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11 Leute reden über etwas, das in einem Keller passiert ist, den es so nicht gibt
Häuser bringen keine Menschen um. Menschen bringen Menschen um. Oder ein Virus. Oder mal ein Hai. So ein echt fieser Hai, wie in dem einen Film, wo es um einen echt fiesen Hai geht. Aber ein Haus? Wie soll das denn gehen? Ein Haus hat keinen eigenen Kopf. Und wenn man mich fragt: Wer so was sagt, der tickt doch nicht ganz richtig.
Hier, so ein Typ aus der Stadt – ich hab die Geschichte ja auch nur gehört. War wohl mal Gottweißwas für eine Nummer. Werber, Werbung, PR-irgendwas. Soll die McDonalds-Werbung mit dem Yeti gemacht haben. Immer Fett im Haar, schwarze Augenbrauen, so eine Solariumsdunkelheit. Sah bisschen aus wie der Ossi-Fußballer, der jetzt bei den Tommies spielt. Eins zu eins wie der Michael Ballack, sah der aus.
Und seine Frau war auch so ’ne hübsche Lange, wie man sie hier gar net sieht. Die Leute werden ja immer größer. In dreißig Jahren passt keiner mehr durch eine Tür. Da sind zwei Meter dann normal und alles andere ist klein. Also die Frau von dem war so eine ganz lange. Auch ’nen langen Hals hat die gehabt und viele hier haben sich auch den Hals nach der umgedreht. Mein Geschmack war’s ja nicht. Ich hab sie lieber in Bodennähe. Da kann man sie auch besser im Auge behalten.
Die Frau hat mich immer nett gegrüßt, eine liebe Person, hatte es nicht leicht hier. Ich bin vor einigen Jahren hierhergezogen und die Dörfler sind schon etwas eigen, nicht so wie man es sich vorstellt, aber eigen sind sie doch, wobei der Mann ja, - lassen Sie mich nichts Falsches erzählen – von hier stammt, wenn ich das alles richtig verstanden habe und nur in das Haus seiner Eltern zurückgegangen ist. Und das Haus ist so ein grauer, großer Klotz, irgendwann zwischen den Kriegen gebaut, meine ich gehört zu haben, aber wer hat mir das denn erzählt? Ach, ist ja auch nicht so wichtig. Jedenfalls die Frau war eine ganz liebe, aber auch traurig. Wenn man im Garten eine Rose von der Sonnenseite nimmt und sie umtopft in den Schatten und dann dauert’s nicht lange, nur zwei, drei Wochen und sie lässt den Kopf hängen. Das ist kein schöner Anblick.
Am Anfang hat sie die Haare immer nach oben toupiert und wenn sie einkaufen ging, hatte sie den Korb über dem linken Arm baumeln und es lag vielleicht ein Weißbrot darin oder frische Tomaten – und der Wagen war auch immer blitzsauber, aber so nach einer Zeit, na man soll ja nichts Schlechtes über die Leute reden. Ein schöner Anblick war das jedenfalls nicht. Und die Frauen hier zerreißen sich schon mal – sie tratschen halt gern. Man kann sich das ja vorstellen, da kommt eine aus der Stadt, die hier allen den Kopf verdreht ein wenig, und ihr Mann ist ein echtes Sahnestückchen, den man aber kaum zu Gesicht bekommt, und dann lässt die sich nach ein paar Wochen schon so gehen. Man muss sich da anpassen. Schlecht ist es hier ja nicht. Es gibt ein Theater und Konzerte, letztens war sogar der Howard Carpendale hier. Nur zwanzig Kilometer in der Stadt. Müsste man halt nur mal hinfahren.
Ich hab nicht so viel Zeit, aber: Der Thomas war schon okay. Nicht so gut, wie er dachte, aber das hat man häufig. Hatte ein paar gute Ideen, aber schon drei, vier Jahre drüber. Bisschen hinter der Zeit. Haben dann entschieden, dass es für beide Seiten das Beste ist, wenn man getrennte Wege geht. Man braucht da immer eine Blutauffrischung. Ist nicht wie bei meinem Vater, dass man dreißig, vierzig Jahre im selben Betrieb ist, mit goldener Armbanduhr und einer Feier im Partykeller, wenn’s in die Rente geht. Sieben Jahr sind das Maximum, dann ist es Zeit für frischen Wind.
