Mitglied
- Beitritt
- 28.08.2016
- Beiträge
- 229
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
113. Etage
113. Etage steht auf dem Bildschirm, als der Aufzug zum Stillstand kommt. Ich hebe den Putzeimer hoch, während die Lifttüren aufgleiten. Dahinter wartet ein großräumiges Vorzimmer auf mich. Den anderen Stockwerken nach zu urteilen, müsste an dieser Stelle nur ein enger Flur sein. Der würde hier aber nicht passen. Nein, die Penthouse-Suite muss ja unbedingt pompös wirken. Für mich als Putzfrau bedeutet das bloß mehr Arbeit. Je größer das Zimmer ist, umso länger dauert das Reinigen. Das wurde hier oben offensichtlich schon lange nicht mehr getan, die Dicke der Staubschicht verrät es.
Mein Wischmopp durchbricht die Stille, indem er platschend auf dem Marmorboden landet. Der muss unheimlich teuer gewesen sein. Alleine dieses Vorzimmer ist schon riesig. Wenn es mein Elternhaus noch geben würde, hätte es hier drinnen locker Platz. Was für eine Geldverschwendung. Hinzu kommt auch noch, dass dieses Penthouse seit Ewigkeiten nicht mehr belegt war. Wie lange ist es her? Die Position des Hotelmanagers wurde seitdem jedenfalls mehrmals gewechselt. Von allen, die ich schon erlebt habe, finde ich die derzeitige Managerin am ahnungslosesten. Ansonsten würde sie mich nicht einfach losschicken, um irgendeines der tausenden Hotelzimmer wieder in Betrieb nehmen zu können. Sie kennt große Teile des Hotels selbst nicht einmal. Ich war hier zwar auch noch nie, habe aber nicht das Sagen. In meiner Situation erfahre ich nur das Nötigste. Zu gerne wüsste ich, warum diese Suite überhaupt so zurückgelassen wurde.
Ich wische, bis ich meine Reflexion am Boden erkennen kann. Auch die Stufen, die zur wuchtigen Eingangstür führen, sind jetzt wieder sauber. Der Türrahmen besteht aus dunkel lackiertem Tropenholz und ist neben dem Türgriff abgesplittert. Wollte sich hier etwa jemand Zutritt verschaffen? Ich stecke die Magnetkarte ein und betrete nun endlich die Luxus-Suite.
Hier wartet eine ovale Atriuminsel auf mich, um die ein breiter Gang herumführt. In der Mitte wuchern zahlreiche Topfpflanzen, die sich schon auf den angrenzenden Sitzmöbeln ausgebreitet haben. Manche der Ton- und Steintröge liegen da, als hätte sie jemand umgeworfen. Aber wozu? Der Geruch von Staub und Dreck liegt so deutlich in der Luft, dass ich mich am liebsten wieder umgedreht hätte. Wie soll ich das jemals wieder sauber machen? Räume wie diese sollten nie so lange zurückgelassen werden. Als Durchgangsbereich ist es sinnvoll, ihn erst ganz am Schluss zu reinigen. Stattdessen wende ich mich den Wänden zu, wo viel zu viele Türen auf mich warten.
Die erste Tür führt in ein – klarerweise sehr geräumiges – Badezimmer. Eine überdimensionale Badewanne ist in der Mitte des Raumes im Boden eingelassen. Sie wird mit goldenen Fliesen umrahmt, die früher makellos geglänzt haben müssen. Jetzt sind sie aber schmutzig und verwischt. Das ist bestimmt nicht leicht wegzukriegen. An den Wänden befinden sich Waschbecken, vier undurchsichtige Glastüren und ein raumhoher Spiegel. Trotz seiner verdreckten Oberfläche kann ich mein Spiegelbild darin noch gut erkennen. Meine zerzausten Haare und trübe Augen verraten, wie müde und erschöpft ich bin. Bei dem Anblick wird mir ganz unwohl zumute. Etwas stimmt nicht, liegt in der Luft, aber was? Hoffentlich schimmelt es hier nirgends.
Ich beginne, die Räume hinter den Glastüren zu untersuchen. Sie führen jeweils in eine Sauna, eine Dusche, ein WC und in eine Art Abstellraum. Dieser Raum besitzt Regale mit Seifen, Shampoos, Putzmitteln, Arzneien und anderem Zeug. Am Boden liegen ein weißer Plastikstuhl und eine viel zu lange Halskette. Als ich mich nach unten beuge, wird mir schwindelig. Das Putzen im Vorzimmer war wohl anstrengender, als ich dachte. Ich fädle die Kette aus den Stuhlbeinen heraus und nehme sie an mich. Trotz ihrer Überlänge gefällt sie mir. Vorsichtig drehe ich mich zum Licht und halte das Schmuckstück nach oben. Jeder Edelstein darin ist anders, sie funkeln in verlockenden, warmen Farben. Ich atme tief aus. Juwelen sind ein Luxus, den ich mir nie leisten konnte.
