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- 07.10.2018
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11:11- Der Nachtbeginn
Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie die roten Wangen des Horizonts noch so erhaschen. Verschwitze Fassaden mit müden Terrassen enthielten ihr den Abschied von Tag und Nacht vor. Kreischende Autos unter ihren Füssen übertönten die Zikaden und Vögel. Und doch wenn sie ihren Kopf nach oben reckte und nur den kleinen Fleck vom dunkelblauen Himmel fixierte, fühlte sie sich ein Stückchen weniger bedrängt. Sie trank warmen Tee aus einer Tasse, die an einer Ecke leicht zerbrochen war. Eines Abends ist sie angetrunken in ihre Wohnung getorkelt und beim Ausziehen ihrer Schuhe hat sie die weiße Tasse mit blauem Rand umgestoßen. Manchmal schnitt sie sich leicht an der scharfen Kante, doch wegwerfen konnte sie die Tasse nicht. Sie passte viel zu gut in ihre kleine Hand, und Kaffee oder Tee kühlte nie schnell aus in ihr. Auch dieses Mal schnitt sie sich den Mundwinkel an der Tasse und verbrannte sich die Zunge am heißen Tee. Fluchend stellte sie das Getränk ab und setzte sich auf den kleinen grünen Klappstuhl. Langsam flackerten Lichter vor ihren Augen auf. Der Tag war noch nicht ganz erloschen und schon überfluteten Straßenlichter die kleinen Gassen mit greller Farbe. Den Nordstern konnte man noch erraten, doch alle weiteren Flammen im Himmel konnten mit dem künstlichen Licht nicht mithalten. Ihr Herz fühlte sich schwer in der Brust an, als auch der Nordstern mit dem Hintergrund verschmolz.
Die Adern der Stadt pumpten die kleinen Körperchen dorthin wo sie gebraucht wurden. Sie transportierten den wichtigen Stoff, ohne den die Zellen nicht überleben konnten. Mit Taschen voll Geld und Händen voll Alkohol bewegten sich Gruppen von Jugendlichen durch die Straßen. Eine Handvoll von Mädchen wackelte auf ihren noch unerfahrenen Beinen wie kleine Fohlen. Die herabgekommenen Ecken, um die sie herumbogen, strahlten auf mit dem herzlichen Lachen von rotgemalten Lippen. Sie sprangen unsicher auf und ab, als eine ihnen einen grellen Bildschirm unter die Nase schob. Der süße, blonde Junge aus der Parallelklasse hat ihr eine Nachricht geschrieben. Mit Kuss-Smiley. Ihre größte Sorge war, was man ihm jetzt zurückschreiben würde. Fünf Köpfe grübelten angestrengt nach. Eine schrie, bevor die andere ihre Antwort übertönte. Mit Kopfnicken wurde dem zweiten Mädchen Recht gegeben. Man darf nicht sofort antworten. Wir warten lieber. Doch für den Rest des Abends würde der Blonde ihr nicht aus dem Sinn gehen. Wie schön es ist nach einem Bier betrunken zu sein. Laut zu lachen, weil man über den ungeraden Weg gestolpert ist. Lauernden Männer, die doppelt so alt sind irgendwie zu entwischen. Wie schön es ist in einer glückseligen Ignoranz zu leben und es ,,den Moment genießen‘‘ nennen. Und doch werden alle Mädchen torkelnd nach Hause laufen und abends eine Träne vergießen für die Eltern, die einen ignorieren; für die Großeltern, die einen nicht akzeptieren; für die Freunde, die sie verlieren. Vor allem für sich selbst, weil sie Angst haben in ihren Körperchen mit einer bestimmten Rolle in diesem großen System gefangen zu sein und es das Leben nennen.