Seine Frau? Jo, die hatte schon Feuer. Was soll ich da groß sagen? War kein Kind von Traurigkeit. Gab da schon ein paar Gerüchte, dass sie ihn mal im Büro besucht hat, wenn’s ein bisschen länger ging. Für den kleinen Hunger zwischendurch. Bisschen unterm Stuhl gearbeitet. Bill Clinton. Mehr will ich dazu gar nicht sagen. Schade drum.
Ich kann mich noch an Thomas als kleines Kind erinnern, der hat immer mit unserm Rüdiger zusammengespielt. Aber das war auch nur bis der Thomas aufs Gymnasium ging, der Rüdiger hätte ja auch das Zeug dazu gehabt, das ist für mich gar keine Frage, aber der hat’s da auch schwer gehabt mit der Mathe. Und wir waren ja auch nur einfache Leute. Mein Mann ist Elektriker, da geht der Sohn nicht so leicht aufs Gymnasium, das haben wir damals bei dem Elternabend schon gesehen, wenn wir da saßen und haben kaum den Mund aufgekriegt und die Eltern von Thomas, die haben sich gemeldet und das Wort ergriffen und mit den Lehrern ganz anders gesprochen. Der Vater war in der Stadt beim Amt, glaube ich. Und seine Mutter auch so eine feine Person, die immer den Kopf oben getragen hat und den Rücken durchgestreckt und sie meldeten sich dann und ließen sich erklären, wie das Lateinangebot an der Schule sei. Und ob es Ausflüge gäbe und Schulpartnerschaften und wie man es denn sähe, ob nicht Französisch doch die bessere Wahl sei. So haben die gesprochen, das muss man sich mal vorstellen. Gäbe und sähe und sei.
Als beim Thomas die Noten schlechter wurden, so mit zwölf, dreizehn, und vielleicht haben sie da gemerkt: Das Gymnasium ist doch zu schwer für unseren lieben Sohn, da haben sie ihn auf ein Internat geschickt, auf so eine piekfeine Privatschule. Hielten sich schon für was Besseres. Haben’s ja auch nicht lange gemacht. Er: Herzinfarkt mit fünfzig; sie: Darmkrebs mit siebenundvierzig. Mein Mann ist jetzt achtundfünfzig und noch bei bester Gesundheit und unserm Rüdiger geht’s auch noch gut, was man von ihrem Thomas ja nicht so richtig sagen kann.
Oh tut mir leid, das klang jetzt boshaft, oder etwa nicht?
Ich hab viel darüber gelesen, ich kannte sie nicht, aber ich hab viel darüber gelesen. Und ich hab mir meine Gedanken gemacht. Aber so richtig schlau werde ich daraus auch nicht. Der muss ja in diesem Keller angeblich Tage verbracht haben und gebuddelt und die Wand abgetragen haben, aber da war doch nur ein einziger Raum? Und wo hat er da gegraben? Was hat die Frau denn da für Geräusche gehört? Der kann ja nicht wochenlang auf dieselbe Wand eingeschlagen haben, ohne dass da was passiert ist?
Und die Geschichte, dass da im Keller ein Mädchen lebendig begraben .. also mir ist das ein bisschen zu sehr Steven Spielberg, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ein Judenmädchen so mit siebzehn, achtzehn, einfach eingemauert und vergessen, weil die Hausbesitzer deportiert wurden? Ich bitte Sie.
Ja, sie hatten große Probleme – Wollen Sie eine Zigarette? Ich rauche, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Johanna hat mehrmals angerufen, um Hilfe geschrien, wie ich heute weiß, aber man ist ja dann so in sich selbst gefangen und in seiner eigenen, kleinen Welt, dass man das alles gar nicht mitbekommt. Und Johanna war schon ein wenig – aus den Augen, aus dem Sinn. Ich weiß, das hört sich schrecklich an, aber so war es nun mal: Verschleppt er sie in die Provinz. Und wir waren gute Freundinnen. Ich weiß, es denken jetzt alle, es war so oberflächlich alles und wie aus dem Katalog. Als würden wir den ganzen Tag nur an Nägel denken und an Frisuren und mit unseren Männern dann, aber das ist Unsinn, was man da liest. Wir sind Menschen aus Fleisch und Blut wie jeder andere auch. Und ich mache mir Vorwürfe, nicht richtig zugehört zu haben, als sie anrief und sagte, der Thomas sei ganz anders, seit er wieder in dem Haus ist. Früher hat er jede Nacht bis zwei Uhr morgens an seinem Schreibtisch gesessen und gearbeitet. Hatte da die besten Ideen. Und sie ist dann manchmal zu ihm, genau um zwei Uhr nachts, hat ihn von hinten die Hände auf die Schulter gelegt, ihm in den Nacken gepustet und gesagt: „Wach auf, mein Prinz.“ Und dann haben sie miteinander geschlafen.
