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15 täglich (oder: welcher Hölle gebe ich heute nach?)

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12.11.2003
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15 täglich (oder: welcher Hölle gebe ich heute nach?)

Die letzten Unterlagen sind abgeheftet, der Computer ist runter gefahren und ich habe es sogar noch geschafft, einen potenziellen Bewerber anzurufen. Das hat allerdings etwas länger als geplant gedauert, so dass ich mich jetzt beeilen muss, wenn ich nicht 30 Minuten auf die nächste U-Bahn warten will.

Schnell verabschiede ich mich noch von Mella und Chris, bevor ich zum Aufzug stürze. Glück gehabt, da kommt gerade einer! Kaum hält er im Erdgeschoss an, drücke ich mich auch schon an den zwei schnatternden Sekretärinnen aus dem 11. Stock vorbei und gehe schnellen Schrittes aus dem Gebäude. Die Schwelle gerade überschritten und außer Sichtweite der beiden Tippsen fange ich an zu rennen. Freizeit! Bloß keine unnötige Zeit auf der öden und auch noch kalten U-Bahn Station verbringen müssen.

Heute ist mein Tag! Die U-Bahn steht noch da und ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, einzusteigen.
Wie jeden Tag nach der Arbeit sitze ich also in der U11 und fahre nach Hause. Eigentlich könnte ich mich jetzt wohl etwas beruhigen, stattdessen schaue ich mich um - ein leerer Wagen. Ich bin allein mit meinen Gedanken. Nein, ich will nicht! Ich will nicht denken!

Panik steigt in mir auf - was jetzt kommt kenne ich ja schon. An der nächsten Station steigen zwei "Hose-zwischen-den-Knien-Jungs" zu und ohne es zu wissen, verschaffen sie mir noch eine kurze Galgenfrist. Anstatt mich verrückt zu machen, beobachte ich jetzt also fetthaarige Pickelgesichter, die es für mega-cool halten, wechselseitig ihre Jackenärmel über die Flamme eines Feuerzeuges zu halten. Es lebe die Verdrängung.

Meine Station, ich muss raus. Spätestens jetzt gibt es kein Entrinnen mehr - jeden Tag das dasselbe. Immer wieder die gleiche Panik, die mich ab hier völlig gefangen nimmt.

Sei doch nicht so blöd! Das ist doch alles total krank! Du bist doch sonst so ein analytischer Typ!

Mein Rest-Verstand unternimmt einen letzten Versuch, sich mit logischen Argumenten gegen das immer größer und dominierender werdende Gemisch aus Panik, Angst und Irrationalität zur Wehr zu setzen. Wie jeden Tag kann dieser Kampf nicht gewonnen werden.

Es sind noch etwa 50 Meter bis zu meiner Haustür - der Countdown startet - alles läuft so ab, als habe ich es schon tausend Mal geprobt.

Mein Schritt wird langsamer - ich will nicht, denke meine Angst läßt vielleicht nach wenn ich meine Atmung verlangsame und mich zusammen reiße.
Eigentlich schiebe ich das Unvermeidliche nur vor mir her. Ich schließe die Tür auf und sehe mich dem Dunkel des Hauseingangs gegenüber. Hastig mache ich das Licht an und ziehe die Tür in's Schloss.

Die 15 Minuten in meiner Hölle fangen an:
Langsam - fast schleichend gehe ich die Treppe hoch. Während ich mich Stufe für Stufe meinem Flur nähere sehe ich meine Wohnungstür vor meinem inneren Auge deutlich vor mir. Mein Herz rast und kalter Schweiß bricht mir aus. Gleich werde ich wieder vor der Tür stehen, sie nicht öffnen können und Minuten meines Lebens mit dieser völlig irrationalen und überflüssigen Überlegung vergeuden.

Ich bin auf meinem Flur angekommen und stehe jetzt vor meiner Tür. Komm schon, steck den Schlüssel rein, öffne die Tür und nichts wie rein in die Wohnung!

Und genau das kann ich nicht! Klar ich kann eine Tür aufschließen und eintreten kann ich natürlich auch. Das ist es ja gar nicht. Ich habe Angst die falsche Entscheidung zu treffen. Und jeden Tag ist es das gleiche Problem, die gleiche Entscheidung und trotzdem kann ich diese Minuten nicht überspringen.

Was mache ich sobald ich in der Wohnung bin?
Schließe ich hinter mir ab oder lasse ich die Tür noch kurz einen Spalt weit offen? Warum kann ich es nicht einfach so oder so machen? Wo um alles in der Welt ist denn bloß das Problem?

Und da ist es wieder, mein Dilemma: ich war den ganzen Tag weg und vielleicht ist jemand in meine Wohnung eingebrochen und lauert mir auf. Schließe ich nun hinter mir ab, sperre ich mich mit dem Eindringling ein und bringe mich um den einzigen Fluchtweg und verhindere auch noch, dass mir jemand zur Hilfe eilen kann. Also, warum lasse ich die Tür nicht einen Spalt offen, checke die Wohnung und schließe dann erst ab? In der Zeit, in der ich die Wohnung absuche - ich meine die Küchenschränke, hinter dem Duschvorhang, unter dem Bett und dem Schreibtisch und natürlich auch im Kleiderschrank und auf dem Balkon - könnte ja jemand durch die offene Tür in meine Wohnung kommen und mich angreifen. Wie ich es auch mache, ich habe keine Chance!