Auf der kleinen Fläche hoch über den Köpfen der jungen Frauen erschien das Leben damals einfacher. Ihre schwarzen Locken versuchten mit aller Macht und mit der Hilfe der lauwarmen Brise dem strengen Zopf zu entkommen. Traurige Nostalgie machte sich auf ihrem Gesicht breit. Ihre Lippe fing wieder an zu bluten. Den Kindern auf der Straße drehte sie ihren Rücken zu und ging mit kleinen Schritten in die Küche. Sie riss ein Stück Papier ab und presste es gegen ihren roten Mund. Sie wurde mit überfälligen Rechnungen, die auf dem Kühlschrank hingen konfrontiert. Ein Teller halb leer gegessen mit ‘Instantnoodlen‘ stank auf dem Küchentisch vor sich hin. Ausgelaufene Schuhe wurden beim Eintreten in die Wohnung in die Ecke geschmissen. Ihre Schwester nannte sie liebenswürdig, die Schriftstellerin im Exil. Wenn es aus ihrem Mund kam, hatte es den Geschmack von etwas Großem und Edlen. Doch in ihren eigenen Ohren klang es überheblich und hochgestochen. Nichts Edles hatte der Anblick einer jungen, mageren Frau in einer kleinen Schachtel, die sie ihre Wohnung nannte. Die Klimaanlage seufzte unentwegt im Hintergrund. Man hätte es fast mit dem enttäuschten Seufzen ihrer Mutter verwechseln können.
Mürrisch drehte sie dem Chaos ihren Rücken zu und begab sich wieder nach draußen.
Die Straße wurde unheimlich leerer. Als würde jeder sich in einer Bar vor dem großen Bösen flüchten wollen. Kleine Laternen vor einem Gemüseladen nickten bedrohlich. Wie alte Hausfrauen, die stumm hin und her wippten und alles um sich herum wahrnahmen. Die Menschen dachten sie würde kaum etwas hören oder sehen und wurden unachtsam vor den Großmüttern. Dunkle Geheimnisse wurden beim Vorbeigehen verraten und nur die Laternen und Hausfrauen würden davon wissen. Doch sie nickten nur, wohlwissend, dass das Universum sich schon rächen würde.
Eine Katze schlängelte sich zwischen den Reifen von Autos durch. Immer geduckt und in Acht nehmend sich den stummen Laternen nicht preiszugeben. Nur manchmal reflektierte das Licht sich in ihren Augen. Das kleine Tier war ängstlich, blickte immer wieder zurück und rechts und links bevor er es unter einen anderen Wagen kroch. Sie dachte ein Bellen in der Ferne hören zu können, doch selbst vom Balkon aus konnte sie keinen Hund sehen. Sie dachte an die Wörter ihrer Mutter.
Viecher im Haus? Niemals! Ich hab doch schon zwei!
Dabei sah sie die Geschwister mit strengen Augen an. Jahre hat sie gebraucht, um sich nicht mit einem Vieh gleichzusetzten, doch beim Anblick der Katze, die um ihr Leben bangte konnte sie nicht mehr unterscheiden wer nun wer war. An allen möglichen Orten, wo sie durchatmen wollte, plagten sie Geister. Kein brennender Salbei konnte jemals die Luft um sie reinigen. Sie dachte an die scharfen Worte ihrer Schwester. Beide müssen einsehen, dass sie Frauen wären. Und Frauen wären nicht mit Männern zu messen bestimmt. Und den Männern gehörte eben die Welt. Als sie ihr diese Worte an den Kopf warf, konnte sie ihre Schwester nur stumm anschauen. Auch die Schwester versuchte sie in die Rolle eines kleinen Kätzchens zu zwingen. Gab sich selbst nicht einmal die Gelegenheit aus ihrer eigenen Rolle zu schlüpfen. Sie bemitleideten sich gegenseitig. Beide erfüllt mit Furcht. Die eine gab der Furcht jedoch nicht nach. Immer anpassen, immer sich fügen. Sie verstand den Reiz davon. Man lebte sicherer. Doch sie wollte laut weinen und lachen, wenn es ihr passte. Sie wollte schreien und rumspringen, wenn es ihr passte. Stärke besaß man, wenn man sein Inneres zeigen konnte, ohne sich dafür zu schämen. Aber vor allem war man frei. Kein Klumpen im Rachen, keine Steine im Magen oder Gewichte auf den Schultern. Man war frei. Doch ihre Schwester nahm sie nur in den Arm und flüsterte, sie soll doch nicht weinen. Mutter würde bald hereinstürzen und sie wegen der Tränen kritisieren. Und so schniefte sie, rief die letzte Träne zurück und straffte ihre Schultern. Für raue Emotionen gab es in dieser Welt keinen Platz. Für tatsächliche Freiheit gab es in ihrer Welt keinen Platz.
