1. April
Bill saß auf seiner Fensterbank und starrte aus dem Fenster auf die andere Straßenseite. Er beobachtete. Er beobachtete Mrs. Miller. Sie stand auf ihrer Veranda und schaute auf die ruhige Straße hinaus. Ihr schnuckeliges kleines Häuschen war voll geschmückt mit ihren kostbaren Trockenblumen. Sie waren mit Reißzwecken an die hölzerne Außenwand geheftet. Es war so ein kleiner Tick von ihr. Bill haßte diese Blumen. Seit zwanzig Jahren mußte er diese verdammten trockenen Scheißdinger schon ertragen. Mit der Witterung fielen ihre Blätter ab und beregneten den Rasen. Er wußte noch nicht einmal welche Farbe das Haus in Wirklichkeit hatte. Auf dem Dach waren drei Wetterhähne befestigt. Sie waren verrostet. Bewegten sich schon seit sechs Jahren nicht mehr. Mrs. Miller hielt sich mit ihren faltigen Händen an ihrem Geländer fest und schloß die Augen. Das tat sie immer, kurz bevor ihr Mann von der Arbeit zurückkam. Sie verharrte dort mindestens eine halbe Stunde und pünktlich auf die Minute um halb sechs fuhr dann der blaue Chevy die kleine Einfahrt herauf. Die Fahrertür sprang auf und ihr sechzig-jähriger Gatte kroch lächelnd aus dem Auto. Er war groß und besaß noch seine ganze Haarpracht. Seine Frau lief jedesmal gebrechlich die zwei Stufen der Veranda herab und umarmte ihn heftig. Meistens war ihre gelbe Schürze um die Taille gebunden, weil sie kurz davor das Abendessen zubereitete. Ihre dünnen ergrauten Haare wehten dabei im Gegenwind. Seit gottverdammten zwanzig Jahren tat sie ohne Ausnahme das selbe. Inzwischen war sie dreiundsechzig – älter als ihr Mann – und sehr schwach auf den Beinen. Überhaupt war sie eine unheimlich labile Persönlichkeit. Bill wußte das. Er beobachtete sie schon lange. Einmal um fünf nach halb sechs war ihr Gatte noch nicht die Straße eingebogen. Und Mrs. Miller fing an zu weinen. Erst leise, dann kläglich und unbeherrscht. Nach zehn Minuten brach sie auf der Veranda zusammen und heulte sich die Seele aus dem Leib. In diesem Moment, kam Mr. Miller die Einfahrt hochgefahren. Es dauerte eine Stunde, bis er seine hysterische Frau wieder beruhigt hatte. Das war das einzige Mal, daß er zu spät kam. Bill hatte interessiert zugeschaut. Aus dem kleinen Fenster seiner feinen Küche. Erst lächelte er, dann fing er lauthals an zu lachen. Nach zwei Minuten hörte er abrupt auf und wendete sich wieder seinen Malereien zu. Er malte gerne. Stundenlang, tagelang, nächtelang. Er zeigte seine Werke keiner sterblichen Person. Wenn ein Gemälde vollbracht war, stellte er es in seinen Keller und schaute es nie wieder an. So stapelten sich hunderte und aberhunderte Aquarellzeichnungen im Keller; nutzlos und staubig.
»Was würdest du ohne deinen Mann tun?« flüsterte Bill leise, während er nach draußen schaute. Es war drei Minuten nach fünf. Die Straße war in ein orange-rotes Licht gehüllt. In Birnham schien die Sonne um diese Jahreszeit immer aus einem tiefen Winkel. Es vermittelte Bill immer eine düstere Atmosphäre. Aus dem Schornstein der Millers quoll Dampf heraus. Wahrscheinlich hatte sie wieder Klopse zubereitet – wie jeden Mittwoch. »Was würdest du arme Frau ohne deinen Mann tun?« fragte er nochmals und schwenkte das mobile Telefon von einer Hand in die andere. »Du mußt ihn wirklich sehr lieben.« Er nahm das Telefon in die rechte Hand und tippte einige Ziffern. Auf dem Display erschienen die gleichen Nummern. Er hielt das Telefon an sein Ohr und wartete auf das Signal. Es ertönte ein Mal... ein zweites Mal. Durch das Fenster sah er Mrs. Miller von der Veranda weggehen und im Haus verschwinden. Ein dritter Ton, dann wurde der Hörer von der Gabel genommen. Eine zitternde Stimme meldete sich zu Wort. Soweit Bill sich erinnern konnte, wurde sie noch nie bei ihrer Wartezeremonie unterbrochen.
»Hallo?«
»Guten Tag, Mrs. Miller«, sagte Bill in einem ruhigen, ernsten Ton. »Ich habe ihnen eine traurige Mitteilung zu machen. Es fällt mir schwer ihnen diese Nachricht überbringen zu müssen.«
»Was ist passiert?« fragte die Frau aufgeregt und mehrmals luftholend. »Ist etwas mit meinem Mann? Ist etwas mit James?«
»Es tut mir entsetzlich Leid. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Es ist fronta - « Doch weiter kam er nicht. Er wurde unterbrochen von einem lang anhaltenden Schrei. Er konnte hören, wie der Hörer auf dem Boden aufschlug. Ein Pfeifton folgte direkt danach. Wieder ein Schrei. So laut, daß Bill den Hörer von seinem Ohr nehmen mußte. Das Schreien wurde zu einem Krächzen, später zu einem Hecheln. Bill blieb lange am Telefon. Es folgte ein fast siebzehn minutiges Schluchzen und Bill hätte es beinahe aufgegeben. Doch dann hörte er ein Poltern. Es hörte sich an, als ob eine Schublade geöffnet wurde. Wieder ein Poltern. Bills Gesichtszüge veränderten sich. Er schien zu strahlen. Ein unscheinbares metallenes Klicken ertönte. Gefolgt von einem kurzen Seufzer. Dann ein Knall den man nicht nur durch Telefon hören konnte, als die zweite Dienstwaffe ihres Mannes das 38er Kalieber abfeuerte. Es gab ein dumpfes Rumpeln, als Mrs Millers toter Körper auf dem Teppichboden aufschlug.
Die Uhr zeigte halb sechs. Der Duft von angebrannten Klößen lag in der Straße. Ein blauer Chevy fuhr die Einfahrt nach oben und hielt an. Die Tür öffnete sich.
Bill lächelte. »Was würdest du nur ohne deine Frau tun?...«