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# 119, Greenbelt
Blau.
Blau und Rot.
Die verschwommenen Farben tanzten vor Lick Turners Augen, ohne dass er die Augendeckel hob. Er fühlte die Farben und sie schmerzten in seinem Kopf. Sie tanzten und wanden sich, schlangen sich ineinander und lösten sich. Rotes Rot und blaues Blau. Heißes Rot und kaltes Blau. Kalt wie Eisschollen im Polarmeer und heiß wie der Wüstensand der Namib. Lick wurde es übel von dem Farbenspiel, von der Unrast und der Schnelligkeit der ständig wechselnden schattenhaften Umrisse. Er drehte den Kopf zur Seite um sich zu übergeben und öffnete die Augen dabei ein wenig. Nur verschwommen und unscharf konnte er seine Umgebung wahrnehmen. Er sah weiße Wände und Paravents, medizinische Geräte, chromblitzende Metallarme. Jemand war im Raum. Lick nahm jemanden war, Personen, Worte, die sich zu unverständlichen Sätzen formten, Bewegungen huschten vor seinen halb geöffneten Augen wie Schattenspiele.
Lick versuchte die rechte Hand an seinen Kopf zu heben. Die Hand folgte seinem gedanklichen Befehl, aber es war die Hand eines anderen, er fühlte den Arm, die Hand nicht. Er bewegte langsam die Finger, aber die Nerven antworteten ihm nicht. Gespenstisch bewegte sich der Arm wie ein fremdes, unwirkliches Reptil aufrecht auf seinen Kopf zu, befühlte die Stelle an seiner Schläfe, von der das Licht kam. Die Finger fühlten einen ovalen, gläsernen Gegenstand, wie ein kleines Positionslicht an einem Boot. Kalt und glatt kam es aus seinem Kopf. Die Finger umfaßten es, zogen, drückten. Aber das gläserne Oval war fest mit seinem Schädelknochen verbunden.
Lick ließ die fremde Hand neben sich auf das weiße Bettlaken sinken.
Jemand legte seine Hand auf den fremden Arm, hielt ihn unten und faßte an die gläsernen Auswüchse an seinem Kopf. Er vernahm ein dumpfes Klicken und spürte kalte Kunststoffkabel an seinen Wangen und auf seiner Brust. Er öffnete seine Augen weiter und sah immer noch das Farbenspiel von ineinander laufendem Blau und Rot. Das Rot war vor seinem rechten Auge stärker, das Blau vor seinem linken. Es schien jeweils aus seinen Augenwinkeln zu kommen und reflektierte an der strahlenden weißen Decke über ihm, tauchte den Raum in ein gespenstisches Spiel von Kalt und Heiß, erinnerte ihn an Polizei, Feuerwehr, Gefahr und Tod.
Lick bäumte sich auf. Schmerzen verzerrten sein Gesicht und seine Finger krampften sich in die weißen Laken.
Farben. Bildfetzen wie von unfertigen Puzzles. Kinder, die in einem gelben Plastikplanschbecken spielten, eine Frau, die lachend am Gartengrill stand und Steaks grillte, .... eine Hochzeit, Menschen, die ihm gratulierten, Freunde und Kollegen, die ihm auf die Schultern klopften,.... ein Büro, angefüllt mit Menschen die alle in kleinen Verschlägen vor ihren Computern saßen und eifrig Zahlen und Worte hineintippten, ....Lick stand in Wathosen in einem Fluß, das rauschende Wasser umspülte seine Füße und Waden, er hielt die Forellenangel in seinen Händen, die Kinder neben ihm.
Vor seinem geistigen Auge formten sich die Erinnerungen an Kindergeburtstage mit Girlanden und Kuchen und Geschrei und Kinderspielen, dazwischen eine liebevolle Frau, die ihn küßte und versuchte, die wilde Meute zu bändigen.
Bilder von Bergen und Schnee und Kindern auf Skiern wechselten sich ab mit Szenen in einer Schule, Gespräche mit Lehrern, Männer und Frauen, die zu ihm an den Schreibtisch kamen und ihm Mappen mit Papieren hinlegten, Streit mit einer Frau, laute Worte, Türenknallen. Dann Krachen von Blech und Bersten von Metall. Ein Unfall, Feuerwehr, Polizei. Blau und Rot.