Die Wärme des Feuerzeugs brannte in ihren Augen. Sie zog scharf an ihrer Zigarette und atmete das Gift langsam ein. Das Wippen ihres Fußes hörte beim zweiten Zug auf. Ihre Schultern entspannten sich ein Stück. Sie schloss die Augen für einen kurzen Augenblick. Gelegentlich fuhr ein Auto ruhig die Straße entlang. Es bremste beim Anblick der roten Ampel abrupt ab, bevor es dies vorsichtig ignorierte und doch über die Kreuzung fuhr.
Ein Mann in einem Anzug, der ihm nicht passte und einer lose gebundenen Krawatte wartete auf der gegenüberliegenden Seite. Seinen Kopf vergrub er in seinen Händen. Man sah ihm an, dass er losschreien wollte. Nur ein Gähnen entwich seinen Lippen. In der Ferne mit den zerzausten Haaren und den zusammengesunkenen Schultern erinnerte sie die Gestalt an ihren Vater. Er war nie aufbrausend gewesen. Entspannt saß er in seinem Sessel. Tag ein, Tag aus. Doch je mehr man die merkwürdig dicke Figur da sitzen sah, desto deutlicher konnte man den Ausdruck von Kapitulation in seinem Gesicht sehen. Er verstand das Leben, das er lebte im Kern und gab auf. Sie kam am frühen Morgen von ihrem Spaziergang zurück. Ihre nackten Füße waren bedeckt von Tauwasser und Erde. Das Strahlen des Sonnenaufgangs spiegelte sich noch immer in ihren Augen wider. Ihr Vater begrüßte sie stumm im Wohnzimmer. Mit einem Kopfnicken deutete er ihr hin sich hinzusetzen. Zögernd tapste sie zu ihm hin. Er sprach sanft zu ihr.
Er sah sie mit traurigen Augen an. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Die letzten Worte schmeckten bitter in seinem Mund und klangen fremd in ihren Ohren.
Er verstummte. Langsam streckte er seine Hand aus und fischte ein kleines Blatt aus ihren Haaren.
Versuch es wenigstens.
Der Mann an der Ampel torkelte ein wenig hin und her, bevor er einen Schritt auf die Straße tat. Sie sah, wie das Auto von der anderen Seite auf ihn zukam. Niemand bemerkte die Gegenwart des anderen. Sie wollten es nicht bemerken. Einen Moment lang zögerte sie. Sie glaubte nämlich an ein Schicksal. Aber auch daran, dass man es herausfordern konnte. Sie sprang auf, schrie lauthals los.
Der Mann stockte erschrocken in seinem Handeln. Das Auto fuhr vor ihm vorbei. Das Jackett flatterte noch mit dem Wind. Er verstand nicht was passierte. Er sah nicht einmal hoch, um nachzusehen woher der Schrei kam. Es schien so ,als ob er es nicht verstehen wollte. Und so setzte er seinen Gang fort. Eine Träne glitzerte mutig im fahlen Straßenlicht. Und dieses Mal gähnte er nicht, sondern schrie.
Das wild schlagende Herz hat aufgehört aus seinem Käfig ausbrechen zu wollen. Die dritte und vierte Zigarette half ihr dabei sich zu beruhigen. Der Hals kratzte ein bisschen, doch das Zittern in den Fingerspitzen war fast verschwunden. Der verlorene Mann war nicht mehr aufzufinden. Stattdessen tauchte ein anderer Mensch in ihrem Blickfeld auf. Er ging planlos die Straße runter, doch er schien einen Sinn in diesem Spaziergang zu finden. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Er blieb stehen und reckte seinen Kopf nach oben. Enttäuscht seufzte er, als er nur Schwarzes sah. Er setzte seinen Spaziergang fort.
