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Als ich unlängst durch die Innenstadt flanierte, überkam mich mit einem Mal ein geradezu unbändiges Hungergefühl und ich checkte flugs im nächstgelegenen Restaurant ein, um einen oder zwei Happen zu mir zu nehmen.
Es war ein sehr schönes Restaurant mit rotem Teppich auf dem Fußboden, schwarzbraunen Mahagonitischen (oder irgendein anderes Holz) und einer Bedienung, die – in elegantes Samtschwarz gewandet – schnellen und beinahe lautlosen Schrittes durch das Labyrinth der Inneneinrichtung wuselte. Gleich neben dem Eingang stand ein großes Aquarium mit allerlei lustig-bunten Fischen darin, mehreren Wasserpflanzen und einem nachgebildeten Segelschiffwrack auf dem kieseligen Boden, das auf ganz fantastische Weise beleuchtet wurde.
Ich hatte kaum die Schwelle übertreten, als bereits ein dienstbeflissener, livrierter Mensch an mich herantrat und wortlos um meinen Mantel ersuchte. Er hatte riesige Augen und einen ganz starren Blick, der einen sofort an eine Eule denken ließ. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er in dem Moment, wo er den Mantel von mir in Empfang nahm, seinen Kopf um hundertachtzig Grad gedreht hätte um nachzuschauen, ob wohl noch Garderobehaken frei wären. Aber er tat es nicht. Statt dessen flatterte er ein paar Mal mit seinen Armen, machte andeutungsweise so etwas wie eine Verbeugung (als wolle er ein Gewölle auswürgen) und entschwand wortlos mit dem überantworteten Kleidungsstück. Ich stand noch eine Weile herum und wartete, ob er vielleicht zurückkäme um mir ein Nummernscheibchen oder dergleichen auszuhändigen, aber die Eule blieb verschwunden.
Also wand ich mich von der Garderobe ab und dem Rest des Lokals zu. Der Raum war sehr groß, beinahe wie eine Turnhalle, nur nicht so hoch. Viele Tische waren besetzt – nicht ungewöhnlich um diese Zeit. Ich trat ein paar Schritte vor und ließ meinen Blick gelassen über die Interieurslandschaft wandern, um mir einen guten Tisch zu sichern, als plötzlich neben mir ein Kellner – oder sollte ich besser sagen: Ober? – aus einer Geheimtür auftauchte und mir unschwer zu erkennen gab, ich solle ihm folgen. Nachdem wir mehrere Stunden zwischen den unzähligen Tischen herumgerannt waren, blieb er unvermittelt stehen und deutet auf einen einzelnen Tisch, der relativ abseits auf einem Podest stand und einen geradezu fantastischen Blick über das gesamte Restaurant ermöglichte. Ich ließ mich auf dem butterweich gepolsterten Sitz nieder und bekam postwendend eine Speisekarte gereicht, die in Größe und Umfang frappant der Gutenbergbibel glich. Zwei Hilfszwerge materialisierten sich neben meinem Stuhl und halfen mir beim Umblättern. Keine Frage, das hier war ein höchst ungewöhnliches Etablissement!
Ich studierte den Freßatlas äußerst genau und stieß dabei immer wieder auf Gerichte, die rein gar nichts sagten. So etwa „Bild vom Schwein in zu großen Füßen“ oder dergleichen. Schließlich entschied ich mich, ganz wertkonservativer Teutone, der ich nunmal bin, für das Wiener Schnitzel mit Pommes und dazu eine Cola. Die Zwerge verneigten sich artig, ließen die Karte von einem Lastesel beseitigen und begannen, aufgeregt mit den Fingern zu schnippsen. Sofort erschien wieder der elegante Ober (woher diesmal, war nicht zu eruieren) und notierte fleißig das Geflüster der Zwerge auf einem goldumrandeten DinA-4 Block aus handgeklöppeltem Sichtbeton. Eine Kopie der Bestellung wurde zur Sicherheit an Ort und Stelle verbrannt, während mir das Original erst zur Durchsicht vorgelegt und, nachdem ich es ordnungsgemäß abgezeichnet hatte („SchniPo mit beides“), dann dem Küchenchef überbracht wurde. So dann begann ein zahnloser Tungusen-Schamane mit der Beschwörung meines Bestecks und der zugehörigen Fimo-Teller, die mit einem komplizierten Muster aus alten Shell-Atlas-Straßenkarten versehen waren.