Probiere sie an, denke ich. Nur jetzt hast du die Chance dazu. Also gut. Davon muss ja niemand erfahren. Meine Arme schmerzen unter dem Gewicht der Halskette, als ich sie über meinen Kopf hebe. Doch sie ist einfach zu groß und schwer. Ich falle durch sie hindurch, verliere meine Balance und schlage am harten Fliesenboden auf.
„Du liebe Zeit!“, spricht eine aufgebrachte, kräftige Stimme neben mir. „Was fällt Ihnen denn ein?“
Ich rapple mich auf und bemerke einen molligen Mann im Bademantel, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Sein Anblick lässt mich erstarren, mein Gesicht wird heiß. Was macht der denn hier? Er deutet auf die Halskette, die zu meinen Füßen am Boden liegt.
„Haben Sie etwa die Kette angefasst?“
Mein Blick wandert zu den Badezimmerfliesen, die ganz verschwommen erscheinen. Ich reibe meine Augen, doch der Effekt bleibt. Als ich aufsehe, blicke ich genau ins Gesicht des Mannes, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen mustert. Hastig suche ich nach einer passenden Antwort.
„Ich– nein! Ich habe nur geputzt. Wer sind Sie?“
„Oh, wie unhöflich von mir. Ich bin bekannt als Herr Thumel und bewohne dieses Penthouse seit geraumer Zeit. Und mit wem habe ich es zu tun?“
„Ich heiße Jia und gehöre zum Reinigungspersonal“, antworte ich mit einem erzwungenen Lächeln. „Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit. Ich dachte, dass diese Suite gerade nicht belegt ist. Deshalb wurde hier auch schon lange nicht mehr sauber gemacht … und ich habe gerade erst damit angefangen.“
„Ach, vergessen wir diesen unbedeutenden Zwischenfall. Ich bin froh, dass Sie hier sind. Und für die Reinigung bin ich natürlich zutiefst dankbar! Es stimmt durchaus, dass hier seit Jahren niemand mehr geputzt hat. Ich würde es ja selbst machen, aber … das ist einfach keine Option.“
Ich verstehe nicht, was er damit meint. Ist er etwa zu reich und pingelig, um sich selbst die Finger schmutzig zu machen? Mir fällt auf, dass seine Kleidung überraschend rein aussieht. Ich blinzle mehrmals, um klare Sicht zu bekommen. Der violette Stoff des Bademantels weist nur ein paar Scheuerspuren im Bereich des Bauches auf. Mit diesem Mann stimmt etwas nicht. Ich kann hier nicht weitermachen, bevor ich herausfinde, was es ist.
„Wie können Sie hier leben?“, frage ich schließlich.
„Das ist eine ausgezeichnete Frage“, meint er. „Kommen Sie mit. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, das mich seit Langem belastet.“
Immer noch ratlos folge ich Herrn Thumel zurück in den ovalen Atriumbereich. Das Ende seines Bademantels zischt leise hinter ihm her, während er sich in einem gleichmäßigen Tempo bewegt. Es sieht fast so aus, als würde er schweben. Oder ist es meine verschwommene Sicht, die mir Streiche spielt? Ich massiere abwechselnd meine Augenlider, doch ohne Erfolg.
Warum wurde mir eigentlich gesagt, diese Suite sei leer? Dass die Hotelmanagerin über vieles nicht Bescheid weiß, ist klar. Aber wie kann sich ein Gast so unbemerkt in dieser Suite aufhalten? Hier läuft einiges gewaltig falsch.
„Ihnen ist bestimmt schon aufgefallen, dass hier noch viel zu tun ist“, sagt Herr Thumel, während wir dem erhöhten Gang über der verwilderten Atriuminsel folgen. „Aber vergessen wir das vorerst einmal. Es gibt da eine wesentlich wichtigere Angelegenheit.“
Wir erreichen eine ausladende Treppe, die ein Stockwerk nach oben führt. Sie verläuft schwungvoll ums Eck, bis sie in einer imposanten Loggia endet, die wie ein Keil in den Wolkenkratzer geschnitten ist. Eine weitläufige Terrasse reicht bis zur meterhohen Glasbrüstung, hinter der sich die nächtliche Großstadt erstreckt. Weil sich die Decke steil nach oben öffnet, wirkt dieser Ort noch riesiger und wuchtiger, als er bereits ist. Die entfernten Hochhäuser sind von künstlichen Neonlichtern umhüllt, doch die Terrasse liegt im Dunkeln. Ihr ungewöhnlich leeres und nicht ihren Zweck erfüllendes Dasein lässt mich schaudern.
„Hier war früher mein Skulpturengarten“, erklärt Herr Thumel. „Ich ließ meine Kunstobjekte eigens hierherbringen, da ich einen langen Aufenthalt plante. Darunter befanden sich richtige Schätze … Marmorstatuen aus Rom, Wasserspeier von gotischen Kathedralen, viktorianische Kupferfiguren … aber jetzt ist alles weg.“
„Wieso?“ Ich versuche, interessiert zu klingen. Hat mich dieser komische Typ etwa nur mitgeschleppt, um mich über seine Skulpturen vollzuquatschen?