Sie wurde durstig und machte sich eine zweite Tasse Tee. Die Wohnung schien enger zu werden. Sie fühlte sich einsamer. Wütend schrie die Teekanne und schon schüttete sie sprudelnd heißes Wasser in die zerbrochene Tasse. Das Handy auf dem kleinen Küchentisch leuchtete kurz auf. Eine Nachricht von ihrem Liebhaber von Zuhause. Ein kleines Lächeln machte sich unwillkürlich auf ihren Lippen breit. Dann drückte sie die Nachricht weg. Sie wollte es nicht lesen. Sie mochte keine Liebe, die mit Worten liebte. Sie setzte sich wieder nach draußen auf den grün-grauen Plastikstuhl. Er wackelte ab und zu und sie musste vorsichtig den heißen Tee an ihren Lippen führen. Er hat die Sterne genauso geliebt wie sie. Er würde sie zum nächsten Hügel im Dorf bringen, um ihr dort die verschiedenen Konstellationen zu zeigen. Geduldig zeigte er auf die verschiedenen Sterne, bis sie den großen Bären erkennen konnte. Später konnte sie von selbst den kleinen Bären mit ihrem Finger nachzeichnen. Sie träumte beim Sonnenaufgang von überirdischen Geschichten und er sorgte immer dafür, dass sie nicht zu weit flog. Wie ein Drachen schwebte sie über den Köpfen der Menschen und er war das Seil, das ihr nicht erlaubte mit dem Wind zu verschwinden. Anfangs hatte sie Angst, sich in den kalten Höhen zu verlieren. Er hielt die Schnur immer fester an seine Brust und zog sie stetig herunter. Dann merkte sie, dass es nichts Schöneres gab als schwebend durch die Welt zu treiben. Ständig sprach er von der Zukunft und das ihre in den Sternen schon festgeschrieben worden ist. Er träumte immer von einem Haus mit Garten in einer nichts aussagenden Gegend. Er wollte heiraten, Kinder haben. Er würde ein guter Vater sein. Ihren Kindern würde er von Planeten, den Sternen und dem Mysterium des Universums erzählen. Sie würden abends im Garten auf dem Rücken liegen. Fingerspitzen würden Bilder in den Himmel zeichnen. Nach einer Weile würden alle drei friedlich einschlafen. Aber dieses Leben war nicht ihres. Sie wusste schon damals, dass ihre Mutter ihren Enkelkindern soziale Konstrukte stricken würde und ihnen es als blauen Pulli und rosa Schal zu Weihnachten schenken würde. Ach, sie wird einmal eine großartige Krankenschwester werden. Und er wird den Zahlen mächtig und Physiker werden. Und was wäre, wenn er dem Großvater nachginge und Künstler werden wollte? Und was wäre, wenn sie das Weltall für sich entdecken wollte? Nur, dass beide erst zu spät merken würden, dass Pulli und Schal sie zu ersticken drohte. Sie wusste, dass sie das Weinen vorm Schlafen gehen nie mitbekommen würde, denn ihre Mutter wusste nie von ihren eigenen vergossenen Tränen. Sie würde sich nie verzeihen können, dass sie die aufgewühlten, kleinen Herzchen nicht beschwichtigen könne. Sie würde sich nie verzeihen können, dass sie den aufgewühlten, kleinen Herzchen nie sagen könne, dass sie weinen sollten. Dass es in Ordnung war zu weinen. Deswegen hat sie sich von seiner Hand losgerissen und flog auf und davon.
2:40 AM
Es wurde etwas kühler um sie herum. Sie hat sich eine kleine, leicht verschmutzte Decke über die Beine gelegt. Ihr Magen knurrte ganz leise und sie versuchte das Schwindelgefühl, das sich in ihrem Kopf auszubreiten drohte, zu ignorieren. Schon lange ernährte sie sich nur noch von Reis, Bohnen und eingefrorenem Gemüse. Es langte aber nicht. Mit dem Essen und dem Geld. Die letzte Zigarette hat sie auch bereits fertiggeraucht. In einer Woche sollte sie wieder bezahlt werden.