Ich drehe durch, mein Verstand hat keine Stiche mehr - ich weiß sogar wie dumm das gerade ist und trotzdem ist es völlig real für mich. Ich habe Todesangst und fühle mich in die Ecke getrieben.
Die Minuten verstreichen und ich fühle mich immer gestörter. Ich gehöre doch in eine Anstalt - das ist doch nicht mehr normal. Ich fange an zu weinen - ich kann einfach nicht mehr!

Mir ist kalt und elend und ich weiß, dass ich in meine Wohnung will und muss. Mit letzter Willenskraft zwinge ich mich dazu, den Schlüssel aus der Tasche zu holen und ihn in's Schlüsselloch zu stecken.
Soll ich wirklich? Na, was soll ich denn wohl sonst machen? Ich drehe ihn um und öffne die Tür.

Ich betrete langsam und ganz leise die Wohnung - Licht mache ich nicht. Die Tür mache ich zwar zu, schließe aber nicht ab. Ich lege vorsichtig meine Tasche ab und nehme eine leere Weinflasche in die Hand. Bewaffnet gehe ich zunächst in's Bad und sehe hinter der Tür und dem Duschvorhang nach. Um meinen Rücken zu decken behalte ich den Badezimmerspiegel in den Augen und spitze die Ohren. Das Bad ist sicher. Also in die Küche - es folgen die Schränke und die kleine Speisekammer. Sicher. Langsam arbeite ich mich in's Wohnzimmer vor - unter dem Schreibtisch ist niemand. Ich komme mir schon etwas bescheuert vor, aber das Schlafzimmer muss trotzdem noch sein. Erst kommen die Schränke dran - davor fürchte ich mich immer besonders schlimm, dann knie ich nieder und checke die Fläche unter meinem Bett. Sicher - alles sicher!

Noch bin ich nicht erleichtert - erst muss ich noch die Tür abschließen - geschafft!

14 Minuten und 23 Sekunden - vielleicht werde auch ich eines Tages die Tür wieder in einer normalen Zeit und ohne Todesangst öffnen können - die heutige Zeit läßt mich zumindest hoffen.

 

Hallo VictoriaJules!

Deine Kurzgeschichte gefällt mir gut. Du schaffst es, die Ängste des Protagonisten gut nachfühlbar zu beschreiben und auch die Diskerpanz zwischen seinen Gefühlen und seinem Verstand bringst du gut zum Ausdruck:
"Ich drehe durch, mein Verstand hat keine Stiche mehr - ich weiß sogar wie dumm das gerade ist und trotzdem ist es völlig real für mich. "

"Langsam arbeite ich mich in's Wohnzimmer vor - unter dem Schreibtisch ist niemand. Ich komme mir schon etwas bescheuert vor, aber das Schlafzimmer muss trotzdem noch sein."

Auch der Schlusssatz, der einen winzigen Hoffnungsschimmer und viele Enttäuschungen durchblicken lässt, gefällt mir gut.

Einen kleinen Fehler habe ich in folgendem Satz gefunden:
"Wie jeden Tag nach der Arbeit sitze ich also in die U11..." - der-

Liebe Grüß, Sonja

 

Auch mir hat der Text gut gefallen, du beschreibst über diese Tür-Wohnungs-Szene seine übertriebenen zwanghaften Ängste. Einen weiteren Fehler habe ich aber dennoch gefunden:

"Schnell verabschiede ich mich noch von Mella und Chris, bevor ich zum Aufzug stürze"

 

Schöne Geschichte.
Sehr eindringlich geschrieben.

Bis kurz vor die Wohnungstür tappt man imme rnoch im dunkeln und als sich dann der Grund für ihre Angst heraustellt, ist ihr Verhalten plötzlich verständlich.

Ich perösnlich denke, die Protagonistin ist schon einmal überfallen oder in ihre Wohnung ist eingebrochen wurden. Sonst bekommt man ja solche Angstzustände nicht. Oder?

Vielen Dank fürs lesen dürfen
Steffi

 

Danke für Eure schnellen Reaktionen - freut mich, dass die Geschichte Wirkung hat.

Aus Euren Kritiken schließe ich, dass ich das mir Wichtige transportiert habe - wie schön!

Liebe Grüße,
Jules

 

Hallo VictoriaJules

Auch ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen. Die Angst deiner Prot. hast du treffend und bildlich beschrieben. Auch dass sie nicht nur daheim vor Einbrüchen, sondern auch allgemein Angstzustände, wie in der Bahn hat beflügelt meine Phantasie.
Hat sie ein schlimmes Erlebnis gehabt? Ist ihr Allgemeinzustand immer so?

Doch würde ich noch ein paar Kleinigkeiten abändern, um das flüssige Lesen zu vereinfachen:


Geschafft! Die letzten Unterlagen sind abgeheftet, der Computer ist runter gefahren und ich habe es sogar noch geschafft, einen potenziellen Bewerber

Ich würde das Erste "Geschafft" weglassen.

jeden Tag das gleiche. Immer wieder die gleiche Panik, die mich ab hier völlig gefangen nimmt.

würde ich schreiben: jeden Tag dasselbe. Immer wieder die gleiche Panik

Eigentlich schiebe ich das Unvermeidliche nur auf. Ich schließe die Tür auf und der dunkle Hauseingang liegt vor mir.

vielleicht: Eigentlich schiebe ich das Unvermeidliche nur vor mir her. Ich schließe die Tür auf...


mich Stufe für Stufe meinem Flur nähere sehe ich meine Wohnungstür vor meinem inneren Auge deutlich vor mir

oder:mich Stufe für Stufe dem Flur nähere, sehe ich meine Wohnungstür...

Ich hoffe dir gefallen meine Verbesserungsvorschläge
Einen schönen Abend wünscht dir

Morpheus

 

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