Ich weiß nicht, ob sie wollen würde, dass man das erzählt. Aber ich denke, es ist wichtig, dass die Leute begreifen: Das waren Menschen aus Fleisch und Blut. Das war nicht nur die Schlagzeile. Das waren wirklich gute Menschen.
Also so was hab ich noch nie gesehen. Darauf wird man auch gar nicht vorbereitet, darauf kann man auch keinen vorbereiten, glaub ich. Wir schneiden mal einen vom Balken, letzten Sommer hatten wir ein Mädchen im Fluss, das war auch kein schöner Anblick, aber schon als man das Haus betreten hat, ist es einem kalt den Nacken runtergelaufen und die Härchen haben sich gestellt. Ich weiß, das hört sich alles furchtbar banal an, aber das war – man hat da was gespürt.
Sie müssen sich vorstellen, der menschliche Körper hat sieben Liter Blut. Das ist eine ganze Menge, das hört sich so wenig an, aber das ist ja nicht in Flaschen gefüllt, das sind Lachen auf dem Boden, das ist überall, das ist an den Wänden, das riecht, das stinkt. Du kriegst das Bild gar nicht mehr aus dem Kopf. Und es waren ja zwei Leichen. Also vierzehn Liter. Das sind zwei Wasserkisten. Und dieser Steinpickel steckte noch in ihrem Kopf. Das war eine Spitzhacke, wie man sie benutzt, um eine Mauer aufzureißen. Und die Mauer war ja aufgerissen und dahinter – ja, wenn ich heute dran denke, da mein ich noch ein Skelett dort liegen zu sehen. Wie in der Geisterbahn, aber da war nichts, da machst du dich ja selbst verrückt. Das war alles in diesem Kellerraum, wenn man da reinging, lag sie da auf dem Bauch mit der Spitzhacke und er mit der offenen Kehle kniete vor diesem Mauerdurchbruch und dahinter das Skelett, aber das war ja gar nicht da. Das bildest du dir nur ein und dann liest du die Zeitungen und Ausschnitte aus irgendeinem Tagebuch und reimst dir was zusammen.
Ich hab die Polizei gerufen. Ich hab Schreie gehört. Ich wohn direkt nebenan. Ich hab nicht viel mitbekommen, ich arbeite lange und wenn ich dann nach Hause komme, hab ich auch keinen Kopf mehr für so etwas. Dann will ich meine Ruhe und wenn dann jemand ständig schreit, das stört. Da kann man nicht schlafen. Auch zu unmöglichen Zeiten wurde da auf einmal geschrien. Und das Hacken, das kann man sich nicht vorstellen, was das für eine Lautstärke erreicht. Meine Frau immer: „Ach, Ach, Ach“. Kümmer dich doch mal drum, einer muss sich doch mal darum kümmern. Und wenn er sie doch schlägt.
Und ich gesagt: „Das sind gute Menschen. Die wollen auch nur ihre Ruhe.“ Und wenn er sie doch schlägt, dann soll sie die Polizei rufen.
Und meine Frau hat ja gar keine Schreie gehört. Meine Frau schläft wie ein Walross in der Sonne. Ich hab sie aufgeweckt und gefragt: „Sag mal, hörst du das nicht?“ Und sie hat gesagt: „Nein, ich höre gar nichts. Komm, sei still und schlaf. Morgen ist wieder ein schwerer Tag.“ Und als es dann mal eine Nacht besonders laut war, war’s in der Nacht darauf ganz still und in der Nacht darauf auch und dann hab ich die Polizei gerufen.
Ich habe meine Hilfe angeboten, ich habe für sie gebetet. Ich war für meine Gemeinde da, nicht nur nachdem es passiert ist. Man kann sich kaum ausmalen, wie viele Leute danach zu mir kamen, und sie wollten wissen, wie der Herr das zulässt, dass in ihrer eigenen Mitte, solche Menschen leben, die zu solchen Taten fähig sind. Ein Mann, der die eigene Frau erschlägt mit einer Spitzhacke, um Himmels willen. Ich hab für sie gebetet.