Quietschend blieb ein rotes Auto mitten auf der Straße stehen. Die laute Musik wurde schlagartig ausgeschaltet. Jetzt konnte man laute Stimmen vom Inneren des Wagens hören. Das Licht im Auto beleuchtete zwei traurige Persönlichkeiten. Erst als sie die Tür öffnete, um auszusteigen, konnte man dem Streitgespräch deutlich folgen. Sie zögerte einen Moment zu lange um auszusteigen. Sie verlor sich in ihren eigenen Schuldgefühlen, die sich in seinen Augen wiederspiegelten. Rasch stieg sie aus, aber drehte ihm nicht den Rücken zu. Sie hat die Tür nicht mit voller Wucht zugeschlagen. Sie hat ihm nicht das glitzernde Kettchen vor die Füße geworfen. Doch sie weinte. Wieso weinte sie? Sie wollte nicht weinen.
Ich bin nicht mehr glücklich.
Er habe es kommen sehen sollen. Den Betrug. Den Verrat. Er hat sich eingesperrt in seine Welt. Er wollte nicht die von ihr kennenlernen. Und immer, wenn sie ihn darauf ansprach erschütterte ihn ein Erdbeben oder ein Tsunami wütete oder ein Tornado verbreitete Chaos. Sie hatte keine Angst vor ihm, sie hatte Angst für ihn. Ständig passte sie auf, dass es ihm gut ging, dass er keinen Schritt in die falsche Richtung trat. Am Anfang fühlte sie sich gebraucht. Sie hatte einen Sinn in ihrem kurzweiligen Leben gefunden. Doch sie drohte unter der Last einer ganzen Welt zu zerbrechen. Und als dann jemand auftauchte, der ihr zeigte, wie man schweben konnte, wollte sie nicht mehr die Schwere spüren. Sie wollte das Gefühl des langsamen Versinkens im Boden vergessen. Irgendwann mal würde sie an fauler Erde ersticken. Dreck in Mund- und Nasenhöhle würde ihren letzten Hilferuf erdrosseln.
Ich kann nicht mehr.
Sein Auto war eins von der teuren Sorte. Er stieg ebenfalls aus. Diamanten in den Augen und prunkende Uhren auf den Handgelenken. Ihre Mutter war erleichtert, als sie ihr diesen etwas eigenartigen, doch reichen Mann vorgestellt hat. Er würde die Zukunft ihrer Tochter sichern. Sie war gut in der Schule gewesen. Sie studierte sogar. Doch es würde noch eine Weile dauern, bis sie ihr Diplom in der Hand halten könnte. Zwei Teilzeit-Jobs ermüdeten ihren Körper und ihre Seele. Es blieb wenig Energie übrig für seitenlange Texte und feurige Diskussionen in Seminaren. Den Rest bewahrte sie für ihn und seine Eskapaden auf. Jede Woche musste sie seine Moral vom Boden abkratzen und mühsam zusammenbauen. Jede Woche musste sie ihre Moral vorm Auseinanderfallen bewahren, aber das kümmerte niemanden. Weder ihn, noch ihre Mutter und bis vor kurzem kümmerte sie das auch nicht.
Das Türchen von ihrem goldenen Käfig war weit aufgerissen, doch der Vogel krallte sich noch immer an dessen Stange fest. Draußen wehte eine frische Brise, doch das Tierchen hatte Angst vor kräftigen Windstößen. Und so blieb es drinnen.
Er fasste sie jetzt an die Hand. Er verzieh ihr augenblicklich. Kein Stein fiel ihr vom Herzen. Es wurde nur schwerer. Sie konnte nicht gehen. Langsam stieg sie wieder ins Auto ein. Die Musik wurde wieder aufgedreht und beide fuhren davon.