Nach etwa einer halben Stunde fuhr plötzlich ein makellos weißer Teewagen vor, auf dem sich mein Essen befand, abgedeckt von riesigen, käseglockenartigen Goldblechen. Wieder erschien unerwartet der Ober aus einem der Seiteneingänge des Teewagens und lüftete – mit Nadelstreifenhandschuhen bewehrt – die drei immensen güldenen Halbkugeln, um das bestellte Mahl zu enthüllen. Doch offensichtlich stimmte irgend etwas nicht, denn kaum hatte er die Glocken gelupft, als er auch schon einen heiseren Schrei ausstieß und eilig die Hilfszwerge herbeiwinkte, die sich auch standesgemäß und offenen Mundes um ihn versammelten.
Nach einigem Hin und Her wandte sich der Ober mit einem devoten Lächeln an mich: „Es tut mir sehr leid mein Herr, aber ich fürchte, uns ist ein kleines Malheur unterlaufen.“
„Das macht nichts“, antwortete ich, „so was passiert jedem mal.“
„Sehr freundlich, danke für ihr Verständnis. Würden sie mich dann bitte hinausbegleiten.“
Ich war verwirrt.
„Wieso?“
„Nun“, erklärte der Ober, „wie ich bereits sagte, uns ist ein kleiner Fauxpas unterlaufen. Der Koch hat irrtümlich ein falsches Essen zubereitet, das gar nicht für sie bestimmt war, und das sie auch nicht bestellt hatten“
„Ja, und ich habe gesagt, das macht nichts. Ich warte so lange auf das richtige Essen.“
„Tut mir leid, mein Herr. Das Essen ist ein anderes, als sie bestellt hatten und daher auch nicht für sie bestimmt. Ich muß sie daher bitten, das Lokal zu verlassen!“
„Aber sie haben doch den Fehler gemacht!“ versuchte ich die Sache richtigzustellen. „Warum muß ich dann das Lokal verlassen?“ Ich fühlte mich – verständlicherweise – im Recht.
„Mein Herr, ich möchte sie bitten hier keine Szene zu machen. Das wäre völlig unnötig und zudem unhöflich den anderen Gästen gegenüber!“ Die Stimme des Ober war in eine bedrohliche Höhe gerutscht und auf seiner Stirn wuchsen zwei steile Falten, die wie ein Pfeil zwischen seine blitzenden Augen zeigten.
„Ich...ich verstehe nicht...“, stammelte ich.
„Entschuldigen sie bitte, ich wiederhole mich nur sehr ungern: Das Essen ist offensichtlich nicht das, was sie bestellt haben, mithin nicht für sie gedacht! Bitte räumen sie den Platz für einen passenden Gast!“
„Was?“
„Machen sie bitte keinen Ärger! Ich bin sicher, sie verstehen unser Anliegen!“ Mit diesen Worten schob er mich unsanft von sich weg, direkt in die Arme eines der Hilfszwerge, die für ihre Größe extrem kräftig waren, wie ich feststellen mußte.
„Moment!“ rief ich. „Ich esse das sehr gerne, was immer es auch ist!“
„Tut mir leid, ihre Bestellung lautet auf“ – er zog seinen Notizblock hervor und inspizierte ihn – „‘SchniPo mit beides‘! Ist das richtig?“
„Ja!“ antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Also!“ Ungerührt wandt er sich dem Teewägelchen zu und enthüllte ein weiteres Mal das Essen. „Dies hier“ – dabei deutete er auf das dampfende Zeug auf den Tellern – „ist ‚Lammbraten am Main mit Karrusellerie und Stopfpilzen in eigener Regie‘!“ Dann gab er den Zwergen einen Wink und rauschte von dannen, während ich Richtung Ausgang geschleift wurde.
An der Garderobe angekommen erschien die Eule und überreichte mir mit ausdruckslosem Blick meinen Mantel. Dann hörte ich, wie jemand hinter meinem Rücken die Türe öffnete, und im nächsten Moment saß ich draußen auf der Straße.
Man stelle sich die Enttäuschung vor, als ich feststellte, daß man mir einen falschen Mantel gegeben hatte.