Ich habe seine Eltern in den letzten Stunden begleitet, ich habe ihn getauft, ihn konfirmiert, vermählt hab ich ihn nicht, das hat er woanders machen lassen – und als er dann zurückkam, bin ich zu seinem Haus, um das verlorene Schaf willkommen zu heißen. Habe mich gefreut, wenn die Gemeinde wieder Zuwachs erhält. Das ist auf dem Land nicht leicht, hier muss man durchaus auch einmal weltlich denken. Der demoskopische Wandel lässt das Land ausbluten. Die jungen Leute ziehen weg, Alte ziehen her. Taufen runter, Beerdigungen hoch. Das ist ganz normal. Wenn man die Gründe dafür wissen will, muss man sich die Tagesschau ansehen und nicht den Gottesdienst.
Die Tür wurde mir vor der Nase zugeschlagen, dennoch auf höfliche Weise. Ich wollte das Gemeindeblatt dort lassen; die Frau hat mich über einen Umzugskarton angesehen und ihn nicht mal abgestellt: „Legen Sie’s hier drauf“, hat sie gesagt. „Wir kommen dann mal vorbei, danke für Ihren Besuch“, hat sie gesagt und gelächelt und mich gar nicht zu Wort kommen lassen, sondern schon mit dem Fuß die Tür ins Schloss gezogen.
Ich wollte sie dann erneut besuchen, einige Male habe ich es mir fest vorgenommen, grade als ich dann hörte, dort gäbe es Probleme - man darf als Priester ja nicht stolz sein, das ist ja ganz zu Recht eine von den sieben -, aber der Herr hat mir Steine in den Weg gelegt, die ich wegräumen musste, und vielleicht hab ich in diesem Fall versagt. Aber wer konnte auch ahnen – um Himmels Willen.
Der Mistkerl hat mich umgebracht. Dieser kleine impotente Drecksack. Nach allem, was ich für ihn getan habe. Ich hab seine Wäsche gewaschen, seine Launen ertragen, mir seinen Scheiß angehört. Ich bin mit ihm hierher gezogen, hab die Wohnung eingerichtet, für ihn eingekauft und gekocht. Ich hätte ja nichts gebraucht, morgens ein Croissant und etwas Konfitüre und abends vielleicht noch eine Kleinigkeit, mir hätte das genügt.
Wenn’s ihm dreckig ging und er keine Ideen mehr hatte und keinen mehr hochbekam, dann hab ich ihm gesagt, wie toll er ist und dass ich nur mit ihm zusammen sein will und mit niemandem sonst. Ich hab mein Leben für ihn aufgegeben, auf die Stopp-Taste gedrückt, das Studium unterbrochen, weil er nach Köln musste, zu seinem neuen Job. „Ich verdien genug für uns beide“, hat er gesagt. „Du kannst einfach nur meine Frau sein, wenn du möchtest.“ Das war sein Antrag. Antrag mit Jobausschreibung: Halt mir den Rücken frei; und dann jagt er mir eine Spitzhacke in den Hinterkopf. Ich hab den Schlag gar nicht kommen sehen, es war so dunkel. „Was machst du da im Keller?“, hab ich gefragt. „Was machst du da im Keller. Da sind doch Wasserleitungen. Was machst du da im Keller? Was machst du da im Keller?“ Ich hab mich schon angehört wie meine Mutter.
Man wacht nachts auf und das Bett ist leer, man schaut auf die Uhr: Ein Uhr fünfundfünfzig. Man lächelt leicht, geht noch mal ins Bad und kämmt sich die Haare, legt etwas Duft auf, zieht die Socken aus, richtet sich etwas her, schleicht auf Zehenspitzen über das Linoleum zu seinem Schreibtisch. Da denkt man: Hier sitzt er gleich, ganz in sich versunken hackt er auf die Tasten ein, und stellt sich hinter ihn und wartet, bis die Ziffern unten rechts auf dem Bildschirm auf zwei Uhr springen, und dann gibt man ihm einen Kuss in den Nacken und hat ihn für sich ganz alleine. Hat etwas, was man nur selbst hat, etwas, das einen leichter durch den Tag gleiten lässt. Etwas, woran man denken und dabei lächeln kann: Man hat eine kleine Musik. Und dann ist der Stuhl leer, und man findet ihn nicht und hört aus dem Keller Stimmen, als sei da ein Gewölbe, aber da ist nur ein einziger Raum, und man geht die Treppe hinab und da ist niemand. Und man geht die Treppe in der nächsten Nacht hinab und schreit und ruft und brüllt und irgendwann erwischt man ihn, wie er nackt vor der Kellerwand sitzt und brabbelt und stöhnt und sich mit einer Hand einen runterholt und – dieser impotente Mistkerl hat mich umgebracht.
Ja, ich hab Zeit. Die Toten tragen keine Uhren. Ich bin natürlich der Buhmann in der Geschichte. Zerreißt man sich schön das Maul über mich? Was würde mein Vater nur dazu sagen?