Ein leises Knacksen kam von ihrer linken Seite. Ihr Nachbar trat heraus. Er sah müde, aber rastlos aus. Es schien so, als ob eine schlaflose Nacht vor ihm liegen werden würde. Beide zuckten erschrocken zusammen, als sie sich ansahen. Niemand hat den anderen auf dem Balkon um diese Uhrzeit erwartet. Wieso sollte man auch? Hinter verschlossenen Türen konnte man seine innere Unruhe gut verstecken. Ein freundliches Hallo auf dem Flur bestätigte, dass es dem anderen besser ginge als einem selbst. Er ging jeden Morgen gegen Acht aus dem Haus. Er arbeitete also. Aus seiner Wohnung duftete es immer herrlich. Er hatte die Möglichkeiten sättigende Speisen zu kochen. Er trug auch verschiedene Paar Sneakers. Ihm ging es besser als ihr, dachte sie. Und doch wohnte er in einer gleich schäbigen Wohnung neben ihr. Daran hat sie nie gedacht.
Sie grüßten sich mit einem kleinen Lächeln. Eine merkwürdige Stille umhüllte beide. Er bemerkte die leere Zigarettenschachtel und bot ihr eine an. Er streckte sie über sein Balkon aus und sie nahm sie dankend an. Die merkwürdige Stille evaporierte mit der glühenden Zigarette.
Ich kann nicht schlafen.
Wieder Stille. Nur das leichte Knistern beim Ziehen der Zigaretten begleitete die Gedanken der beiden Einsamen. Sie schauen nach unten auf die Straße. Sie sehen aber schon lange nicht mehr die Straße mit ihrer pulsierenden Luft. Sie schauen nach unten in die Leere. Es blieb nur ein Stummel in ihrer Hand übrig und sie zerdrückte ihn im Aschenbecher. Jedoch hatte er keinen Aschenbecher oder er war nicht in Sichtweite und stand irgendwo in seiner Wohnung, doch aufstehen wollte er nicht. Er wollte hier verweilen und die Unendlichkeit der wenigen Minuten genießen. Er sah rüber zu ihr. Müde Augen verstanden sich sofort. Sie reichte ihm den Aschenbecher. Er erlosch seine Zigarette darin.
Sie macht mich aber nicht ruhig.
Ich hab dann Zeit
Ich habe etwas, was dagegen hilft.
Er zündete sich einen Joint an. Reichte es rüber und sie nahm es dankend an. In wenigen Momenten fühlte sie ihr Herz leichter werden. Die eigenartige Vibration in ihrem Körper ließ nach und sie lächelte. Keine Bilder flimmerten in ihrem Kopf herum. Eine angenehme Schwärze breitete sich in ihr aus. Sie drehte ihren Kopf nach rechts und sah den Jungen zum ersten Mal richtig an. Tiefblickend in seine Augen. Er hatte freundliche Augen mit einem leicht enttäuschten Funkeln. Sie war es sich leid, Fragen über Studium oder Arbeit zu stellen, die niemand wirklich beantworten wollte. Sie wollte nicht wissen, was sein Plan für die nächsten fünf Jahre wäre, denn niemand wusste, was in den nächsten fünf Jahren passieren würde. Merken würde sie sich auch nicht, wo er herkäme oder, ob er Geschwister hätte. Dennoch war sie neugierig.
Wenn du ein Baum wärst, welcher Baum wärst du dann?
Ich wäre irgendein Baum in irgendeinem Vorgarten.
Was meinst du?
Und so steh ich dann da.
Die schlaksigen,weißen Arme kreuzte er hinter seinem Kopf. Nickend sah er in den Himmel. Als wolle er sich selbst zustimmen, was auch immer er gerade dachte. Er schien nicht traurig zu sein über diese Erkenntnis. Er war eher zufrieden, dass er nun endlich wusste sich selbst zu definieren. Das war doch das eigentliche Ziel in dieser Welt, oder? Herausfinden, wo man hingehört. Und um das herauszufinden, musste man schließlich wissen, wer man war. Das dachte er jedenfalls.
Ich wünscht‘ ich wär ein Kirschbaum. Aber eigentlich, weiß ich nicht, ob ich ein Kirschbaum bin. Sie sind groß, blühen so schön auf und ich sehe Liebhaber unter dem Baum die selbstgepflückten Kirschen essen. Und das bin ich nicht. Keine Ahnung, wer ich bin. Aber ein Kirschbaum bin ich nicht.