Wer waren die all´ Menschen?... die Frau? ... die Kinder? Sydowski. Wer ist Sydowski?
Lick konnte sich nicht erinnern? Er lebte alleine in ......... wo lebte er? Er hatte es vergessen, aber es war auch nicht wichtig, er lebte alleine. Oder verwechselte Lick etwas? Er war durcheinander, die Bilder rissen nicht ab. Er wehrte sich gegen die Erinnerungen, an die er sich nicht erinnern konnte. Oder wollte er sich nicht erinnern? Versuchte er nur, etwas unliebsames zu verdrängen? Lick war sich nicht sicher, er war durcheinander, verstört.
Unzählige Erinnerungsfetzen setzten sich zu vollständigen Bildern zusammen, die Puzzleteile ergaben Sinn. Ein Haus in der Vorstadt mit grünem Rasen davor, Bäume entlang des Weges und der Auffahrt, einem Garten hinter dem Haus. Seine Frau stand in der Tür und winkte ihm auf Wiedersehen. Ja, seine Frau, die er so liebte, die er achtete und verehrte. Die Kinder kamen mit ihren Fahrrädern aus der Garage, bepackt mit ihren Schultaschen, winkten und fuhren lachend und laut rufend davon. Ein warmes, heimeliges, schweres und tiefes Gefühl durchfuhr Lick. Seine Kinder, seine Erfüllung, sein Leben, sei ganzer Lebensinhalt. Seine Frau und seine Kinder. Vor allem die Kinder. Sein ein und alles.
Seine Gedanken stieben durcheinander. Er konnte sich nicht konzentrieren, nicht auf einen Gedanken festlegen. Die Gedanken rotierten vor ihm wie die Holzpferde eines alten Karussells vorbeifliegen. Er würde gerne eines dieser Holzpferde besteigen, auf ihnen reiten, wieder ein Junge sein, damals in ...... Wo? Er wußte nichts mehr, konnte sich nicht erinnern. Nicht mal daran, je ein Junge gewesen zu sein. Je jung gewesen zu sein. Je auf einem Karussellpferd gesessen zu haben. Er wußte nicht wie alt er war. Er fühlte sich alt. Sehr alt. Äonen von Äonen überschatteten seinen Geist. Er fühlte mehr als die Summe des Ganzen. Er wußte ohne zu wissen, Verstand, ohne zu verstehen. Er war.
Dick Sydowski wachte auf. Er schreckte hoch von der Hupe des Autobusses, der vor ihm an der Haltestelle vorfuhr, anhielt und die Türen öffnete. Dick nahm verschlafen seine Aktentasche, die neben ihm lehnte, und bestieg durch die vordere Tür den Bus. Er grüßte den Busfahrer, zahlte für sein Ticket und ließ sich auf einen der vorderen Sitze fallen. Es ging ihm nicht gut. Er war müde und sein Schädel brummte von Kopfschmerzen. Er faßte mit den Fingern an seinen Kopf und massierte die Schläfen dort, wo die winzigen Narben des Unfalls zurückgeblieben sind.
Es war ein anstrengender Tag im Büro und er war froh, wenn er zu Hause bei seiner Frau und den Kindern Entspannung suchen konnte. Er liebte seine Familie über alles, er schuftete im Büro, machte Überstunden, arbeitete Samstags und nahm nur selten frei, aber das war es ihm wert. Er sah seine Kinder heranwachsen, kräftige, intelligente Kinder, die ihm viel Freude bereiteten. Dick erzog sie wie er selbst erzogen wurde: anständig, pünktlich, ehrlich, treu, fleißig, arbeitsam, gehorsam, gläubig. Es waren gute Kinder. Kinder, wie sie sich jeder wünscht.
Die Türen des Busses schlossen sich mit einem zischenden Geräusch und der Bus bog auf die Fahrbahn in Richtung Vorstadt.