Ich hab den Job gekündigt. Ich hatte einfach die Nase voll. Johanna und ihre Freundinnen, dieses falsche Gerede die ganze Zeit. Das muss man sich mal vorstellen, mein Vater stirbt an einem Herzinfarkt und das einzige, was ich bekomme, ist ein Anruf von meinem alten Pfarrer. Und Johanna hat kaum geweint aus Angst, es könnten Krähenfüße zurückbleiben. Die ganze Wohnung ist mir einfach auf den Kopf gefallen, ich musste da weg.
Ich saß nach dem Umzug da, wo früher der Fernseher stand, und hab auf einen weißen Computerschirm gestarrt, Power Point angeklickt, ein paar Linien hingekritzelt und mich gefragt, was normale Menschen um diese Zeit machen, was mein Vater um diese Zeit gemacht hätte und dann hab ich ihre Stimme gehört. „Thomas, Thomas“, hat sie gerufen, als wüsste sie genau, dass ich hier bin, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich zurückkomme. Und es hat wieder nach ihr gerochen, im ganzen Haus hat es nach ihr gerochen. Ich hab es tief in die Lungen gesogen, diesen herrlichen Duft. Mit zwölf hab ich ihn das erste Mal gerochen, und bin zu ihr in den Keller gestiegen, meine kleine, eingemauerte Schönheit.
Es ist ein Ballsaal da unten, in dem wir tanzen. Deine Brüste so weiß, deine Hände so zart, dein Schoß so mild. Wir tanzen die ganze Nacht. Alles, was ich bin, verdanke ich dir. Alles, was ich denke, denke ich deinetwegen. Wer ich bin, wer ich werde, es ist immer nur eine Seite der Gleichung, der andere Hälfte du bist.
Oh, tut mir leid. Das klang furchtbar, ich muss noch immer lächeln, wenn ich an sie denke und dann schweife ich manchmal ab. Ich bitte mir das nachzusehen.
Irgendwann hat mich mein Vater da unten im Keller erwischt. Therapiesitzungen noch und nöcher, dann haben sie mich aus ihrem Leben verbannt, mich auf ein Internat geschickt und nur sie haben mich besucht, nie durfte ich zu ihnen.
„Grab“, hat sie gesagt. „Grab mich endlich aus.“ Oh, und wie sie Johanna gehasst hat. In der ersten Nacht, als Johanna sich an mich gekuschelt hat und Nähe wollte und ihre zarten Fingerchen sich um mich legten, da hat sie getobt und geschrien und als sich bei mir etwas rührte, da hat das Haus gebebt von ihrem Groll, dass ich Johanna wegschieben musste, sonst wär das alles schon viel früher passiert.
Ich hab ja gesagt: „Johanna geh, mein Gott, bitte geh.“ Aber sie wusste auch nicht, wohin. Sagte, sie habe das ganze Leben auf mich ausgerichtet und es sei jetzt zu spät. Die besten Jahre geschenkt, hat geschrien und getobt, war zwei Tage weg, war wieder da, hat viel telefoniert, hat mich angelächelt, hat sich schön gemacht, hat es dann gelassen, nur gesagt, sie habe ein Recht auf mich und es werde schon wieder besser. Ein Sabbatjahr könne ich mir ruhig nehmen. Aber ich hab gar nicht mehr zugehört, sie hat mit meinem Rücken geredet, mit meinem Hinterkopf, mit einem Thomas, der gar nicht mehr da war, mit einem falschen Thomas. Mit irgendetwas, mit dem ich mir die Zeit vertreiben musste, bis ich endlich wieder zu ihr konnte.
„Grab mich aus“, hat sie gerufen. „Grab mich endlich aus, dann können wir für immer zusammen sein.“
Wie das dann alles passiert ist, ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich weiß ich es doch, aber ich will’s gar nicht mehr wissen. Die Toten tragen weder Schuld noch Uhren.
Als sie endlich frei war und immer noch nicht da und immer noch nicht mit mir zusammen, da hat sie einen Stein genommen, mit der scharfen Kante nach oben und ihn mir an die Kehle gedrückt. Wenn’s in die eine Richtung nicht ging, dann vielleicht in die andere. Es klingt absurd, aber wir fanden das logisch.
Gott, wie sie sich das Maul über mich zerreißen werden.
Es tut mir leid, ich muss jetzt weg. Ich hab gleich eine Verabredung. Hand aufs Herz: Haben Sie je etwas Schöneres gerochen?