicht«.
Lautes Gemurmel, aus dem heraus Großtante Neumann befiehlt: »...in die Torte.«
»Was?«, krächzt Ortmar. »Hab den Anfang nicht mitgekriegt.«
»Dein Handy. In die Torte.« Die Neumann zeigt mit dem Finger Richtung Sahnestapel.
»Das kannst du mir nicht antun«, erbleicht der Onkel. Sein geliftetes Antlitz ist zum Zerreißen gespannt, sucht Hilfe bei Ehefrau Marie-Claire.
»Hättest ja Wahrheit wählen können«, lautet deren relatives Mitgefühl.
Onkel Ortmar erkennt das geringere Übel und marschiert zur Torte, stopft sein Handy mitten rein. Holt tief Luft und donnert: »Flasche drehen!«
Die komplette Familie versucht, den projizierten Verderbenszeiger telekinetisch zu beeinflussen.
»Zwischenfrage«, kommt es von der jungen Luzi. »Wir hatten gesagt: Ohne Ausziehen. Richtig?« Ihr letztes Wort ist Akustik geworde Hoffnung.
»Nö«, spricht die Familie, und ein Stausee aus Jahrzehnten von Befindlichkeiten spült alle Menschenrechte hinfort.
Die Flasche zeigt auf Rosi. Die sieht dem entmannten Onkel ins Gesicht und wählt Wahrheit, weil ihr ihre Kleidung lieb ist.
Ortmars Frage ist eine Peitsche. »Wer ist Luzis Vater?«
»Ein hübsch geformtes, anspruchsloses Reagenzglas.« Rosi zuckt die Schultern. »Steht doch in meinem Profil. Das war wirklich eine ziemlich dumme Frage. Flasche drehen!«
»Der größte Teil seines Hirns steckt ja auch in der Sahne«, wiehert Tante Neumann.
Teufelchen Zufall sucht sich Marie-Claire aus. Die wählt Wahrheit, nimmt noch schnell einen Schluck Wodka und überprüft, ob ihr Kleid keine Flecken abbekommen hat.
»Mit wievielen der Anwesenden hast du geschlafen?«, will Rosi wissen.
»Meinst du nur die Männer oder auch ...« »Marie!«, dröhnt ihr Ehemann dazwischen.
»Drei«, sagt Marie-Claire und grinst. »Grübelt ruhig, ich sag schonmal: Flasche drehen!«
Lea-Marie wählt Pflicht, und Marie-Claire befiehlt ihr, das Kopftuch abzunehmen.
»Nein«, haucht meine Nichte, »dann doch lieber Wahrheit.«
»Du kennst doch die Regeln.«
Tränen sind keine Medizin gegen Grausamkeit. Das Tuch muss runter, entblößt harmlose Haare sowie religiösen Wahn. Ich halte nichts von Lea-Maries Fundamentalismus, den sie zur Schau stellt wie obszöne Werbung, obwohl er nicht mehr ist als eine virale, geistige Vergewaltigung.
Da Lea-Marie verkrümmt am Boden hockt und betet, starte ich an ihrer Stelle die Flasche.
Luzi ist dran, wählt Wahrheit und wartet geduldig, bis Lea-Marie ihr Kopftuch gerichtet hat und wieder sprechen kann: »Bist du Jungfrau, Luzi?«
»Nö. Ich bin Fünfzehn!« Sie schüttelt verständnislos den Kopf. »Flasche drehen.«
Diesmal trifft es mich. Luzis Lächeln verheißt große Gefahr. Ich sage »Pflicht«.
»Schenk mir deinen Level-250-Paladin.«
»Nein«, entfährt es mir.
»Pflicht!«, rufen alle.
»Du ...«
»Was meinst du, wieso ich zu dieser Feier gekommen bin, hä?« Angriffslustig kommt Luzi auf mich zu, Zeigefinger voraus. »Um euch beim Altern zuzugucken? Okay, ist schon lustig, wie ihr euch gegenseitig foltert, und wenigstens hat sich keiner ausgezogen. Halb skelletierte Zombies will doch keiner nackig sehen. Nein, das hier ist eine prima Möglichkeit, an einen Highlevel-Charakter zu kommen. Meine Gilde wird mich anbeten!«
»Zweifellos«, füge ich mich in mein Schicksal und nehme an meinem Handy die nötigen Eingaben vor.
»Mach dir nichts draus«, sagt Luzi, »du hast ja genug Zeit, einen neuen Charakter zu leveln.«
Ich nicke gequält, habe Luzi aber offenbar so glücklich gemacht, dass sie mir einen Kuss auf die Wange drückt. »Bist von den Wracks hier noch der Netteste«, flüstert sie mir ins Ohr.
Ich überlege, ob ich mich dafür bedanken soll, dann geht die Tür zum Nebenraum auf, und Nanina stakst heraus. »Wir sind dann jetzt fertig.« Sie trägt jetzt Straßenkleidung, gibt Marie-Claire professionell die Hand. »Am besten rufen Sie einen Arzt, man weiß ja nie. Schöne Feier noch!«
Ein verschenkter Wunsch. Unser Spiel ist beendet, Ortmar gräbt sein Handy aus, nicht ohne seine Ehefrau mit fossilen Flüchen zu bedenken. Die meisten warten noch höflich, bis Opi vom Rettungswagen abtransportiert wird, zuerst auf die Intensiv, dann zurück in seinen Tank.
Luzi winkt mir zum Abschied zu.
Ihre Mutter murmelt einen ungelenken Verzeihungsvers.
»Für Intelligenz muss man sich nicht entschuldigen«, quittiere ich. »Sehen wir drei uns die Tage mal?«
»Zu einer Quest? Warum nicht«, lacht Luzi.
»Okay«, seufzt Rosi.
Ich spiele den Verschwörer und raune ihr zu: »Ich hab eine von Opis Pillen geklaut.«
Rosi schließt die Augen, dann sehe ich nur noch ihren Rücken.
Allmählich wird es auch für mich Zeit. Die Aufputschmittel lassen nach. Muss in meinen Tank zurück.
Zeit zum Spielen, Zeit zum Nachdenken.
Hat Rosi als einzige gelogen?