Er bemitleidete sie ein wenig. Denn die fahlen Augen, die dunklen Augenringe und die angeknabberten Fingernägel schrien nicht nach Kirschbaum. Und er hatte das Gefühl, dass sie nie zu einem Kirschbaum werden könnte. Nicht in dieser Umgebung, die ihr nicht erlaubte zu gedeihen. Sie hatte weder fruchtbaren Boden unter ihren Füßen, noch die nötige Sonne über ihrem Kopf. Sie lebte und überlebte nur vor sich hin, in der Hoffnung, dass die Zukunft besser sein würde. Würde sie nicht werden.
Schleichend zog sich der schlaksige Typ zurück und hinterließ das Mädchen alleine auf dem Balkon. Der knurrende Magen zwang sie aufzustehen, obwohl sie wie festgewachsen hier auf dem Stuhl sich fühlte. Tapsend ging sie in ihre kleine Wohnung und schmierte sich ein kleines Brot. Sie war müde. Doch das ungemachte Bett lud nicht zum Schlafen ein. Sie ging zurück auf ihren kleinen Balkon und wurde von der aufgehenden Sonne begrüßt. Die Decke war noch immer dunkelblau angestrichen, doch die Ränder erleuchteten in einem hellen Blau. Sie seufzte zufrieden, als sie sich wieder in ihrem kleinen, wackligen Stuhl hinsaß. Sie schloss ihre Augen für einen kurzen Moment und genoss die sanften Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Im Hintergrund hörte sie eine leise Melodie. Jemand pfiff genüsslich vor sich hin.
Sie blickte nach unten und sah eine Gestalt mit einer Gitarre auf ihrem Rücken die Straße schlendernd runterlaufen. Die wenigen Tönen trafen sie mitten in ihr Herz. Sie fühlte sich plötzlich leichter werden und der ewige Druck in ihren Lungen fand ein Ventil, aus dem er flüchten konnte.
Sing doch! Bitte! Spiel doch! Bitte!
Sie erschreckte sich selbst vor ihrer plötzlichen Energie. Sie sprang hoch und umgriff, das rote Geländer. Hoffnungsvoll verfolgte sie den Schatten mit ihren Augen. Er blieb stehen, suchte zuerst nach der Quelle der Stimme und erblickte dann die kleine Figur, hoch oben über seinen Kopf. Verzweifelte Rehaugen trafen auf seine. Als würde ihr Leben von diesem Lied abhängen. Und so blieb der Schatten stehen. Er packte seine Gitarre aus und sang zu ihr. Zum wilden Mädchen mit den ängstlichen Augen.
Meine Küsse verschenken,
Den Blick nie senken,
Die Schultern nie hängen lassen.
Mehr Lächeln, nein Lachen.
Ein Feuer entfachen und wie ein Verrückter um es tanzen.
Mich nicht so oft verschanzen, faulenzen, die Anderen ausgrenzen.
Ich will
Entscheidungen mit Münzen treffen.
Einmal dem Schicksal vertrauen,
Die Idee der einen Liebe verwerfen
Und der Zukunft weniger misstrauen.
Ich will
Keinem Skript folgen
Kleidung tragen die nicht unbedingt gefallen
Und das an Sonntagen.
Ich will
Schiefe Töne singen
Mit meinen Hüften schwingen
Und die Nacht mit einer Liebe verbringen.
Ich will
Rauchen,
Gras unter meinen nackten Füssen spüren,
Hände ausbreiten, die Faust auflösen und schreien,
Vom Herzen lenken lassen und führen.
Das Leben in all‘ seinen Formen spüren.
Ich will
Zu tief ins Glas schauen und den Grund entdecken.
Das Monster unter meinem Bett erschrecken
Und mit ihm die Sonne erwecken.
Die Welt in ihrer hässlichen Schönheit vor mir erstrecken sehen
Und dabei nicht den Kopf wegdrehen.
Ich will
Unverwüstlich, unzerbrechlich auf meinen Beinen stehen. Nicht weinen.
Ich meine. Jedem die Stirn zu bieten.
Ich will mir nichts verbieten lassen,
Die Freiheit fassen.
Die Freiheit fassen.
Die Freiheit fassen.