„Sie erinnern sich nicht? Der Vorfall hat es doch bestimmt auf die Titelseiten aller Zeitungen geschafft. Nun gut, ich gebe zu, dass es schon lange her ist. Jedenfalls wurde ich damals mitten in der Nacht aus meinen Träumen gerissen. Es war der Krach von splitterndem Holz, der mich weckte. Ich stand auf, um nachzusehen. Und tatsächlich: Die Eingangstür war aufgebrochen. Ich hörte weitere Geräusche im Badezimmer. Naiv, wie ich war, sah ich dort nach und fand zwei Einbrecher.“
Schon ist meine Gleichgültigkeit verflogen. Ein Einbruch. Das hat sich hier oben also ereignet. Aber warum wurde mir nie davon erzählt?
„Es waren allerdings keine gewöhnlichen Einbrecher“, fährt Herr Thumel fort. „Normale Einbrecher hätten mich gefesselt und geknebelt. Aber diese beiden Schurken hatten eine besondere Ausrüstung mit. Sie hingen mir eine Geisterkette um, die mir allmählich das Bewusstsein raubte. Ich wusste nicht, wie sie funktionierte, doch der Effekt war stark.“
„Wie bitte?“ Ich muss mich verhört haben. „Eine Geisterkette?“
„Keine Sorge. Ich erkläre Ihnen gerne alles, was ich darüber weiß. Es ist ein gefährliches Relikt, das die Besinnung seines Trägers verlangsamen kann. Während mich die Diebe zurückließen, nahmen sie alles mit, was sie tragen konnten. In der Zwischenzeit versuchte ich, mich von der Kette zu lösen. Doch dieses Manöver war ein fataler Fehler. Denn die Geisterkette hat noch eine weitere Fähigkeit. Wenn man sie durchsteigt, verlässt man die Realität. Sie ist sozusagen ein Portal, das jedoch nicht sofort wirkt. Der Übergang dauert eine Weile. In meinem Fall war niemand anwesend, um meine Verwandlung in einen Geist zu stoppen. Meine letzte Erinnerung als Lebender ist der Moment, als ich mit dem Stuhl umkippte und bewegungslos am Boden landete.“
Die gesagten Worte hallen in meinem Kopf wider. Ich wusste doch nicht, dass die Kette im Badezimmer gefährlich ist! Allmählich dämmert mir, was das für mich bedeutet, doch ich will es noch nicht wahrhaben.
„Ich … ich bin auch durch die Kette gefallen. Heißt das–“, stammle ich, bevor mich Herr Thumel unterbricht.
„Das dachte ich mir. Es ist schade, dass Sie nicht freiwillig hierhergekommen sind. Zumindest bin ich jetzt nicht mehr alleine … hier in dieser Welt. Spüren Sie es? Das Penthouse, Sie und ich … sind nicht das, wonach sie aussehen. Wir sind nicht mehr an jenem Ort, den Sie Realität nennen.“
„Aber … ich will das nicht …“ Das Atmen fällt mir schwer. Ich suche nach Mitleid in Herrn Thumels Augen, doch er spricht ungerührt weiter:
„Als Geist kann man die Verwandlung nicht umkehren. Es müsste Sie schon jemand von der anderen Seite rausziehen. Und das halte ich für unwahrscheinlich. Ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit, dann sind Sie genauso tot wie ich …“
Schwindel überfällt mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich fasse mit beiden Händen an meinen Kopf, der sich schon ganz taub anfühlt. Das geschieht doch gerade nicht wirklich. Hilflos muss ich mitansehen, wie sich das Erscheinungsbild meiner Umgebung noch stärker verändert. Die fernen Gebäude wachsen in die Höhe, bis sie mit dem Nachthimmel verschmelzen und ihre Fenster nicht mehr von den Sternen zu unterscheiden sind. Ich hätte es längst ahnen sollen, dieser Ort hat nichts mehr mit der Realität zu tun. Glaswände fliegen auf mich zu und formen ein enges Gefängnis. Ich blicke in alle Richtungen, doch es gibt keinen Ausweg.
„Wenn ich Ihr Verhalten richtig deute, haben Sie gerade Ihr Finale vor sich.“ Herr Thumel steht wie ein amüsierter Zuschauer neben mir. „Ich fühle mich geehrt, dabei sein zu können!“
Angst und Hilflosigkeit umkreisen mich. Nur mit Mühe kann ich dagegen ankämpfen. Da lässt der Druck für einen Moment überraschend nach, sodass ich kurz nachdenken kann. Warum musste ich mir bloß diese Kette umhängen? Ich hätte sie einfach liegen lassen sollen. Putzfrau zu sein war nie mein größter Wunsch, doch alles ist besser, als die Welt der Lebenden für immer zu verlassen.
„Jia! Was ist passiert?“, spricht eine Stimme zu mir. „Jia, sag doch was!“
Ich blicke Herrn Thumel ratlos an, er regt sich aber nicht. Die Stimme klingt auch nicht nach ihm, sondern nach meiner Hotelmanagerin … ich begreife erst, was passiert, als alles um mich herum verblasst.